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E-Book

The Brain

Die Geschichte von dir

AutorDavid Eagleman
VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl228 Seiten
ISBN9783641183158
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Unterhaltend und fundiert: Ein Pageturner über die Hirnforschung
Die Hirnforschung macht rasante Fortschritte, aber nur selten treten wir einen Schritt zurück und fragen uns, was es heißt, ein Lebewesen und Mensch zu sein. Der renommierte Neurowissenschaftler David Eagleman nimmt uns mit auf die Reise durch das Gewirr aus Milliarden von Hirnzellen und Billionen von Synapsen - und zu uns selbst.

Das sonderbare Rechengewebe in unserem Schädel ist der Apparat, mit dem wir uns in der Welt orientieren, Entscheidungen treffen und Vorstellungen entwickeln. Seine unendlich vielen Zellen bringen unser Bewusstsein und unsere Träume hervor. In diesem Buch baut Bestsellerautor David Eagleman eine Brücke zwischen der Hirnforschung und uns, den Besitzern eines Gehirns. Er hilft uns, uns selbst zu verstehen. Denn ein besseres Verständnis unseres inneren Kosmos wirft auch ein neues Licht auf unsere persönlichen Beziehungen und unser gesellschaftliches Zusammenleben: wie wir unser Leben lenken, warum wir lieben, was wir für wahr halten, wie wir unsere Kinder erziehen, wie wir unsere Gesellschaftspolitik verbessern und wie wir den menschlichen Körper auf die kommenden Jahrhunderte vorbereiten können.

David Eagleman, geboren 1971, wurde in Neurowissenschaften promoviert und war Schüler des legendären Biologen Francis Crick. Er ist einer der angesehensten und bekanntesten Hirnforscher der Welt. Eagleman forscht und lehrt über das Unbewusste und die menschliche Wahrnehmung an der Stanford University. Mit »Fast im Jenseits«, einer Sammlung von kurzen Geschichten über das Leben nach dem Tod, gelang ihm ein in 20 Sprachen übersetzter Weltbestseller. Zuletzt erschienen bei Pantheon »Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns« (2013) und »The Brain« (2017).

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Leseprobe

Aus chirurgischer Sicht war die Operation ein voller Erfolg. Aber was Mike erlebte, konnte man nicht als Sehen bezeichnen. Wie er selbst es ausdrückt: »Mein Hirn sagte nur: Oh Gott!«

Begleitet von Ärzten und Angehörigen verließ er den Raum und ging den Gang hinunter. Dabei schaute er auf den Teppich, die Bilder an der Wand, die Türen. Nichts davon ergab einen Sinn. Auf der Heimfahrt richtete er den Blick auf die vorüberflitzenden Autos, Häuser und Menschen und versuchte zu verstehen, was er da sah – ohne Erfolg. Auf der Autobahn zuckte er zusammen, als es so aussah, als würden sie in ein riesiges Rechteck rasen. Es war ein Autobahnschild, unter dem sie hindurchfuhren. Er hatte keine Vorstellung von dreidimensionalen Gegenständen im Raum. Nach der Operation konnte er tatsächlich kaum noch skifahren: Weil ihm das räumlichen Sehen Probleme bereitete, fiel es ihm schwer, Menschen, Bäume, Schatten und Senken auseinanderzuhalten. Für ihn sah alles aus wie dunkle Flecken vor dem Hintergrund des weißen Schnees.

Aus Mikes Erfahrung lernen wir, dass unser Sehapparat eben nicht wie eine Kamera funktioniert. Das Sehen stellt sich nicht von selbst ein, nur weil man die Kappe von der Linse nimmt. Zum Sehen ist mehr nötig als ein gesundes Augenpaar.

In Mikes Fall war die für das Sehen zuständige Hirnregion (die Sehrinde) weitgehend von den anderen Sinnen wie Hören und Tasten belegt worden. Deswegen hatte sein Gehirn Schwierigkeiten, die Signale zu verarbeiten, die am Sehen beteiligt sind. Wie wir noch erfahren werden, entsteht das Sehen aus dem hochkomplexen Zusammenspiel von vielen Milliarden Gehirnzellen.

Heute, fünfzehn Jahre nach seiner Operation, fällt es Mike immer noch schwer, gedruckte Wörter zu lesen oder Gesichtsausdrücke zu verstehen. Um seine ungenügende visuelle Wahrnehmung einordnen zu können, gleicht er sie mit seinen anderen Sinnen ab: Er tastet, hebt etwas an, horcht. Es ist derselbe sinnesübergreifende Abgleich, den wir auch als Kleinkinder vornehmen, wenn unser Gehirn erstmals lernt, die Welt zu verstehen.

