2Kinder und Jugendliche, die sich dissozial verhalten – eine schwierige Klientel
Kinder und Jugendliche, die sich dissozial verhalten, stellen ihre Mitmenschen mit ihrem Tun vor beträchtliche Probleme. Das erschwert schon den alltäglichen Umgang mit ihnen, der daher nach Möglichkeit gemieden wird. Sofern dies nicht gänzlich möglich ist, empfiehlt es sich jedenfalls, Vorsicht walten zu lassen. Das Thema Dissozialität lässt denn auch kaum jemanden kalt. Geht es um Dissozialität bei Minderjährigen, kommt es noch zu einer weiteren Emotionalisierung, als ob man gerade von jungen Menschen ein solches, die normativen Erwartungen enttäuschendes Verhalten nicht erwarten würde. Werden wir mit deren abweichendem, delinquentem oder kriminellem Verhalten konfrontiert, empören wir uns. Offensichtlich erleichtert es diese affektive Aufladung, an den eigenen normativen Erwartungen auch in einem solchen Enttäuschungsfall festhalten zu können. Man darf sich dann versichern, ein sozial angemessenes Verhalten erwartet zu haben, und wird seine Erwartungen nicht zur Disposition stellen müssen. Schließlich hat sich doch der andere falsch verhalten.
Affekte bewirken einen Handlungsdruck. Maßnahmen werden vorgeschlagen, Sanktionen gefordert. Die Emotionalisierung lässt den Grad der »gefühlten« Bedrohung ansteigen mit der Folge, dass die Häufigkeit von Dissozialität und Delinquenz überschätzt wird. Den sachlichen, um Objektivität bemühten Angaben etwa von sozialwissenschaftlicher Seite wird dann mit Misstrauen begegnet. Mit seinen Ängsten und Sorgen fühlt man sich nicht ernst genommen. Vor allem sogenannte Intensivtäter fesseln die Aufmerksamkeit, erst recht wenn sie das Alter der Strafmündigkeit von 14 Jahren noch nicht erreicht haben. Die skandalisierende Berichterstattung lässt denn auch die Auflagen der einschlägigen Massenmedien vorhersehbar in die Höhe schnellen.
Nicht nur »Normalbürger«, sondern auch professionelle Helfer, seien es Erzieher, Lehrer, Sonderpädagogen, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten und/oder Kinderpsychiater, haben mit dissozialen Kindern und Jugendlichen ihre liebe Not, werden doch die Erfolgsaussichten ihrer erzieherischen und therapeutischen Bemühungen in der wissenschaftlichen Literatur zumeist als bescheiden eingeschätzt. Verhalten sich die Kinder und Jugendlichen im Erwachsenenalter immer noch dissozial, soll ihnen denn kaum noch zu helfen sein. Da Erwachsene, bei denen wegen ihres gewohnheitsmäßigen dissozialen Verhaltens die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung gestellt wird, meist bereits im Kindesalter auffällig waren, stellt sich die Frage, ob und durch welche Hilfemaßnahmen sich ein solch prekärer Verlauf verhindern ließe. Dass eine frühzeitige Prävention im frühen Kindesalter wünschenswert wäre, bedarf dabei keiner weiteren Ausführungen.
2.1Terminologie
Schon begrifflich bereitet dissoziales Verhalten bzw. Handeln von Kindern und Jugendlichen einige Probleme. Unter Dissozialität wird im Allgemeinen eine lang anhaltende bis stabile und sich auf weite Verhaltensbereiche erstreckende Neigung verstanden, fundamentale Rechte anderer Menschen zu verletzen und somit von den in der Gesellschaft bestehenden normativen Verhaltenserwartungen in negativer Weise abzuweichen. Als dissozial wird mithin eine Person nur dann bezeichnet, wenn sie nicht nur einmalig oder gelegentlich in ihrem Handeln gegen die gesellschaftlichen Normen verstößt, sondern wenn sie dies häufig oder gar gewohnheitsmäßig tut, sodass auf das Bestehen einer Neigung oder Verhaltenstendenz bzw. auf ein Persönlichkeitsmerkmal geschlossen werden kann. Daher erscheint es auch nicht angebracht, Kinder und Jugendliche als dissozial zu bezeichnen, da in einem jungen Alter noch nicht von einem stabilen Persönlichkeitsmerkmal bei abgeschlossener Persönlichkeitsentwicklung gesprochen werden kann. Im Folgenden soll es daher um Kinder und Jugendliche gehen, die sich dissozial verhalten und bei denen ein beträchtliches Risiko besteht, dass sie sich zu dissozialen Erwachsenen entwickeln. Zudem erhalten Personen auch nur dann das Etikett »dissozial«, wenn sie umfassend gegen die Normen verstoßen, d. h., wenn ihr abweichendes Handeln nicht nur auf einen eng umschriebenen Bereich begrenzt ist. Daher rechtfertigt etwa das kriminelle Handeln von Bankern oder Automobilherstellern alleine nicht das Persönlichkeitsmerkmal der Dissozialität.
