Einleitung
Im Oktober 2017 stand Katalonien im Brennpunkt der medialen Berichterstattung. Hintergrund war der durch die Generalitat, die katalanische Regionalregierung, unternommene Sezessionsversuch. Vor allem die Kompromisslosigkeit rief Befremden hervor, die von beiden Seiten an den Tag gelegt wurde: Während die Befürworter einer katalanischen Unabhängigkeit Urteile des spanischen Verfassungsgerichts schlichtweg missachteten und ihr Vorhaben staatsstreichartig vorantrieben, scheute die Zentralregierung nicht davor zurück, die volle Härte des Gesetzes anzuwenden, bis hin zur Übernahme der Regierungsgewalt in Katalonien und der Anordnung eines massiven gewaltbegleiteten Polizeieinsatzes zur Verhinderung eines Unabhängigkeitsreferendums. Damals entstanden Bilder, die in fataler Weise an die Repression in der Spätphase der Franco-Diktatur erinnerten. Hierzulande war aber nicht zuletzt die Überraschung darüber groß, dass es überhaupt zu einer solchen Eskalation gekommen war und in Katalonien ein dermaßen machtvoller Drang nach Unabhängigkeit bestand. Gleichwohl waren auch im deutschen Sprachraum frühzeitig entsprechende Zeichen sichtbar gewesen, deren tiefer gehende Bedeutung allerdings kaum reflektiert worden war. Als etwa im Jahr 2007 die Katalanische Kultur der Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war, stieß es auf Verwunderung und Unverständnis, dass katalanische Erfolgsautoren wie Eduardo Mendoza oder Carlos Ruiz Zafón nicht zu den offiziell entsandten Gästen zählten – sie schrieben ihre Bücher auf Spanisch und nicht auf Katalanisch. Die Hintergründe dazu blieben unbeleuchtet.
Bei der Analyse der Ursprünge des Sezessionsversuchs vom Herbst 2017 wird vor allem auf das Jahr 2006 verwiesen, als ein überarbeitetes Autonomiestatut für Katalonien verabschiedet wurde, sowie auf das Jahr 2010, als das spanische Verfassungsgericht einige darin enthaltenen Artikel als verfassungswidrig verwarf. Die damals sowohl seitens der spanischen als auch der katalanischen Bevölkerung besonders emotional debattierte Frage bezog sich auf die in der Präambel des Statuts enthaltene, rechtlich unverbindliche Bezeichnung Kataloniens als Nation. In der Folge des Verfassungsgerichtsurteils kam es zu Massendemonstrationen, vor allem anlässlich des katalanischen Nationalfeiertags am 11. September, bei denen mitunter weit über eine Million Menschen in den Straßen Barcelonas zusammenströmten, um für das Recht auf Selbstbestimmung einzutreten. Parallel hierzu verschärfte sich sukzessive der Tonfall zwischen der Zentralregierung und der Generalitat bis hin zu den dramatischen Ereignissen von 2017, die in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober und der darauffolgenden Absetzung der katalanischen Regierung sowie der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die Madrider Exekutive gipfelten. Die Öffentlichkeit jenseits der Pyrenäen betrachtete die dramatische Entwicklung sprach- und teilweise fassungslos. Es wirkte völlig widersinnig, dass in einem hochindustrialisierten, wohlhabenden und auf demokratischen Grundsätzen basierenden Land ein derartiger Konflikt in einer Schärfe ausgetragen wurde, die die begründete Sorge vor einem militärischem Eingreifen aufkommen ließ.
Tatsächlich reichen die Wurzeln des Konflikts weit in die Geschichte zurück. Sie liegen im Entstehungsprozess moderner Nationalstaaten im Verlauf des 19. Jahrhunderts: Parallel zum sich herausbildenden spanischen Zentral- und Verwaltungsstaat verstärkte sich in Katalonien eine Rückbesinnung auf eigene kulturelle und historische Traditionen. So lebte nicht nur der Gebrauch der katalanischen Sprache wieder auf, sondern auch die Erinnerung an die eigenständige politische Verfasstheit als Prinzipat innerhalb der einst aus verschiedenen Reichen zusammengesetzten, frühneuzeitlichen hispanischen Monarchie und an die Epoche, als Barcelona die Hauptstadt eines das westliche Mittelmeer beherrschenden Seereichs war. Aus dieser zunächst romantisierenden und verklärenden Rückbesinnung entwickelte sich im letzten Drittel des Jahrhunderts wiederum ein nach und nach wachsendes nationales politisches Bewusstsein in Abgrenzung zum spanischen Nationalstaat, das wiederum auf zunehmende Gegenwehr aus Madrid stieß, die sich gegen eine als unerträglich verstandene Zersplitterung der unauflösbaren Einheit der spanischen Nation wandte. Die entstehende katalanische Nationalbewegung ist dabei durchaus vergleichbar mit der von anderen «verspäteten» Nationen. So hieß bereits 1855 in El Parlamento: «Politisch gesehen verhält es sich mit Katalonien und Spanien wie mit Irland und England. [...] Aber wenn schon das arme Irland für das reiche Großbritannien ein Problem darstellt, ist gerade ein wohlhabendes aber Unruhe stiftendes Katalonien nicht minder schädlich für das politische Gemeinwesen, dem es angehört». Das hier angesprochene Selbstbewusstsein des katalanischen Bürgertums (in der Frühphase der Industrialisierung waren etwa achtzig Prozent der spanischen Produktion in Katalonien angesiedelt) kommt nicht zuletzt auch in der Architektur, der als Modernisme bezeichneten Spielart des Jugendstils mit Antoni Gaudí als herausragenden Vertreter, zum Ausdruck.
