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Die Kraft der Berufung

Ein Gespräch mit Fernando Prado

AutorPapst Franziskus (Papst)
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783451816543
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Was ist das Ziel in unserem Leben? Was gibt uns Sinn und was er füllt uns? Und wozu bin ich eigentlich da, wozu bin ich 'berufen'? Das sind Fragen, die im religösen Leben eine große Rolle spielen, aber auch im Alltag. Papst Franziskus spürt diesen Fragen in seinem neuen Buch nach. Er spricht über die Berufung zum Priester oder Ordensfrau, über das, was Menschen in der Kirche heute suchen und finden können, aber auch was sie leisten sollen. Und der Papst erzählt von seiner eigenen Berufung, von seinen Antworten auf die Sinnfragen des Lebens. Das Gespräch führt so über die geistlichen Berufung hinaus mitten ins Leben, dort wo Franziskus die Kirche sehen will.

Papst Franziskus, Jorge Mario Bergoglio, geb. 1936, seit dem 13. März 2013 Bischof von Rom. Der argentinische Jesuit ist Sohn einer siebenköpfigen Familie italienischer Auswanderer, 1973 bis 1979 Provinzial der argentinischen Jesuiten, Von 1998 bis 2013 Erzbischof von Buenos Aires.

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Leseprobe

Die Kraft der Berufung


Es herrscht eine drückende Hitze. Das ist normal zu dieser Jahreszeit, Mitte August: Ferragosto, die wohl heißesten Sommertage in der Ewigen Stadt. Es ist drei Uhr nachmittags. Zu dieser Stunde steht die Sonne praktisch im Zenit.

Der Heilige Vater hat mich für vier Uhr nach Santa ­Marta bestellt, und ich möchte etwas vorher da sein, um ihn nicht außer Atem oder mit schweißnassen Händen zu begrüßen. Außerdem hatte Franziskus mich daran erinnert, dass ich die vorgeschriebenen Kontrollen am Tor neben dem Santo Uffizio passieren muss, um Zutritt zu Santa Marta zu bekommen. Ich betrete die Residenz des Papstes nicht zum ersten Mal und weiß, was mich erwartet. Ich möchte lieber rechtzeitig da sein für den Fall, dass irgendetwas Unvorhergesehenes geschieht, und mich ein wenig auf dem Petersplatz aufhalten.

So mache ich mich also auf zum Vatikan, zu Fuß. Ohne Eile, in aller Ruhe. In der sengenden Hitze gehe ich durch die Straßen, etwas gedankenverloren und nervös. Vom Claretinerkonvent Santa Lucia del Gonfalone in der Via dei Banchi Vecchi braucht man nur fünf Minuten, um den Tiber zu überqueren und zum Petersplatz zu gelangen. Viele Gedanken kommen und gehen, vom Herzen zum Kopf und umgekehrt. Ich bin mir bewusst, dass diese erneute Begegnung mit Franziskus für mich etwas Besonderes sein wird, aber ich möchte sie nicht für mich selbst in Beschlag nehmen. Ich möchte sie genießen in dem klaren Bewusstsein, dass sie einfach nur ein weiterer Dienst ist, den ich meinen geweihten Brüdern und Schwestern leisten kann.

Zwei Monate zuvor hatte ich es gewagt, beim Papst um die Möglichkeit einer Begegnung mit ihm anzufragen, um »einzig und allein« über Fragen zu sprechen, die mit dem geweihten Leben verbunden sind. Weil er selbst es erwähnt hat,7 weiß ich, dass er in Buenos Aires Interviews eher vermieden hatte, weil er nicht wenige Male das Gefühl hatte, dass seine Antworten falsch interpretiert wurden, und das hatte ihm einige Probleme verursacht. Seine Antwort blieb also abzuwarten. Die Frucht des Gesprächs sollte als eigenes Buch veröffentlicht werden und auch als Vorwort zu einer spanischen Anthologie seiner lehramtlichen Beiträge zum Thema des geweihten Lebens vom Beginn seines Pontifikats dienen. So hatte ich es ihm vorgeschlagen, und zu meiner freudigen Überraschung nahm Franziskus diesen Vorschlag gerne an.

