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E-Book

Mein fremdes Ich

Eine Abrechnung mit der Depression

AutorDaphne Merkin
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783518757499
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR

»Mein fremdes Ich gehört zum Kanon der Bücher, die depressive Menschen ermutigen und jenen glücklichen, die dieser Bürde entgangen sind, Aufklärung geben.« (Washington Post)

Seit ihrer Kindheit leidet die New Yorker Schriftstellerin Daphne Merkin an Depressionen. Obwohl ihre Eltern, orthodoxe deutsche Juden, sehr wohlhabend waren, war die Atmosphäre in ihrem Zuhause harsch, es fehlte den Kindern an Kleidung, Essen und Zuneigung. Zum ersten Mal wurde Merkin, die die Herzlosigkeit der Mutter kaum ertrug, als Schulkind klinisch eingewiesen, und hat nun - längst selbst Mutter - unzählige Therapien durchlaufen. Über fünf Jahrzehnte beschäftigt sie sich schon mit der noch immer stigmatisierten Krankheit und mit der Frage, was es bedeutet, ein Leben mit Depressionen zu führen, das trotz allem lebenswert ist.

In Mein fremdes Ich wartet Merkin mit all ihrer Erfahrung auf - den vielen Teilsiegen und Rückschlägen, der Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte, den neuesten Forschungserkenntnissen. Mit nüchterner Klarheit und dunkel strahlender Poesie beschreibt sie den Kampf mit Depressionen, die man nie besiegen, mit denen man aber zu leben lernen kann.



<p>Daphne Merkin, geboren 1954 in New York, ist Autorin sowie Literatur- und Filmkritikerin. Ihre Arbeiten erscheinen u. a. im New Yorker, dem New York Times Magazine, der Elle und der Vogue. Neben <em>Mein fremdes Ich</em> veröffentlichte sie einen Roman sowie zwei Essaybände und arbeitete als Verlagslektorin. Merkin hat eine Tochter und lebt in New York.</p>

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Leseprobe

2


Manchmal fühle ich mich, als wäre ich dazu verdammt, meine Familiengeschichte immer wieder aufs Neue zu erzählen. So wie bei dem Ritual, jedes Jahr beim Sederabend des Pessach-Festes zu erzählen, wie sich das jüdische Volk von der grausamen Herrschaft des Pharaos befreit hat und aus Ägypten ausgezogen ist. Im hebräischen Text wird dieses Ritual explizit als »Mitzwa« beschrieben, als ein gutes Werk. Wir sind dazu angehalten, uns und unseren Gästen die Haggada laut vorzulesen und so die Geschichte unseres Volkes auf ein Neues weiterzugeben, damit wir die schwierigen historischen Umstände nicht vergessen, die uns von dort aus in die Gegenwart brachten und dafür sorgten, dass wir uns von der Sklaverei emanzipiert haben. Auch meine Kindheit verstehe ich als eine Art von Sklaverei – mit Sicherheit lässt sie sich als so etwas wie eine Gefangenschaft beschreiben –, aber ich bin mir selbst nach all den Jahrzehnten, die seither vergangen sind, nicht sicher, ob ich ihr jemals entkommen bin, ob ich jemals eine Art von Freiheit erreicht habe, die mehr als nur kurzlebig war.

