1.2Narrative systemische Sandspieltherapie
Wiltrud Brächter
Narrative systemische Sandspieltherapie (Brächter 2010) schließt an die Gestaltung von Sandbildern an, wie sie in Kapitel 1.1 beschrieben ist. Als Therapeutin nähere ich mich Sandbildern dabei in einer Haltung, die der von Linde von Keyserlingk formulierten Idee einer eigenen, Denkmöglichkeiten erweiternden Sandspielsprache entspricht. In der narrativen Arbeit mit Sandbildern versuche ich einschränkende, problembehaftete innere Bilder in Bewegung zu bringen und Suchprozesse anzuregen.
Während Sandbilder im klassischen Sandspiel nach dem Aufbau stehen bleiben und gegebenenfalls noch im Gespräch reflektiert werden, rege ich dazu an, sie als Ausgangspunkt einer Geschichte zu begreifen und diese Geschichte im Sand weiterzuspielen.
Lea, acht Jahre alt, zeigt in ihrem ersten Sandbild, wie stark ihre Welt aus den Fugen geraten ist. In Schule und Familie neigt sie zu starken Wutausbrüchen oder zu verzweifeltem Weinen, bei dem sie den Verlust des vor Jahren fortgezogenen Vaters beklagt. Im Sand baut sie einen Berg, über den – entgegen den Regeln der Natur – ein Fluss führt. Auf dem Berg beginnt es zu brennen – ein Vulkan sei dort ausgebrochen. Rasch räumt Lea Flammen und Lava wieder fort, stellt eine Brücke auf den Berggipfel und gestaltet eine bedrohlich wirkende Szene: Ein Mann steht mit einer Pistole bewaffnet auf der Brücke. Er möchte, dass die Stadt, in der die Geschichte spielt, zu einer »bösen Stadt« wird. Mit der Pistole zielt er auf ein großes Ei, das er stehlen will. Er hat eine Meerjungfrau in eine Kiste gesperrt und will sie töten. Ein weiterer Mann steht auf der Brücke und filmt das Geschehen. Frauenfiguren liegen schlafend am Rand und können nicht zu Hilfe kommen. Als Lea ihr Sandbild beschreibt, ist ihre Aufregung deutlich spürbar.
Die hilflose Position der Meerjungfrau erinnert an Leas Erfahrung einer Frühgeburt mit nachfolgenden Bewegungseinschränkungen, in der sie während einer längeren Phase von ihren Eltern getrennt war. Auch das bedrohte, noch nicht geschlüpfte Wesen im Ei weckt Assoziationen an ein sehr frühes Lebensstadium. Sowohl das Ei als auch die Kiste der Meerjungfrau sind mit einem transparenten, grünen Stoff bedeckt, als gehörten sie noch einem Zwischenreich vor dem eigentlichen Eintritt ins Leben an. In den Jahren nach der Frühgeburt erlebte Lea eine konfliktreiche Trennung der Eltern, deren bedrohliche Aspekte atmosphärisch ebenfalls im Sandbild spürbar sind. Lea schaut wie gebannt auf die Szene, in der zunächst keine Hilfe in Sicht zu sein scheint (Abb. 1).
Abb. 1: Die »böse Stadt«
Abb. 2: Die Meerjungfrau wird befreit
Nachdem wir das Sandbild eine Weile gemeinsam betrachtet haben, frage ich Lea, wie die Geschichte weitergehen könnte. Sofort hat sie eine Idee. Entschlossen nimmt sie einen Dinosaurier aus dem Sandspielregal und beugt ihn über das Ei: Er ist der Vater des noch nicht geschlüpften, kleinen Dinosaurierkindes, das er beschützen will. Der Mann mit der Kamera ruft die Polizei herbei, ein Polizist wirft ein Netz über den gefährlichen Mann und nimmt ihn gefangen. Auch die Meerjungfrau wird gerettet: Auf ihrem Weg zur Arbeit hört eine Frau die Meerjungfrau in der Kiste schreien, holt sich ein Schwert und befreit sie (Abb. 2).
In dem ihr eigenen schnellen Tempo räumt Lea schließlich auch diese Szene zur Seite: Die Meerjungfrau verwandelt sich in ein Mädchen, das geborgen neben seinen Eltern steht.
Sandbilder, die zu Beginn einer Therapie gebaut werden, wirken oft wie in einer »Problemtrance« (Schmidt 2004) erstarrt. Aus einer Ego-State-Perspektive (Fritzsche 2013) bieten sie Zugang zu einem problemassoziierten Ich-Zustand, der das Erleben des Kindes dominiert und in dem dieses keine Möglichkeiten zur Veränderung erkennen kann; eine Verbindung zu ressourcenreicheren Teilen des Selbst ist blockiert.
Die narrative Arbeit mit Sandbildern versucht den Kontakt zu Ressourcen wiederherzustellen und Perspektiven zu erweitern. Aus dem Problemzustand heraus entsteht eine Suchbewegung zu einer Lösung hin. In der narrativen Sandspieltherapie rege ich dazu an, das Sandbild als Momentaufnahme in einer Geschichte zu verstehen und diese Geschichte im Sand weiterzuführen. Hierin liegt ein Bezug zu narrativer Therapie (White 2010).