Es ist der 9. August. Von meinem Platz neben dem Obelisken, umgeben von Berninis majestätischen Kolonnaden, betrachte ich die vor mir liegende Basilika und bewundere die Schönheit dieses großen Symbols der Christenheit. Sie ist das Zentrum der katholischen Kirche. Hier lebt Petrus, der Fels. Und Petrus ist heute Franziskus, der mit aller Autorität von Rom her in der Universalkirche den »Vorsitz in der Liebe« hat. Den Medien entnehmen wir, dass er der wohl wichtigste Mensch im gegenwärtigen Weltgeschehen ist. Seine geistliche Führungsrolle auf globaler Ebene ist unbestreitbar. Und ich denke an ihn, an das, was er darstellt, an das, was in der Welt und in der Kirche geschieht. Die Verantwortung, an der Spitze einer Institution wie dieser zu stehen, die bereits über 2.000 Jahre alt ist, ist zweifellos beeindruckend. Nicht jeder wäre in der Lage, diese Verantwortung zu tragen. Ich bin überwältigt bei dem Gedanken, dass ich ihm gleich gegenübersitzen werde, um ein Interview zu führen, von dem ich im Grunde lieber möchte, dass es ein Gespräch sein soll.

Mein Freund Pedro Blasco, ein sehr erfahrener Journalist, freute sich sehr über diese Gelegenheit, die sich mir bot. Einige Tage zuvor, als ich ihm erzählte, dass ich nach Rom gehen würde, hatte er zu mir gesagt, dass Papst Franziskus seiner Meinung nach die bedeutendste Persönlichkeit des beginnenden 21. Jahrhunderts sei – vergleichbar mit Johannes Paul II. und Fidel Castro, den großen Persönlichkeiten des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Und dieser Gedanke, der mir den ganzen Tag durch den Kopf ging, trug nicht gerade zu meiner ­Beruhigung bei.

Eine Begegnung von einigen Stunden mit Papst Franziskus würde auch für mich eine Art »Journalistische Promotion« sein, der Höhepunkt jener beruflichen Laufbahn, die ich bereits vor über 25 Jahren, vor meinem Eintritt in das Noviziat, durch mein Studium an der Universität mit viel Idealismus begonnen hatte. Wie die Zeit vergeht! In der Nacht hatte ich fast kein Auge zugetan – und zwar nicht nur wegen der römischen Hitze oder der lärmenden Musik, die bis fast zwei Uhr nachts durch mein Fenster hereindrang. Seit der Papst meinen Brief mit einer Zusage beantwortet hatte, lastete eine gewisse Unruhe auf mir, ob ich tatsächlich in der Lage sein würde, das Vertrauen, das er in mich gesetzt hatte, nicht zu enttäuschen.

Obgleich ich den Morgen ruhiger verbracht, mich mit einigen Ordensbrüdern unterhalten und Buchhandlungen besucht habe, bin ich ziemlich nervös. Der Augenblick ist gekommen. Nachdem ich eine Weile auf dem Petersplatz gesessen habe, atme ich tief ein und gehe zum Tor, das zu Santa Marta führt.

***

Seit meinem ersten Besuch bei Papst Franziskus im Jahr 2013 haben sich am Eingang nach und nach einige ­Dinge verändert. Die Sicherheitsvorschriften sind strenger geworden; jetzt muss man mehr Kontrollen passieren. Ein Schweizergardist, bekleidet mit der Uniform, die Michelangelo persönlich vor Jahrhunderten entworfen hat, salutiert und bittet mich, meinen kleinen Rucksack durch den Sicherheitsscanner passieren zu lassen. Ich habe nichts weiter als einen Fotoapparat, ein Notizbuch und ein kleines Aufnahmegerät dabei, die ich bei der Begegnung benutzen möchte.