Diese Geschichte schwankt wie alle Geschichten zwischen Vergangenheit und Zukunft. Anders als bei den meisten Geschichten bleibt die Vergangenheit in diesem Fall jedoch nicht in ihrem Schlupfwinkel. Stattdessen sucht sie in solch einem Maße die Gegenwart heim, dass diese Gefahr läuft, erdrückt und außer Betrieb gesetzt zu werden. Zum Beispiel in dieser Szene, die sich irgendwann im Heute abspielt: Es ist tiefe Nacht – eigentlich schon sehr früh am Morgen –, und ich spreche mit einer meiner Schwestern am Telefon über die »Tragödie unserer Familie«. Wir haben dieses finstere Thema schon viele, viele Male zuvor umkreist, haben schon oft detailliert besprochen, wie unerklärlich und unerträglich es war, bei uns zuhause aufzuwachsen. Meine Schwester benutzt Wörter wie »Havarie« oder »Blutbad«, und ich stimme ihr murmelnd zu. Keiner der anderen, die dort mit uns aufgewachsen sind, hat so viel Interesse daran, solche Unterhaltungen zu führen, wie wir, keiner unserer vier Geschwister – und übrigens auch unsere jeweiligen Kinder nicht –, aber wir beide stehen im Bann dieser Geschichte, sind süchtig nach ihren Gräueln, obwohl wir all ihre überraschenden Wendungen kennen und inzwischen auch einen recht soliden Eindruck davon haben, wohin sie geführt hat. Dennoch sieht es so aus, als werden wir niemals genug davon bekommen, uns wieder ins Gedächtnis zu rufen, wie unser früheres Leben ausgesehen hat, wie sie sich angefühlt hat, diese Landschaft aus Stacheldraht, hinter der vergoldeten Fassade des Park-Avenue-Lebens.

Wie, fragen wir uns wieder einmal, ist nur die heimtückische Grausamkeit unserer Mutter zu erklären – ihr Drang, »ihre eigenen Jungen zu fressen«, wie es ein Psychiater einer meiner Brüder und Schwestern einmal drastisch ausgedrückt hat, eine Art Pathologie, die anderen Menschen nicht ins Auge fiel, weil sie nach außen hin wie ein völlig normaler Mensch wirkte. Obwohl ich nicht behaupten kann, dass meine Mutter bei den Leuten, die ihr begegneten, einen besonders herzlichen Eindruck hinterließ, hätte sie jede Prüfung ihrer mütterlichen Fähigkeiten bestanden. Sie wirkte wie ein spezieller Typ von Mutter, kühl und ein wenig distanziert, aber nicht wie eine völlige Anomalie – sie war ein Monster, das sich vor der Außenwelt bedeckt hielt. Und das, obwohl sie sich durch keine der typischen Merkmale einer normalen Mutter auszeichnete, einer Mutter, die sich um ihre Kinder kümmert und ihnen ein Leben wünscht, das so gut ist wie ihr eigenes oder noch besser. Für die meisten Menschen wäre es schwierig gewesen, ihre essenzielle Perversität zu erkennen, da die Idee von Mutterschaft für die meisten von uns mit so vielen positiven Bedeutungen versehen ist. Niemand erwartet von einer Mutter, dass sie sich mit weit aufgerissenem Maul auf ihre Jungen stürzt.

