Vorwort
Die zunehmende Beschäftigung mit dem biblischen Buch Ruth lässt in seinen nur vier Kapiteln eine weite »Landschaft« göttlicher Heilsgeschichte - die Geschichte einer großen Liebe voll von Leid und Treue, Schuld und Gnade entdecken. Was hier im Leben weniger Menschen geschieht, hat zuletzt Auswirkungen auf die Menschheit. Ruth und Boas sind die Vorfahren der königlichen Messiasdynastie, aus der schließlich der hervorgehen wird, dem "alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist" (Mt 28,18). Dass die Bibel ein über Jahrhunderte ausgespanntes Netzwerk von Generations-, Heils- und Segenslinien entfaltet, die einen durchgängigen »Code« tragen und von der Handschrift Gottes signiert sind, ist für mich immer wieder faszinierend. Die skizzenhafte Vorabbildung des Wirkens Jesu in alttestamentlichen Zusammenhängen zeigt den wahrhaft prophetischen Charakter dieser alten biblischen Erzählungen und lässt sie gegenwartsnah und zukunftsrelevant erscheinen.
Die Geschichte von Ruth ist eingebettet in die Geschichte von Naomi. Sie ist die einzige, die alles von Anfang an erlebt hat: wie die Familie in Bethlehem Hunger litt und schließlich aufgab, um ihr Glück in Moab zu suchen. Der Umzug, die Suche eines Wohnorts und Hauses, das Kennenlernen von Land und Leuten, sich in eine fremde Kultur, die den Gott Israels nicht kannte, einzugewöhnen, war nicht einfach. Neue Bekanntschaften wurden geschlossen, ihre Söhne lernten moabitische Mädchen kennen und heirateten. Zehn Jahre lang durften sie als harmonische Familie zusammenleben, bis unerwartete Ereignisse ihren Lauf nahmen: zuerst der schmerzliche Verlust des Ehemanns und Vaters Elimelech, dann der tragische Tod der beiden Söhne. Diese Heimsuchungen bilden den Ausgangspunkt all der Ereignisse, die im Buch Ruth geschildert werden, bis zum glücklichen Ende, als Naomi durch Ruth ein Sohn geschenkt wird. Ein Sohn, dessen Nachkommen über David bis zu Jesus reichen werden. Naomis Lebensweg ist ein Beispiel dafür, wie Gottes Geschichte entlang einem durchgängigen »roten Faden« verläuft, der sich mithin über Jahrtausende hinweg fortsetzt und sich auf das kommende Reich Gottes zubewegt. Aus der Familienlinie von Naomis quasi adoptiertem, einzigem überlebenden Sohn kommt der Erlöser Jesus Christus. Seiner menschlichen Herkunft nach ist Naomi die "Mutter" dieses Stammbaums. Seiner göttlichen Herkunft nach kommt er vom himmlischen Vater und ist dessen ebenfalls einziger Sohn. Eine bemerkenswerte Parallele: Naomi und Gott selbst sind Begründer einer Genealogie, einer fortwährenden Heilsgeschichte, die durch die Weltgeschichte hindurch eine Spur der Erlösung und Erneuerung legt.
Zurück zur Ausgangssituation: War die Flucht aus Bethlehem nötig, oder war sie gar eine Ausflucht? Haben sie die dortige Familie und die Mitbürger einfach im Stich gelassen? Sind sie einer kurzsichtigen Einschätzung der Lage gefolgt? Unausgesprochen schwingt der Gedanke an eigene Schuld mit. Es sollte alles recht werden, davon waren sie überzeugt, die Hoffnung auf bessere Zeiten gab ihnen die Kraft zum Aufbruch. Aber stand da nicht auch das andere Argument im Raum: war selbstbezogenes Denken eingemischt, ein Zurückweichen vor gegenwärtigen Herausforderungen, eine Scheu vor unbequemen Einbußen, vor harten Maßnahmen, die doch so notwendig gewesen wären? Und dann huscht immer wieder dieser dunkle Gedanke durch die Sinne: war das Sterben der Männer ein Gericht Gottes? Die Strafe für die Trennung vom Volk Israel? Hat ein Jude in der Diaspora auf Dauer doch keinen Segen? Haben sie das Land, ihre Traditionen und Angehörigen, die Gottes Gabe im Stich gelassen? Fragen, die unausgesprochen im Raum stehen, jedoch in der Erzählung keinen Widerhall finden. Gott ist anders und handelt anders als wir denken.
Naomi sucht in ihrer Not nach Auswegen, - die schlußendlich zu Verheißungswegen werden. Sie hätte allen Grund, sich hängen zu lassen, ihr Schicksal als unausweichlich hinzunehmen und in den Tag hineinzuleben. Aber dann wird die versuchte Lethargie von der unbarmherzigen Schwerkraft der Trauer überlagert. Vorwürfe besetzen ihre Gedanken: ist sie womöglich selbst der Grund für das Elend? Hatte sie es nicht besser verdient? Manchmal und immer häufiger schiebt sie diese dunklen Gedanken zur Seite. Spielball dieser finsteren Schwaden klagender Stimmen will sie nicht sein. Naomi wehrt sich gegen den Zugriff der Skrupel, stellt sich dagegen, Opfer ihrer selbst zu sein. Trotz aller Schwäche ist Liegenbleiben keine Option. Sie erhebt den Blick, richtet sich auf und beginnt erste Schritte zu gehen. "Lech lecha" - Gottes Befehl an Abram, die Heimat zu verlassen, klingt leise, aber unüberhörbar in ihrem Herzen an.