Sehen braucht mehr als Augen

Wenn Kleinkinder nach Gegenständen greifen, dann nicht nur, um ihre Form und Oberfläche zu erforschen. Sie tun es auch, um sehen zu lernen. Es klingt zunächst merkwürdig, dass wir unseren Körper bewegen müssen, um sehen zu lernen. Dass dem aber so ist, wurde 1963 in einem eleganten Experiment mit zwei Katzenjungen demonstriert.

Richard Held und Alan Hein, zwei Forscher am MIT, setzten zwei Kätzchen in einen Zylinder mit vertikalen Streifen. Beide Kätzchen bekamen visuellen Input, indem sie sich durch den Zylinder bewegten. Es gab jedoch einen entscheidenden Unterschied: Das erste bewegte sich selbst, das zweite saß in einer Gondel, die an einer Mittelachse befestigt war. Aufgrund des Versuchsaufbaus sahen beide Kätzchen exakt dasselbe: Die Streifen bewegten sich gleichzeitig und mit derselben Geschwindigkeit an ihnen vorüber. Wenn es beim Sehen nur darum gehen würde, dass Photonen auf die Netzhaut treffen, dann hätte sich das visuelle System der beiden Kätzchen identisch entwickelt müssen. Doch das Ergebnis war eine Überraschung: Nur das Kätzchen, das sich selbst bewegte, lernte normal zu sehen. Das Kätzchen in der Gondel lernte das Sehen nicht richtig, sein visuelles System blieb unterentwickelt.

Ein Kätzchen läuft, das andere wird getragen. Beide erhalten denselben visuellen Input, aber nur das Kätzchen, das sich selbst bewegt (und seine eigenen Bewegungen mit der Veränderung des Gesehenen abgleichen kann), lernt richtig sehen.

© Dragonfly Media Group

Beim Sehen geht es nicht darum, dass Photonen von der Sehrinde interpretiert werden. Sehen ist eine Ganzkörpererfahrung. Das Gehirn versteht die ankommenden Signale nur durch Übung, und dazu muss es registrieren und abgleichen, wie sich unsere Sinneseindrücke durch unsere Bewegungen verändern. Nur so lernt unser Gehirn allmählich, visuelle Informationen einzuordnen und ihnen Bedeutung zuzuweisen.

Wenn wir als Kinder keinen aktiven Kontakt zur Welt haben, wenn wir also kein Feedback bekommen, was unsere sinnlichen Wahrnehmungen bedeuten, dann können wir theoretisch nie sehen lernen. Wenn Säuglinge gegen die Stangen ihres Bettchens schlagen, an ihren Zehen kauen und mit bunten Klötzchen spielen, dann erforschen sie nicht nur ihre Welt – sie schulen ihr visuelles System. Eingesperrt im Dunkel des Schädels lernt das Gehirn, wie eine bestimmte körperliche Handlung (dreh den Kopf, drück hier dagegen, lass jenes los) den eintreffenden sinnlichen Input verändert. Und als Ergebnis dieser vielen Experimenten lernen wir sehen.

Sehen ist kein Kinderspiel

Das Sehen geht so mühelos vor sich, dass wir gar nicht bemerken, welchen Aufwand das Gehirn dabei betreibt. Um diesen Prozess ein bisschen besser zu verstehen, flog ich nach Irvine in Kalifornien, um zu sehen was passiert, wenn mein visuelles System nicht die Signale bekommt, die es erwartet.

Alyssa Brewer von der University of California untersucht, wie anpassungsfähig das Gehirn ist. Dazu setzt sie ihren Teilnehmern eine Kamerabrille auf, die rechts und links vertauscht, und beobachtet, wie das visuelle System damit umgeht.

An einem schönen Frühlingstag setzte ich mir diese Kamerabrille auf. Plötzlich sah ich die Welt spiegelverkehrt: Gegenstände, die sich rechts von mir befanden, sah ich plötzlich links, und umgekehrt. Als ich herausfinden wollte, wo Alyssa stand, gab mir mein visuelles System eine Information und mein Gehör eine ganz andere. Meine Sinne gaben widersprüchliche Auskunft. Wenn ich nach einem Gegenstand griff, passte der Anblick meiner Hand nicht zu dem, was mir meine Muskeln sagten. Nach zwei Minuten mit der Brille war ich schweißgebadet und mir war schwindelig.

