I.
«Die ganze Welt wird anders»: Vergangenheit und Zukunft am Ende des Krieges
War es wirklich die Grippe? Jedenfalls hatte Franz Kafka Fieber, sehr hohes Fieber sogar. Während draußen in den Straßen Prags die Unruhe spürbar zunahm, diagnostizierte der am 14. Oktober 1918 von der Familie in das Haus am Altstädter Ring herbeigerufene Arzt bereits am Mittag eine Körpertemperatur von über 40 Grad. Für den Schriftsteller, bei dem 1917 eine Lungentuberkulose diagnostiziert worden war, bedeutete das unmittelbare Lebensgefahr.[1] An seinen Freund Max Brod schrieb der Kranke noch bedauernd, die gemeinsamen Hebräischstunden müsse man vorerst absagen. Es sollte die letzte Nachricht für über vier Wochen sein.[2] Als Kafka das Gröbste überstanden hatte, war eine Welt untergegangen. Aus dem k.u.k.-Untertan war der Bürger eines neuen tschechoslowakischen Staates geworden, dessen Proklamation eine jubelnde Menschenmenge am 28. Oktober 1918 auf dem Prager Wenzelsplatz gefeiert hatte.
Überall konnte man die Zeichen der um sich greifenden Infektion beobachten: Innerhalb weniger Tage, ja oft nur weniger Stunden verbreitete sie sich. Erschreckend war für die Zeitgenossen das Plötzliche der Erkrankung, der Umschlag von der scheinbaren Gesundheit zur unmittelbaren Todesnähe. Was bei zuvor beschwerdefreien und kräftigen Menschen mit starken Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und Schüttelfrost begann, steigerte sich in kürzester Zeit zu extremem Fieber. Wie viele andere Menschen empfand auch die 18-jährige Agnes Zenker aus Sachsen Anfang November 1918 eine große Friedenssehnsucht, obwohl sie ihr «so grässlich unpatriotisch» vorkam. Aber alles war plötzlich überlagert von der Krankheit, die sich am Ende des Krieges wie ein unheimlicher Totentanz auszubreiten schien. Als großer Gleichmacher schien die Grippe alle Unterschiede zwischen Front und Heimat einzuebnen, sodass Agnes Zenker das Gefühl einer schmerzvollen Gerechtigkeit überkam: «Es ist ja alles schändlich, und es müssen immer mehr junge Menschen sterben. Außerdem geht die Grippe (Influenza) zum zweiten Mal um. Auf der ganzen Welt tritt sie auf und viel schlimmer als das erste Mal. Die meisten Menschen bekommen Lungenentzündung dazu und sterben dran. Jeden Tag stehen viele in der Zeitung, die daran gestorben sind […] Es kommt mir vor, als sollte ein Ausgleich stattfinden. Weil so viele junge Männer sterben, müssen halt auch junge Mädels weg. Warum nicht!»[3]
Die Pandemie hatte zunächst Afrika, Asien, die Vereinigten Staaten und Lateinamerika heimgesucht, bevor sie schließlich nach Europa kam. Ihr Verlauf ging weit über das hinaus, was man bislang in den Kriegsgesellschaften an Entbehrungen gekannt hatte. Die jetzt stark ansteigende Zahl der Opfer offenbarte, wie erschöpft die Menschen waren. Wer es sich leisten konnte, den eigenen Körper lange genug zu schonen, hatte eine realistische Chance, dem Tod zu entgehen, doch für viele Menschen in den Großstädten war das angesichts des täglichen Kampfes um Lebensmittel illusorisch.[4] Die klassische Medizin verfügte gegen diese Pandemie, die man die Spanische Grippe nannte, weil spanische Zeitungen zuerst über sie berichtet hatten, über keine wirksamen Mittel, zumal nicht gegen die mit ihr häufig einhergehende Lungenentzündung. Ihr Haupterreger, das H1N1-Virus, sollte erst in den 1990er Jahren nachgewiesen werden.
Zu einem welthistorischen Ereignis wurde die Spanische Grippe erst im Rückblick. Der globale Zusammenhang und das ganze Ausmaß der Krankheit wurden von den Zeitgenossen 1918 kaum wahrgenommen. Viel zu sehr beunruhigten sie andere Nachrichten von den militärischen Fronten und den politischen Umbrüchen in den Heimatgesellschaften. Insgesamt forderte die Pandemie etwa 20 Millionen Tote, mehr als die militärischen und zivilen Opfer des gesamten Krieges. Doch für die demographische Globalkatastrophe bei Kriegsende gab es kaum ein Bewusstsein, und schon gar keine angemessene Reaktion der staatlichen Behörden. Der österreichische Minister für Volksgesundheit glaubte, die Öffentlichkeit allein mit der Ankündigung von drei Tonnen Aspirin beruhigen zu können.[5]
Die Spanische Grippe war die Katastrophe im Schatten der vielen Umbrüche, obwohl sie lange vor den Waffenstillständen 1918 und Friedenskonferenzen 1919 einen unsichtbaren weltweiten Zusammenhang geschaffen hatte.[6] Sie überlagerte sich mit den vielen gleichzeitigen Ereignissen, welche die Menschen in ihren Bann schlugen: mit dem Kriegsende, mit Revolutionen und Bürgerkriegen in vielen Teilen Europas, mit dem Zerfall alter und der Bildung neuer Staaten, mit einer Zukunft, die in ihrer Offenheit zugleich verheißungsvoll und bedrohlich schien. Die meisten Menschen konzentrierten sich darauf, sicher durch diese Wochen zu kommen, die Ernährung der eigenen Familie zu organisieren oder an verlässliche Informationen über den Verbleib eines Angehörigen an der Front oder in Kriegsgefangenschaft zu gelangen. Für sie waren die vielen Krankheitsfälle nur ein weiteres Menetekel eines katastrophischen Kriegsjahres.