Der gesellschaftlich getragene Drang nach Erreichung größerer politischer Spielräume zeitigte sukzessive Erfolge, wie die Einrichtung der Mancomunidad im Jahr 1914 als Bündelung von Kompetenzen auf kommunaler Ebene oder vor allem das Inkrafttreten eines Autonomiestatuts im Jahr 1932 im Spanien der Zweiten Republik und dann noch einmal im Jahr 1979 mit der Demokratisierung des Landes nach dem Ableben des Diktators Franco. Dieses Streben nach Anerkennung der eigenen Singularität verlief jedoch mühselig und war durch teilweise gewaltbegleitete Konflikte geprägt. 1874, 1917, 1924, 1934, 1939 sind Jahreszahlen, die Rückschläge und tiefe Einschnitte bedeuteten und zusammen mit den Ereignissen von 1640 und 1714 zur Entstehung eines bis in die Gegenwart hinein wirkenden Opfermythos führten. Die Jahrzehnte der Unterdrückung jeglicher als politische Äußerung verstandenen katalanischen Identität während der Franco-Diktatur (1936–1975) gruben sich wiederum tief in das kollektive Gedächtnis ein. Hieraus speisen sich noch heute das Verständnis im Verhältnis zwischen Madrid und Barcelona und vor allem die Grundhaltung, durch einen Unterdrückerstaat beherrscht zu werden. In diesem Narrativ steht auch der Herbst 2017 als bisheriger Höhepunkt in dieser Auseinandersetzung. Aus einer katalanischen Perspektive lesen sich die Beziehungen zum spanischen Zentralstaat als Abfolge von Niederlagen im Ringen um die Verwirklichung einer von die Bevölkerung ersehnten Unabhängigkeit.
So ist erklärlich und doch bezeichnend, dass sich aus dem permanenten Gegenwind, dem die Durchsetzung eines größeren politischen Spielraumes entgegenschlug, gerade solche Ereignisse in der katalanischen Geschichte zum zentralen Bezugspunkt im eigenen nationalen Selbstverständnis avancierten, in denen die Auseinandersetzung mit einer als Joch wahrgenommenen Zentralmacht zum Ausdruck kommen. Dazu gehört der Aufstand am Fronleichnamstag des Jahres 1640, in dessen Folge sich die katalanischen Stände von der spanischen Krone lossagten. Dieser Aufstand bildet das Sujet der heutigen katalanischen Nationalhymne, deren Text in einer drastischen Wortwahl eine kommende Erhebung gegen die als selbstherrlich beschriebene Zentralmacht beschwört. Der katalanische Nationalfeiertag erinnert wiederum an die Kapitulation Barcelonas als Schlussakkord im Spanischen Erbfolgekrieg im Jahr 1714, in dessen Folge das Prinzipat die eigene politische Verfasstheit verlor und im absolutistischen Spanien der Bourbonen aufging. Während also die spanische Nation mit dem 12. Oktober einen Nationalfeiertag begeht, der an die Entdeckung Amerikas im Jahr 1492 erinnert und der Spaniens Aufbruch in ein positiv besetztes imperiales Zeitalter markierte, wird in Katalonien bezeichnenderweise am 11. September ein Tag der Niederlage und des Verlustes als nationaler Referenzpunkt zelebriert.
In der Geschichtswissenschaft werden moderne Nationalstaaten als Konstrukte verstanden, wobei ein vages Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft durch ein Elitenhandeln gelenkt wird. Hierzu gehören die Einführung von Symbolen, wie etwa Fahnen und Hymnen, und nicht zuletzt historische Bezüge. Im katalanischen Fall spielt hierbei eine zentrale Rolle, sich als Schicksalsgemeinschaft zu verstehen, die einem übermächtigen kastilischen Staat gegenübersteht, der die Verwirklichung der nationalen Aspirationen verhindert. Damit rückt der angesprochene Opferdiskurs in den Mittelpunkt, der in einer überwältigenden Mächtigkeit im katalanischen Kultur- und Erinnerungszentrum «El Born» zum Ausdruck kommt, das auf den freigelegten Fundamenten des nach 1714 zum Bau einer Festungsanlage zur militärischen Kontrolle Barcelonas abgerissenen Stadtviertels errichtet wurde.
Die vorliegende Überblicksdarstellung versteht sich somit nicht allein als Abriss der eindrucksvollen und bewegten Vergangenheit Kataloniens, sondern will zum Verständnis des Spannungsverhältnisses zwischen dem Madrider Zentralstaat und der katalanischen Regierung beitragen: Ohne Kenntnisse der historischen Zusammenhänge im wechselvollen Umgang zwischen...