Die systemische Therapie folgt der Grundannahme, dass Menschen ihr Bild der Realität vor dem Hintergrund subjektiver Erfahrungen und Einordnungsprozesse selbst konstruieren. Entsprechend gehe ich davon aus, dass auch den im Sandspiel verwendeten Symbolen individuell unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben werden. Sandbilder deute ich daher nicht nach bestimmten, starren Interpretationsschemata, sondern versuche – wie Lowenfeld – ihre Bedeutung im gemeinsamen Gespräch mit dem Kind zu erkunden. Dabei ist mir bewusst, dass ich aufgrund der Ko-Konstruktion von Erzählprozessen bereits durch die Ausrichtung meiner Fragen Einfluss auf die Bedeutungsgebung nehme. Mir ist es wichtig, die Sandbilder als Selbstausdruck des Kindes wertzuschätzen und die tiefe Verbundenheit des Kindes mit dem Gebauten zu berücksichtigen. Daher achte ich darauf, zunächst genügend Zeit zu geben, um das Sandbild wirken zu lassen. Das Kind soll sich mit seinem Sandbild angenommen fühlen; die für das Sandspiel bedeutsame Atmosphäre aufnehmender Offenheit soll nicht zugunsten einer vorschnellen Lösungssuche zerstört werden.
Kinder sollen sich frei fühlen, ihr Sandbild stehen zu lassen oder eigenen Veränderungsimpulsen nachzugehen.8 Es ist mir auch wichtig, die Lösungssuche nicht im Sinne einer von mir gesehenen Veränderungsmöglichkeit zu beeinflussen. Meine Aufgabe als Therapeutin sehe ich vielmehr darin, Suchprozesse anregen, durch die das Kind eigene Ideen entwickeln kann.
Um ein Kind in diesem Prozess zu unterstützen, versuche ich zunächst zu erfassen, wie es sich seinem Sandbild nähert und körperlich im Sand agiert. Ist es ihm wichtig, sich im Sand festen Boden zu bereiten? Geht es darum, die eigene Kraft zu spüren, etwas zum Halten zu bringen, sich schützende Höhlen zu bauen? Oder gestaltet es die Sandfläche kaum und stellt nur vorsichtig Figuren hinein?
Ist das Sandbild abgeschlossen, wird es von mir auf einem Foto festgehalten. Ich fordere das Kind auf, das Sandbild zunächst gemeinsam mit mir zu betrachten. Die intensive Arbeit im Sand löst Tranceprozesse aus und führt in einen emotional aktivierten Zustand, der durch die Konfrontation mit dem fertigen Sandbild noch verstärkt werden kann. An der Seite des Kindes achte ich auf mögliche Körperreaktionen und Impulse, mit denen es auf das von ihm Gebaute reagiert.
Ich achte auch auf Empfindungen und Assoziationen, die das Sandbild bei mir hervorruft. In einer inneren Hypothesenbildung versuche ich einen Bezug zur Symptomatik und zur Lebensgeschichte des Kindes herzustellen: Welche Atmosphäre vermittelt das Sandbild? Welche bedeutsamen Personen aus dem Umfeld des Kindes sind möglicherweise dargestellt? Welche Bildelemente könnten Persönlichkeitsanteile des Kindes repräsentieren? Sandbilder können die äußere Lebenssituation eines Kindes spiegeln oder auch unterschiedliche Ich-Zustände des Kindes zum Ausdruck bringen. Um die Vielfalt möglicher Aspekte zu erfassen, ist es hilfreich, Sandbilder aus beiden Perspektiven zu betrachten.
Anschließend lasse ich mir durch offene Fragen beschreiben, was im Sandbild dargestellt ist. Dabei achte ich darauf, ob sich das Kind mit einer Figur besonders identifiziert und welche Wünsche es für sie äußert. Durch hypothetische Fragen lenke ich den Blick auf Handlungsoptionen, die im Sandbild enthalten sind; zirkuläre Fragen helfen beim Erfassen von Kontext und Motiven. Im Sinne eines Reflecting Teams (Anderson 1990) kann Rat von Figuren eingeholt werden, die im Sandbild vertreten sind. Auch nicht im Sandbild vorhandene Identifikationsfiguren des Kindes können einbezogen werden: Was würde zum Beispiel Harry Potter den bedrängten Figuren raten?
Entscheidend für eine Auflösung der Problemtrance ist meist bereits die Frage, wie die im Sandbild dargestellte Geschichte weitergehen könnte – allein die Suggestion, dass dies möglich ist, bringt festgefahrene innere Bilder in Bewegung und lässt Ideen entstehen. Oft lässt sich beim Kind gut beobachten, wie die Veränderung des affektiven Zustands neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten entstehen lässt (Ciompi 1998); aus dem Problembild heraus entstehen überraschend schnell Lösungswege zu einem gewünschten Zustand.9
Haben Kinder eine Idee zu einer Fortsetzung der Geschichte gewonnen, liegt es für sie sehr nahe, sie auch »weiterspielen« zu wollen. Im narrativen Sandspiel gestalten sie anschließend selbsttätig ihre Lösungsgeschichte. Da es bei diesem Ansatz vorrangig...