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E-Book

Marcel Proust

AutorKarlheinrich Biermann
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783644405998
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Marcel Proust (1871 - 1922), der in den mondänen Pariser Salons gern als Dandy und Snob auftrat, hat in seinem Romanzyklus «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» aus der Erinnerung eines Einzelnen das Leben einer Epoche eingefangen, die in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs unterging. Sein Werk bricht mit den Tabus seiner Zeit und sucht neuen Lebenssinn in den Umwälzungen der Moderne. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Karlheinrich Biermann, Studium der Romanistik, der Philosophie und der Evangelischen Theologie, teilweise auch der Germanistik und der Geschichte, nach Promotion und Habilitation Professor für Romanische Philologie (Literaturwissenschaft) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Buchveröffentlichungen: «Selbstentfremdung und Mißverständnis in den Tragödien Jean Racines» (1970); «Literarisch-politische Avantgarde in Frankreich 1830 - 1870 (1982); «Mexiko» (1993); Co-Autor der «Französischen Literaturgeschichte», hg. von J. Grimm (1989/1994/2006); «Victor Hugo» (rm 50565, 1998); «Marcel Proust» (rm 50624, 2005); «Antoine de Saint-Exupéry» (rm 50547, 2012). Arbeitsschwerpunkte: neuere französische Literatur, frankophone Literatur außerhalb Frankreichs, spanischsprachige Literatur Lateinamerikas.

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Leseprobe

Bürgerliche Geborgenheit in widriger Zeit


Es ist eine finstere Zeit, als Marcel Proust am 10. Juli 1871 im westlichen Pariser Vorort Auteuil zur Welt kommt. Kaum mehr als einen Monat liegt jene Blutwoche zurück, die dem Aufstand der Pariser Bevölkerung gegen die Versailler Regierung der III. Republik ein Ende setzt. Die «Commune» hat das Recht der Metropole auf Selbstverwaltung sowie das Recht der Nation auf Widerstand gegen die preußisch-deutschen Belagerer eingefordert, dazu ein soziales Mietrecht und ein laizistisches Schulsystem. Am 28. Mai werden die letzten Kommunarden auf dem Friedhof Père-Lachaise von Regierungstruppen erschossen, zu Füßen der «Mauer der Föderierten», wo sich noch heute alljährlich die Repräsentanten der französischen Linken zusammenfinden, um ihrer zu gedenken.

Es folgen Wochen und Monate der Repression: Tausende von Verdächtigen werden von Standgerichten zum Tod oder zur Zwangsarbeit in den Kolonien verurteilt. Dies ist das Ende des «Furchtbaren Jahres», wie Victor Hugo im Titel seiner Gedichtsammlung die Zeit vom Sommer 1870 bis zum Sommer 1871 nennt. Auf der Flucht vor seinen Verfolgern schreibt der Chansonnier Eugène Pottier jenes Lied, das später unter dem Titel «Internationale» weltweite Berühmtheit erlangen wird: «Das Recht des Armen ist ein leeres Wort.»

Einmal mehr durchlebt das französische Bürgertum einen Albtraum. Viele erinnern sich noch an den Aufstand der Pariser Arbeiter vom Juni 1848, den ebenfalls eine neue Republik blutig erstickt hat, und am Horizont erscheint das Gespenst der «Terreur» von 1793. Wieder einmal hat das Bürgertum seine gesellschaftliche Dominanz gerettet, doch die III. Republik muss nun mit einem kollektiven Trauma leben, das zu überwinden Jahrzehnte dauern wird.

Deutsch-Französischer Krieg und Commune

1870 Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen, Kandidat für den spanischen Königsthron, sagt ab. Frankreich fordert einen Verzicht für alle Zukunft.

13.7. Die von Bismarck formulierte Emser Depesche empfindet die französische Regierung als Provokation.

19.7. Kriegserklärung Frankreichs an Preußen. Die süddeutschen Staaten schließen sich dem Norddeutschen Bund an.

30.8. – 2.9. Schlacht bei Sedan

4.9. Absetzung Napoleons III. und Proklamation der Republik

19.9. Beginn der Belagerung von Paris

1871 18.1. Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Kaiser in Versailles

28.1. Waffenstillstand

12.2. Die Nationalversammlung tritt in Bordeaux zusammen.

Provisorischer Regierungssitz ist Versailles.

26.2. Vorfriede von Versailles: Abtretung des Elsass (ohne Belfort) und eines großen Teils von Lothringen (mit Metz). 10.5. Friede von Frankfurt

18.3. Beginn der Commune

21. – 28.5. Pariser Blutwoche. Rückeroberung der Hauptstadt durch die Versailler Truppen. Repression gegen die Kommunarden.

Der Bürgerkrieg ist indessen nur die eine Seite eines zweifachen Traumas, dessen andere Seite die demütigende Niederlage Frankreichs im Krieg gegen Preußen und seine Alliierten ausmacht. Der schnelle Untergang des II. Kaiserreichs Napoleons III. nach der Schlacht von Sedan, die eilige Ausrufung der Republik am 4. September 1870, die monatelange Belagerung der Hauptstadt, verbunden mit Bombardements und Hungerkrisen, die erniedrigende Proklamation des preußischen Königs zum deutschen Kaiser im alten Königsschloss Ludwigs XIV. von Versailles, schließlich die Kapitulation und der Friedensschluss von Frankfurt, der Frankreich zur Abtretung von Elsass-Lothringen zwingt, das nun in besonderer Weise Gegenstand kaiserlich-nationalistischer Selbstdarstellung wird: All diese Ereignisse schaffen jene deutsch-französische Beziehung, die der Begriff «Erbfeindschaft» besiegelt. Mit den Bedingungen und den Voraussetzungen ihrer Entstehung hat die III. Republik lange zu kämpfen, bevor sie schließlich Ende des Jahrhunderts von der Mehrheit der Franzosen akzeptiert wird.