Dissoziales Handeln verletzt und enttäuscht normative Erwartungen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass an ihnen auch im Enttäuschungsfalle festgehalten wird. Im Unterschied dazu zeigt man sich bei kognitiven Erwartungen im Enttäuschungsfalle durchaus lernwillig und ist bereit, diese zu ändern. Typischerweise betrifft dissoziales Handeln Erwartungen, an deren Normativität nicht zu zweifeln ist und deren Berechtigung daher weder der dissozial Handelnde noch ein außenstehender Beobachter infrage stellt. In der Tat weiß »schon jedes kleine Kind«, dass es beispielsweise das Eigentum eines anderen Kindes nicht »einfach so« wegnehmen darf, dass es die körperliche Unversehrtheit der Spielkameraden zu achten hat oder dass Tiere nicht zu quälen sind. Wie in Kapitel 5 noch ausgeführt wird, ist der Sinn, ist die Funktionalität von Dissozialität gerade an das Wissen um die Nichtnormativität dieses Handelns gebunden.
Der Begriff Dissozialität bezieht sich also auf eine Verhaltenstendenz oder auf ein Persönlichkeitsmerkmal. Insofern unterscheidet er sich von den Begriffen Auffälligkeit und Abweichung wie auch von den beiden juristischen Begriffen Delinquenz und Kriminalität, mit denen jeweils ein Verhaltensmerkmal bezeichnet wird (Specht 1985, S. 276 ff.). Dort werden Verhaltensweisen als auffällig bezeichnet,
»wenn sie den Erwartungen maßgeblicher Beziehungspartner oder Bezugsgruppen derart zuwiderlaufen, dass diese sich aufgrund ihrer subjektiven Einschätzung beunruhigt fühlen und entsprechend reagieren«.
Als abweichend oder deviant werden solche Verhaltensweisen benannt,
»die nach Meinung der Mehrheit innerhalb einer Gesellschaft oder innerhalb eines ihrer Subsysteme als unerwünscht missbilligt werden«.
Als delinquent gelten Handlungen,
»die als sozialschädlich beurteilt werden und deswegen ein Eingreifen notwendig erscheinen lassen«.
Schulschwänzen, das Komasaufen von Schülern oder das inzwischen ebenfalls populäre Bullying wären Beispiele für delinquentes Handeln. Handlungen, die zudem noch
»nach den Gesetzen mit Strafe bedroht sind«,
werden als kriminell bezeichnet. Haben dissoziale Kinder mit 14 Jahren das Alter der Strafmündigkeit erreicht, wird mit ihnen – und oft genug nur über sie – im Rechtssystem verhandelt, sofern sie mit ihrem dann kriminellen Handeln gegen gesetzliche Normen verstoßen haben.
Weitgehend synonym mit Dissozialität wurde früher der heute allerdings sozialpädagogisch nicht mehr korrekte, weil offenbar doch allzu diskriminierende Begriff der »Verwahrlosung« verwendet, der für ein »fortgesetztes und allgemeines Sozialversagen« (Hartmann 1970, S. 5) steht. Diese Sprachregelung mag man insofern bedauern, als dieser Begriff doch auf eine ätiologisch wichtige Einsicht verwies. Das Wort »Verwahren« leitet sich nämlich vom althochdeutschen »wara« ab, das »Acht« oder eben »Aufmerksamkeit« bedeutet. Daher bezeichnete das Verb »verwahrlosen« ursprünglich einen transitiven, aktiven Vorgang. Mithin verwahrlosen Eltern ihre Kinder dann, wenn sie diesen nicht die ihnen zustehende Sorge, Achtung und Aufmerksamkeit entgegenbringen. Ein solcher Sachverhalt liegt bei sich dissozial entwickelnden Kindern und Jugendlichen zumeist vor. Der Begriff »verwahrlost« findet sich zudem auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. So heißt es im § 6 Abs. 3 GG:
»Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.«
Diesen Bedeutungswandel kommentiert Hartmann (1973, S. 557) schon seinerzeit, es scheine,
»als ob das Bewußtsein für die Verantwortlichkeit der Erzieher im Laufe der Zeit aus dem Bedeutungsfeld der Verwahrlosung verdrängt worden«
sei.
In der Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaft wird für die dissozialen Verhaltensauffälligkeiten zumeist der Begriff »Verhaltensstörung« verwendet, der sich definieren lässt als
»ein von den zeit- und kulturspezifischen Erwartungsnormen abweichendes maladaptives Verhalten, das organogen und/oder milieureaktiv bedingt ist, wegen der Mehrdimensionalität, der Häufigkeit und des Schweregrades die Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie das Interaktionsgeschehen in der Umwelt...