Schritte aus dem Verzagen in eine ungeahnte Zukunft - das ist der Stoff, aus dem dieses alttestamentliche Kleinod "Ruth" geformt ist. Hauptakteurinnen sind zwei Frauen: Naomi und Ruth. Wie sich ihre Lebenswege schneiden, wie sie diese Wege miteinander teilen und gemeinsam gehen, lässt Spuren zutage treten, die weit über sie hinausweisen. Im Dahingegebensein an den Schmerz der Welt schimmern Hoffnungsfunken auf. Verheißungsspuren, die weit über das Leben der beiden Frauen hinausführen und Jahrhunderte später zu einer neuen Lebenschance werden, - für Israel und die Menschheit. Dass Gott nicht der ferne und absolute ist, sondern wie in einer Familie mit seinem Sohn und dem Heiligen Geist lebt, dass er Menschen als Kinder, die ihn lieben, gewinnen möchte und dafür seinen Sohn hergibt, - all das leuchtet durch die Geschichte von Ruth hindurch. Erst nach dem Leiden Naomis, ihren Mann und die beiden Söhne hergeben zu müssen, begann die neue Verheißungsgeschichte. Sie ist aus dem Tod geboren, ist auf ihre Art radikal und revolutionär, eine Antithese zur Weltgeschichte, eine Auferstehungsgeschichte.
Mit dem Hinzukommen der dritten Gestalt, Boas, entsteht eine Trias an Akteuren, die die weiteren Ereignisse in der alten Heimat Bethlehem voranbringen. Boas steht mit beiden Frauen in einer je eigenen Verbindung, er wird von beiden »berufen«, um ihnen als Verwandter und Ehemann zu helfen und ihrem Leben eine Zukunft zu geben. Und eben dadurch wird er "Löser", Erlöser und Retter der Familie. Er stellt die Rahmenbedingungen für die Umsetzung von Naomis Plänen zur Verfügung und ermöglicht dadurch, selbst zu einer zentralen Figur dieser Familiengeschichte zu werden. Dabei ist es Ruth, die durch ihr mutiges Vorpreschen die Schlüsselrolle für die entscheidenden Fortschritte übernimmt. Unübersehbar bleibt jedoch, dass all die notvollen, überraschenden und ermutigenden Geschehnisse reine Zufälle sind: wo etwas zufällt, muss einer da sein, der wirft. Die unsichtbare Hand Gottes ist die stärkste Komponente dieser Geschichte. Er scheint einen Entwurf zu haben, der sich in großer Liebe und Fürsorge bei Menschen realisiert, die mit ihm gehen, und der weitere Menschen einbezieht, selbst solche, die erst tausend und mehr Jahre später leben.
Die nachfolgenden Ausführungen über das Buch Ruth folgen nicht einer einheitlichen und durchgängigen Lesart. Sie suchen statt dessen unterschiedliche Blickwinkel und betrachten die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Dazu gehört eine dem zeitlichen Verlauf der Ereignisse folgende erzählerische Darstellung (umrandete Textfelder), die den Leser in die Lage der Betroffenen versetzen will. Zweitens wird die weisheitliche Schicht des Ruth-Buches befragt, um über die Zeiten hinweg Hilfen zur praktischen Lebensführung zu gewinnen. Drittens unterstützt die Beachtung interessanter sprachlicher Merkmale seine Auslegung und sein weitergehendes Verständnis. Viertens werden Querverbindungen zu anderen biblischen Texten und theologischen Linien gezogen, die dem Grundsatz entsprechen, dass die Bibel ihr eigener Ausleger ist. Fünftens können auch Beiträge aus Talmud und Judentum aufschlussreiche und erhellende Ergänzungen beisteuern. Nicht zuletzt macht die gesamtbiblische Betrachtung das Buch Ruth zu einem Höhepunkt der Heilsgeschichte. Denn hier werden die Weichen gestellt für die zentrale Achse der Geschichte Israels und mithin der Geschichte der Welt. Die davidische Dynastie nimmt in diesem Buch ihren Anfang, aus der König David als Urenkel Ruths und der »zweite David«, der endzeitliche messianische König kommen. Ruth und Boas begründen die Familie von Jesus Christus gemäß seiner leiblichen Abstammung. Diese Familie setzt sich über Jahrtausende und bis an die Enden der Erde fort: indem Menschen zum Glauben an den Messiaskönig Jesus finden und ihm nachfolgen werden sie zu seinen Brüdern und Schwestern und damit zu Mitgliedern seiner Familie. Und es wird diejenige Familie sein, der eine herrliche Zukunft gehört, sie wird alle Gerichte und Katastrophen, die sich in der Welt anbahnen, überleben und mit dem wiederkommenden Messias herrschen. Die Auferstehung des Königs vom Tod ist Beginn und Unterpfand dieser Zukunftsperspektive.
Die äußere Form, in der hier das Buch Ruth beschrieben und erläutert wird, entspricht nicht einem zusammenhängenden Text, ist vielmehr sentenzen- und stichwortartig gehalten. Bewusst wird »Luft« zwischen den Aussagen gelassen,...