Die Kamerabrille stellt die sichtbare Welt spiegelverkehrt dar. Selbst einfache Aufgaben – ein Getränk einschenken, einen Gegenstand in die Hand nehmen oder ohne anzustoßen durch eine Tür gehen – werden zur Herausforderung.

Meine Augen funktionierten zwar und nahmen die Welt wahr, aber die optischen Daten widersprachen den Informationen der anderen Sinnesorgane. Das stellte mein Gehirn vor eine schwierige Aufgabe. Es war so, als müsste ich wieder sehen lernen.

Mir war klar, dass es irgendwann einfacher werden würde. Ein anderer Teilnehmer namens Brian Barton trug seine Kamerabrille schon seit einer ganzen Woche. Er machte nicht den Eindruck, als sei ihm so schwindelig wie mir. Um den jeweiligen Grad unsere Anpassung zu vergleichen, forderte ich ihn zu einem Backwettbewerb auf. Dazu mussten wir Eier in eine Schüssel klopfen, eine Backmischung einrühren, den Teig in eine Cupcakeform füllen und die Form in den Ofen schieben.

Es war kein fairer Wettkampf. Brians Cupcakes kamen hübsch aus dem Ofen, während der Großteil meines Teigs auf der Küchentheke klebte oder über die Backform verschmiert war. Brian fand sich nahezu problemlos zurecht, während ich handlungsunfähig geworden war. Plötzlich war jede Bewegung eine bewusste Anstrengung.

Mit der Brille konnte ich erleben, welcher Aufwand hinter der Verarbeitung visueller Informationen steckt. Noch am Morgen, ehe ich die Brille aufsetzte, hatte mein Gehirn auf seine jahrelange Erfahrung in der Welt zurückgreifen können. Aber nach einer einfachen Spiegelung der Sinneseindrücke von rechts nach links war es damit vorbei.

Um so geschickt zu sein wie Brian, müsste ich tagelang nach Gegenständen greifen, Geräuschen folgen und die Position meiner Hände und Füße beobachten. Indem mein Gehirn fortwährend die verschiedenen Sinneseindrücke abglich, hätte es irgendwann die neue Weltsicht so eingeübt wie Brians Gehirn nach sieben Tagen. Irgendwann hätten meine neuronalen Schaltkreise herausgefunden, wie die Datenströme der verschiedenen Sinnesorgane zusammenpassen könnten.

Brewer berichtet, dass die Teilnehmer nach einigen Tagen mit der Brille ein Gefühl für ein altes und ein neues Links und Rechts entwickelten. Nach einer Woche bewegten sie sich so normal wie Brian und hatten keine Vorstellung mehr davon, wie sich die alte und die neue Orientierung voneinander unterschieden. Ihre räumliche Karte der Welt verändert sich. Nach zwei Wochen können sie ordentlich lesen und schreiben und genauso gut gehen und greifen wie zuvor ohne die Brille. In dieser relativ kurzen Zeit lernen sie, den spiegelverkehrten Input zu verarbeiten.

Wie die Information im Einzelnen aussieht, ist dem Gehirn egal. Ihm geht es nur darum, dass wir uns möglichst mühelos durch die Welt bewegen und das bekommen, was wir brauchen. Die Schwerarbeit der Signalverarbeitung erledigt es völlig reibungslos. Wenn du einmal die Gelegenheit hast, eine Kamerabrille aufzusetzen, dann solltest du das ausprobieren. Es zeigt dir ganz unmittelbar, welche Mühen dein Gehirn darauf verwendet, damit du scheinbar mühelos sehen kannst.

Synchronisierung der Sinne

Wie wir gesehen haben, muss das Gehirn die Datenströme aller Sinnesorgane abgleichen, um uns ein Bild von der Welt zu liefern. Aber dieser Abgleich ist gar nicht so einfach, und der Grund dafür ist das Timing. Die Datenströme der verschiedenen Sinne – Sehen, Hören, Tasten, und so weiter – werden vom Gehirn nämlich unterschiedlich schnell verarbeitet.

Sehen wir uns einen Hundert-Meter-Lauf an. Es sieht so aus, als würden alle Läufer aus den Startblöcken schießen, sobald der Schuss ertönt. Aber das stimmt nicht: In Zeitlupe wird erkennbar, dass zwischen dem Startsignal und der Reaktion eine ganze Menge Zeit vergeht – fast zwei Zehntelsekunden. (Wer sich eher bewegt, wird wegen Fehlstarts disqualifiziert.) Im Training...

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