»Deine Tränen berühren mich überhaupt nicht«, erklärte sie mir immer wieder, wenn ich als kleines Mädchen weinte. Und bevor sie mich schlug, warnte sie mich: »Gleich wirst du meine Hand auf deinem Gesicht spüren.« Sie war auch in der Lage, mir im gleichen Atemzug zu sagen, dass ich eigentlich ganz hübsch sei, aber scheußlich aussehe, wenn ich nicht munter oder gut gelaunt war – sie stieß das Wort mit Macht aus, betonte die erste Silbe und ließ die zweite dann langsam ausklingen, scheuß-lich. »Ich kann es mir nicht erklären«, sagte sie dann, als würde sie eine chemische Reaktion analysieren. »Irgendwas passiert mit deinem Gesicht, wenn du launisch bist.« (Launisch war ebenfalls eines ihrer Lieblingswörter.) »Du siehst dann einfach scheuß-lich aus.« Ich ging mit großer Befangenheit durch die Welt und versuchte, meine Gesichtszüge liebenswürdig und harmonisch wirken zu lassen, weil ich Angst hatte, dass sie in sich zusammenfallen und ein abstoßendes Bild abgeben würden, wenn ich nicht aufpasste.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Meine Mutter hat uns nicht auf unverhohlene Weise vernachlässigt, sie war auch nicht offenkundig verrückt. Sie war durchaus fähig, halbwegs zu bewältigen, was von ihr als Mutter verlangt wurde, wenn auch nur mit einer bestimmten Distanziertheit: Sie konnte ein Geburtstagsfest organisieren, mit einer Schokoladenbuttercremetorte, die von Iva, unserer Köchin, gebacken wurde, sie konnte telefonisch Rat beim Kinderarzt einholen und dafür sorgen, dass uns jemand zum Zahnarzt brachte. Aber der Subtext von allem, was sie für uns machte, waren Neid und Geringschätzung. »Ich glaube, er könnte schwul sein«, sagte sie einmal beschwingt und wie aus heiterem Himmel über meinen älteren Bruder, bei dem ich keine Anzeichen für Homosexualität ausmachen konnte, der als Teenager jedoch für kurze Zeit seine Koteletten lang trug, ein Frisierstil, den meine Mutter feminin fand. Oder als ich einmal nach Hause eilte, um die Neuigkeit zu verkünden, dass der New Yorker eingewilligt hatte, eine Erzählung von mir zu drucken, und meine Mutter nur sagte: »Deine Nase sieht groß aus, wenn du lachst.« Ich hatte mir ohnehin schon über meine Nase Sorgen gemacht – es war eine typisch ethnische Nase, die nach unten zeigte und einen leichten aristokratischen Buckel hatte, nicht das süße Stupsnasenmodell –, aber diese Bemerkung sorgte dafür, dass ich sie richten ließ.

Vor allem wollte sie nicht, dass irgendeiner von uns dachte, er oder sie sei von Bedeutung – oder hätte es auch nur annähernd verdient, so viel Raum einzunehmen, wie sie es tat. Hör auf, über dich selbst zu reden, sagte sie mir während meiner ganzen Kindheit in regelmäßigen Abständen, wenn ich neben ihr herlief und sie an irgendeiner kleinen Kränkung oder irgendeinem kleinen Triumph teilhaben ließ. Und obwohl sie uns mit Geschichten über ihr eigenes grenzenloses Potential bombardierte, das sich nur nicht ausschöpfen ließ, weil ihre Schulausbildung von den Nazis abgebrochen worden war, genoss sie es, den Ehrgeiz von uns Grünschnäbeln zurechtzustutzen. Immer wenn ich sie wie das Mädchen in dem Lied »Que Sera, Sera« fragte, was ich wohl werden würde, wenn ich erwachsen bin – eine Zeit lang glaubte ich, ich würde Schauspielerin werden –, zerstörte sie all meine Hoffnungen, indem sie sagte, mir bliebe immer die Möglichkeit, bei Woolworth, dem Billigladen auf der Lexington Avenue, zu arbeiten. Ich nahm sie beim Wort und malte mir in tristen Farben aus, wie ich zu einem Leben verdammt sein würde, das daraus besteht, in einem taillierten 50er-Jahre-Kleid und praktischen flachen Schuhen am Verkaufstresen zu stehen und Knöpfe und Reinigungsprodukte abzukassieren. Als sie älter war, äußerte sie mit großer Schadenfreude, ganz so, als sei es immer ihr größter Traum gewesen, dass wir eines Tages sozial absteigen würden: »All meine Kinder haben in Familien eingeheiratet, die arm wie Kirchenmäuse sind.«

Heute, mehr als 40 Jahre später, kommt es zu kompensatorischen Redeschwallen wie diesen, in denen meine Schwester und ich mikroskopisch unsere verletzten Persönlichkeiten ausloten. Ich sitze in meinem Bett, meinen Rücken an Kopfkissen und Wand gelehnt, und meine Schwester und ich reden und reden. Auch wenn es schon drei Uhr in der Nacht ist, sind wir hellwach und können nicht schlafen, in unseren Wohnungen, die sich jeweils auf der anderen Seite des Central Park befinden. In der Stadt, die niemals schläft, ist es weitgehend ruhig geworden, gelegentlich hört man den Verkehr auf der Straße ...

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