Nachdem ich die Kontrolle passiert habe, gehe ich auf Santa Marta zu. An der Außentür angekommen, durchströmt mich das ruhige Gefühl, dass ich in das Haus des Papstes eintrete, also in das Haus von jemandem, der in erster Linie auch mein Vater ist. Genau das bedeutet das Wort »Papst« ja. Ich werde mit ihm zusammen sein, ein freundliches Gespräch mit ihm führen über ein Thema, das uns am Herzen liegt, über eine Lebenswirklichkeit, die wir beide zutiefst lieben. So haben wir es vereinbart. Das Interview soll ein freundliches Gespräch sein, bei dem es einzig und allein um das Thema geht, das ich ihm vorgeschlagen habe. Außerdem ist es nicht das erste Mal, dass ich mich unter ähnlichen Umständen mit ihm treffe. Der Papst kennt mich bereits und weiß von mir. Am Vorabend seiner Apostolischen Reise nach Chile habe ich mit ihm ein langes Gespräch geführt, bei dem auch Pater Antonio Spadaro anwesend war. Bei dieser Gelegenheit haben wir lange und ausführlich über die Verlagsarbeit gesprochen sowie über aktuelle kirchliche und auch politische Fragen, die mein Heimatland Spanien betreffen. Aus diesem reichen Austausch habe ich viel gelernt.

In Franziskus bin ich einem Vater, einem Bruder, einem Freund begegnet. Ich erinnere mich, dass ich damals zu Franziskus gesagt habe, dass ich nicht wüsste, wie man sich gegenüber einem Papst verhält. Ich wusste nicht, wie ich ihn ansprechen sollte. Ich merkte, dass der Umgang vertraut sein würde, denn als ich das Zimmer betrat, half mir der Papst selbst, die Jacke abzulegen und forderte mich auf, mich in einen Sessel neben ihn zu setzen, um miteinander zu sprechen.

Diesmal ist das Gefühl ähnlich, aber jetzt fühle ich mich plötzlich entspannter, ruhiger – trotz der großer Hitze. Es ist Viertel vor vier. Nachdem ich zwei oder drei Minuten in einem angenehm kühlen Raum im Erdgeschoss des Hauses gewartet habe, sagt einer der Schweizergardisten, die für die Sicherheit zuständig sind – er trägt einen Anzug –, dass Franziskus mich im zweiten Stock erwartet. Die Aufzugtür öffnet sich, und Franziskus steht dort und erwartet mich. Er begrüßt mich, und ich küsse seine Hand mit Freude. Ich bin dankbar, dass er sich die Mühe macht, mich an einem so heißen Tag zu empfangen, um vier Uhr nachmittags, inmitten von vielen wichtigen Dingen, die er gewiss zu erledigen hat. Ich überbringe ihm Grüße von einigen gemeinsamen Bekannten und Freunden, und er fordert mich auf, einzutreten. An der Tür zu seiner Wohnung hängt noch immer das Schild, auf dem steht: Vietato lamentarsi (Jammern verboten) – ein Slogan, den der italienische Psychologe Salvo Noè vor fast einem Jahr durch sein Buch populär gemacht hat.

Der Papst schließt die Tür, und wir setzen uns in das kleine Empfangszimmer, das zu seiner Wohnung gehört. Es ist ein einfacher Raum mit mehreren Bildern, die an der Wand hängen, einem niedrigen Tisch mit dazugehörigen Sesseln und einigen Gegenständen, die den Raum dekorieren. Sie sind geschmackvoll arrangiert. Linker Hand steht ein kleiner Kühlschrank, in dem sich Flaschen mit kaltem Wasser befinden. Der Papst fordert mich auf, mich dort zu bedienen. Im Augenblick habe ich keinen Durst. Während ich das Aufnahmegerät und das Notizheft auspacke, sage ich zu ihm, dass ich viele Fragen vorbereitet habe. Einige von ihnen seien vielleicht etwas kompromittierend, er solle sich jedoch frei fühlen in seinen Antworten. Ich bitte ihn, dass er, falls eine Frage ihm unangenehm sein sollte, nicht zögern solle, es mir zu sagen. Wir würden dann zur nächsten Frage übergehen.

»Ist gut«, sagt Franziskus. »Fangen wir an.«

Während ich das Aufnahmegerät vorbereite, sage ich zu Franziskus, dass die erste Frage dazu dienen soll, »das Eis zu brechen«: Er soll seine Erinnerung durchforsten nach geweihten Personen, denen er begegnet ist. Dort werden wir beginnen. Ich drücke auf Play und schalte auch die »Sprachmemos« auf meinem Mobiltelefon ein....

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