DER VERWEGENE HANG ZU ÜBERRASCHENDER VERWANDLUNG
Kann man das Porträt einer Primadonna zeichnen, indem man nicht flüchtig hingeworfene Skizzen verwendet, die ein vergängliches Äußeres festhalten, sondern indem man versucht, ihr in die Seele zu schauen, als ob man das Geheimnis ihrer Persönlichkeit, ihres Schicksals und ihres Schaffens ergründen wollte?
Ein solches Abenteuer ist reizvoll, und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass jede Beschäftigung mit der Persönlichkeit der Obraszowa unmerklich auf den schwankenden Pfad der Mystik führt. Denn in welcher Erscheinung die Obraszowa auch vor uns tritt, wir werden sofort zwei Gegensätze wahrnehmen, zwischen denen sich ihre Persönlichkeit bewegt. Da ist einmal ihr pulsierendes Temperament, ihr mit ‚brennender‘ Energetik aufgeladenes menschliches und künstlerisches Wesen – und zum anderen eine seltsame, besitzergreifende Magie, eine tief verborgene ‚Numinosität‘, die sich schwer in Worte kleiden lässt.
Ich erinnere mich, zum Beispiel, an einen Konzertabend im sogenannten Säulensaal in Moskau, als sie, begleitet von Wascha Tschatschawa, ihrem Gefährten im Geiste, Romanzen von Dargomyschski sang. Das war ein eleganter, leichter, beseelter Flirt mit den ihrer Phantasie vorschwebenden Kavalieren oder auch nur mit der Atmosphäre des Saales, in dem einst Tolstois Natascha Rostowa ihren ersten Walzer tanzte. Die Obraszowa hatte sich damit in eine geschickte, umsichtige Zauberin verwandelt. Diese sanfte, ein wenig spottlustige Zauberin genoss nicht nur das Musizieren auf dem farbenreichen Klangteppich, den Tschatschawa am Klavier ausbreitete, sie ließ vor uns auch mit zauberischer Hypnose ein lebendiges Bild eines Salons im 19. Jahrhundert entstehen, in dem die atemberaubende und uns nur kurz beehrende Diva herrscht, die gnädig die Verehrung ihres Publikums entgegennimmt. Ihr Kleid raschelte seidig, ihre Stimme lockte bezaubernd, und die verführerische Kraft der Armida, der Herrin der schönen Gärten, hielt das Publikum mit unsichtbaren Fesseln gefangen.
Ebenso in Erinnerung geblieben ist mir, wie sie als Amneris in der Aida-Inszenierung des Bolschoi Theaters zum ersten Mal auf der Bühne erscheint. Das Bühnenbild war während des ersten Aktes sehr sparsam. Aus der Tiefe der Kulissen strebt zügigen Schrittes jene junge Frau heran. Gebieterisch fliegt ihr rechter Arm voraus – und schon ist der große, goldstrotzende Theatersaal nur noch ein Rahmen für die Primadonna, der Ort einer unerklärlichen, heiligen Handlung. Zum wiederholten Mal verblüffte die Fähigkeit der Obraszowa, sich den Raum anzueignen, die künstlerische Umgebung vergessen zu lassen. Nicht jede Königin wird ihrem rituellen Platz gerecht – dafür fühlt sich jede Diva, der die Kraft der Magie nicht fremd ist, ungebunden und frei im Visier tausender Augen, sie akkumuliert quasi die Energie des Publikums in der Tiefe ihrer Seele und verändert mit ihrer Hilfe die wahrnehmbare Welt.
Wo die Grenzen dieser wahrnehmbaren Welt in diesem Moment liegen, ist nicht so wichtig. Wenn es für die Obraszowa keine große Mühe war, den Raum des Bolschoi Theaters (das übrigens für sie wie ein Zuhause war) im Sturm zu erobern, welche Herausforderung stellte dann der Kleine Saal des Konservatoriums an sie? Hier trat der gegenteilige Effekt ein: Wenn sie das Bolschoi Theater vor uns bis ins Weltall öffnen konnte, so ließ sie den Saal im Konservatorium auf eine kleine, enge Bar zusammenschrumpfen. Wascha Tschatschawa ließ am Klavier varietéhafte Klänge hören, und sie flüsterte uns ins Ohr, knurrte wie ein Raubtier und sang die Songs von Kurt Weill so verführerisch, dass uns manchmal die Röte ins Gesicht stieg. Diese besondere Intimität und grenzenlose Offenheit schienen uns fast unanständig und unzulässig erregend. Die Obraszowa nahm uns die Fähigkeit, uns von der Welt abzugrenzen. Ihre verrückte Hexerei war für uns wie ein böser Scherz. Wir begannen die Gefährlichkeit dieser „Spiele in einer Sommernacht“ zu begreifen – aber erst, nachdem draußen der böse Zauber von uns gewichen war.
Diese Unbekümmertheit und diese Lust, die normalen Grenzen zu überschreiten, hatten etwas Mythisches. Plötzlich vereinigte sich die geläuterte Jelena Obraszowa mit der legendären, aber uns wohlbekannten historischen Heldin: der schottischen Königin Maria Stuart, mit ihrem alles erobernden, hypnotisierenden Charme, mit ihrer überraschend liebenswürdigen Ausstrahlung und ihrer Bereitschaft für dramatische Schicksalswenden. Ich sage „uns wohl bekannt“. In Schillers Tragödie (und in Donizettis Oper) ist es eine romantische Heldin, die fähig ist, einen leidenschaftlichen Jüngling um den Verstand zu bringen, den berechnenden Intriganten in die Schranken zu weisen und dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, weil das Gefühl für die eigene Würde nichts Anderes zulässt. Bei Stefan Zweig sind es die ungeschminkte, zügellose Kühnheit und der abenteuerliche Leichtsinn der Königin, die mit allen Feinheiten und Launen des französischen Königshofs, an dem sie aufgewachsen ist, eng vertraut ist. Das Stück von Wolfgang Hildesheimer Mary zeigt eine Königin, die aus dunkler Mutlosigkeit kurz vor ihrer Hinrichtung wie ein Phönix aus der Asche steigt und alle ringsherum mit ihrer großen Persönlichkeit überstrahlt.