Dabei beschleunigte sich die Ausbreitung der Pandemie genau im Augenblick des krisenhaften Übergangs in eine unabsehbare Zukunft. In Afrika dezimierte sie Gesellschaften, die seit Jahren nur noch aus geschwächten Frauen, chronisch unterernährten Kindern und Alten bestanden, weil die männlichen Ernährer als Kolonialsoldaten, Hilfstruppen oder Träger von Kriegsmaterial eingesetzt waren. Hier starben jetzt bis zu fünfmal mehr Menschen als während des Krieges. In Europa traf die Grippe auf Behörden, die mit dem absehbaren Kriegsende, der Demobilisierung von Millionen von Soldaten, mit Gewalt, prekärer Lebensmittelversorgung und Staatszerfall überfordert waren. Das verstärkte das Gefühl der Unsicherheit und des Chaos.[7] Gleichzeitig bestimmte die Krankheit indirekt politische Entwicklungen mit, indem sie in einem dramatischen Augenblick höchster Spannung wichtige Akteure über Wochen ausschaltete. Im Herbst und Winter 1918 war die Grippe das retardierende Element – und wirkte gerade dadurch politisch. Als die Zionisten in den europäischen Staaten angesichts des Zerfalls des Osmanischen Reiches eine Antwort auf die Frage finden mussten, wie man in Palästina einen eigenen Staat der Juden gründen konnte, wurde der Führer der Bewegung, Martin Buber, über Wochen von einer Lungenentzündung heimgesucht und musste sich danach auf Rat seiner Ärzte lange Zeit aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Gustav Landauer, Bubers langjähriger Freund und ein pazifistischer Sozialist, hatte das Ende des Wilhelminischen Reiches lange herbeigesehnt, aber in den entscheidenden Wochen des Umsturzes in München war er durch die Grippe gelähmt. Die Krankheit machte am Ende des Krieges wenig Unterschiede. Ihr fiel Ende Oktober 1918 der Maler Egon Schiele genauso zum Opfer wie der französische Schriftsteller Guillaume Apollinaire in Paris nur zwei Tage vor dem Waffenstillstand im November 1918 und der britische Diplomat Mark Sykes, einer der Architekten der Neuordnung im Nahen und Mittleren Osten, während der Pariser Friedensverhandlungen Mitte Februar 1919. Die Auswirkungen der Grippe hielten an, denn viele geschwächte Menschen hatten der nächsten Infektion nichts mehr entgegenzusetzen: weder Sophie Freud, die kleine Tochter des Wiener Psychiaters Sigmund Freud am 25. Januar 1920, noch der deutsche Soziologe Max Weber am 14. Juni 1920 in München. So erinnerte die Grippe an eine Grunderfahrung der Soldaten im Krieg: die permanente Todesnähe und die Zufälligkeit des Sterbens.[8]
Die Überlebenden waren über Tage und Wochen der Krankheit oder der mühsamen Genesung zum Zusehen verurteilt – und was sie beobachteten, war atemberaubend. Während Franz Kafka mit dem Tod rang und sich bei dem Tuberkulosekranken eine gefährliche Lungenentzündung einstellte, beschleunigte sich vor dem Haus der Familie am Altstädter Ring in Prag der Rhythmus der Weltgeschichte. Für den 14. Oktober hatten die im Nationalausschuss zusammengeschlossenen tschechischen Parteien in ganz Böhmen zu Massenkundgebungen aufgerufen. In Prag, so lauteten Gerüchte, wolle man einen unabhängigen tschechischen Staat ausrufen. Während Polizei und Militär den Altstädter Ring in einer letzten Machtdemonstration der Habsburgermonarchie absperrten, sprach das «Prager Tagblatt» bereits von der «Liquidation des alten Staates», die «in aller Ruhe vor sich gehen» sollte.[9] Zwei Wochen später war es soweit. Am 28. Oktober konnten Menschen in großen Aushängen das Wort «Přímĕří» lesen – Waffenstillstand. Ob es sich dabei noch um ein Gerücht oder bereits ein konkretes Angebot an die...