Wann wurde die Obraszowa jene mythische Persönlichkeit, die den Charakter großer historischer Figuren zu erspüren schien? Ich erinnere mich an meinen ersten Eindruck von der jungen Obraszowa in der Rolle der Ljubascha in der Oper Die Zarenbraut von Rimski-Korsakow. Er war eher enttäuschend: eine mächtige Stimme, Konzentration auf den Klang, steif nach vorn ausgestreckte Hände, ein starrer Körper. Wie konnte daraus diese quicklebendige, lachende, graziöse Carmen im ersten Akt werden, deren Kostüm – kurz, einfach, erbsengrün – auf einer Ausstellung der Kostümbildner des Bolschoi Theaters als Provokation zwischen all dem Samt und den Spitzen erschien? Wie konnte eine schwermütig klagende Marfa aus Chowanschtschina geboren werden, deren Zaubereien, Beschwörungen und Gebete sie selbst und das Publikum in Trance versetzten? Wo kam jene Azucena in der Aufzeichnung mit Karajan (1977) her, die das Bewusstsein ihrer Umgebung nicht nur mit ihrer elektrisierenden Stimme, sondern auch mit dem Mittel der höchsten künstlerischen Freiheit manipulierte? Wo liegen die Wurzeln der ausgelassenen, großzügig-zerstörerischen, durch die Musik in Rage versetzten Prinzessin Eboli aus Don Carlo in der Aufführung der Scala, unter der Leitung von Claudio Abbado, (1977) – jener Eboli, die sich noch heute in der Videoaufnahme wie ein Wirbelsturm auf uns stürzt und uns in einen Feuertrichter hineinreißt?
Jelena Obraszowa als Carmen. Metropolitan Opera (1970er-Jahre)
In der Künstlerin Obraszowa reifte und verfeinerte sich mit der Zeit jener Aristokratismus, der heute als ihr wichtigstes künstlerisches Markenzeichen gilt. Ihre Hinwendung zum Französischen und zu französischen Rollen bestimmten wesentlich ihre Entwicklung (wie der französische Hof im Fall der Maria Stuart). Das innere „Ich“ der Obraszowa findet sich zwischen zwei Polen. In ihrer Dalila (Aufzeichnung mit Daniel Barenboim, 1979) bringt sie das Fatale durch outrierte ‚Eigentümlichkeit‘, fast Brutalität zum Ausdruck. Die tiefen Töne weisen beinah zu direkt auf den moralischen Abgrund hin, Paris zeigt sich uns als Stadt niedriger Lüste. In ihrer Charlotte (Werther, Aufzeichnung mit Georges Prêtre, 1976) offenbart sich die „Macht des Schicksals“ durch feinste lyrische Nuancen, zarte Salonmanieren, aristokratische Capricen – die Heldin ist keine strenge Lotte wie bei Goethe, sondern eine launenhafte Pariserin – die Blutsschwester der legendären Marie Duplessis, der „Kameliendame“.
Man ist geneigt, die weitgefächerte internationale Karriere der Obraszowa als Folge ihres liebenswürdigen, selbstlosen, spontanen, fast unbesonnenen Charakters, und ihrer Abhängigkeit von sich wichtigmachenden und berechnenden Leuten zu sehen. Ich habe nicht vor, mich mit dem Privatleben der Sängerin zu befassen, für mich ist nur wichtig, dass die Ausstrahlung der Obraszowa für das sie verehrende Publikum ein wenig der Aura der legendären schottischen Königin ähnelte.
Im oberen Register war die Stimme der Obraszowa engelhaft rein, jungmädchenhaft frisch, voller Aufrichtigkeit und Lyrik. Im mittleren Register ging es um irdische Dramen, gefährliche Strömungen, seelischen Kummer und geistiges Umherirren. Das niedrige Register war zuständig für das Geheimnis, die Dunkelheit, die Magie, aber auch für manch helles lyrisches Licht – nachdem die Seele in einen tiefen Brunnen getaucht ist. In ihren besten Jahren konnte die Obraszowa alle drei Register zu einem untrennbaren Ganzen vereinen, und man hörte jedes Register in den anderen beiden mit. Aber es gab auch Partien in ihrem Repertoire, in denen sie nur die Hälfte (wenn nicht nur ein Drittel) ihrer Stimme einsetzte – zum Beispiel in der Rolle der Adalgisa in Bellinis Norma oder der Kontschakowna in Fürst Igor von Borodin. Das war keine Frage des adäquaten Castings, aber den Zuhörern entging der Genuss, diese große Stimme mit all ihrem Zauber zu erleben.
Betrachtet man das Phänomen Obraszowa, wird deutlich, dass sie zu einer ganz bestimmten Schicht der russischen Kulturschaffenden gehörte. Sie wurde in Leningrad geboren und war mit all ihren Charakterzügen ein Kind des ‚Petersburger Mythos‘, denn die nördliche Hauptstadt war der Nährboden auf dem sich ihr Talent entfalten konnte. In Petersburg hat die verblüffende ‚Europäischheit‘ der Obraszowa ihre Wurzeln. Genauso wie ihre Fähigkeit,...