Auf die schwierigen Lebensumstände von 1870/71 führt Marcel Proust später seine fragile physische Konstitution zurück. Angesichts der unsicheren Situation der Hauptstadt, wo der Arzt Adrien Proust im Hospital La Charité dringend benötigt wird, begibt sich seine Frau Jeanne nach Auteuil, einem damals noch ländlichen Vorort, um im Haus ihres Onkels Louis Weil das Ende einer wohl ohnehin schwierigen Schwangerschaft und die Geburt ihres ersten Kindes zu erwarten. Allerdings ist auch Auteuil keine friedliche Idylle, vielmehr zählt es zu jenen Orten, die zwischen Kommunarden und Regierungstruppen heftig umkämpft sind.

Fast symbolisch mutet das Datum der Eheschließung zwischen Adrien Proust und Jeanne Weil an: Es war der 3. September 1870, der Tag der Niederlage bei Sedan, der Vorabend der Proklamation der III. Republik. Vor allem aber kann die Ehe als beispielhaft für die Zusammenführung unterschiedlicher Traditionen gelten: von konservativ-ländlichem Kleinbürgertum der «France profonde» und liberalem Großbürgertum jüdischer Herkunft. Die Familie Proust stammt aus dem kleinen Ort Illiers, wenige Kilometer von Chartres entfernt, auf der Grenze zwischen den Landschaften der Beauce und des Perche gelegen. Zum ersten Mal wird sie urkundlich im Jahr 1589 erwähnt. Bis zum 19. Jahrhundert gehen aus ihr vor allem Handwerker und Kleinhändler hervor. Adrien Proust wird 1834 geboren. Und es scheint so, als habe er sich mit dem Gedanken getragen, den Priesterberuf zu ergreifen, bevor er schließlich nach bestandenem Abitur in Paris das Medizinstudium aufnimmt. In gewisser Weise kann er als typisches Produkt der Bildungspolitik des II. Kaiserreichs angesehen werden. Die Ideologie dieses Regimes ist eine eigentümliche Mischung aus Traditionalismus und Fortschrittsglauben. Bleibt das Schulwesen dem konservativen Klerus ausgeliefert, so propagieren die Universitäten die Bildung einer bürgerlichen Elite auf dem Fundament des Glaubens an grenzenlosen wissenschaftlichen Fortschritt. Wie viele Akademiker seiner Zeit, vor allem Naturwissenschaftler, sieht auch Adrien Proust sein Metier als eine Art Mission an. Er entscheidet sich für das Gebiet der Hygiene und gilt schließlich als eine der großen Kapazitäten seines Fachs in Frankreich und sogar darüber hinaus. In der Forschung – er lehrt schließlich an der Pariser École de Médecine – wie auch in der Praxis sieht er es als seinen Auftrag an, die Menschheit von der Geißel der Epidemien zu befreien, denn noch 1866 ist in Paris eine Choleraepidemie ausgebrochen. Unter seinen Publikationen ist wohl «Le Traité d’hygiène publique» (1877) die wichtigste. Sie wird mehrmals aufgelegt und dient als Anleitung für gesundheitspolitische Maßnahmen. Auch an öffentlichen Ehrungen mangelt es nicht. Noch zu Zeiten des II. Kaiserreichs wird er zum Ritter der Ehrenlegion ernannt (1870), später zu deren Kommandeur befördert (1872). Unter all diesen Voraussetzungen verwundert es nicht, dass er den Regimewechsel von 1870 schadlos übersteht. Die bürgerliche und wissenschaftliche Elite der III. Republik unterscheidet sich zunächst kaum von der des Kaiserreichs. Es ist derselbe Glaube an den unbegrenzten technischen und ökonomischen Fortschritt, der sie alle miteinander verbindet und der sich nirgendwo angemessener ausdrückt als in den großen Weltausstellungen, die in diesen Jahren in Paris stattfinden, zunächst 1855 und 1867, dann 1889 und 1900. Adrien Proust ist kein radikaler Republikaner und schon gar nicht antiklerikal gesinnt, er akzeptiert die Republik als das der Moderne angemessene politische System, zumal wenn es um die Verbreitung von Wissen geht. Seine katholische Herkunft verleugnet er deswegen nicht, er steht ihr jedoch mit wohlwollender Distanz gegenüber.

Es ist der Geist eines solchen Liberalismus, in dem er sich mit der Familie seiner Frau Jeanne Weil trifft. Auch sie leugnet ihre jüdische Herkunft nicht, praktiziert aber nicht mehr die mosaische Religion im engeren Sinn. Ursprünglich kommt die Familie Weil aus dem Württembergischen, Ende des 18. Jahrhunderts ziehen sie nach Lothringen, schließlich lassen sie sich in Paris nieder. Sicherlich ist es die Revolution oder genauer eine ihrer Errungenschaften, nämlich die Emanzipation der Juden, die die Familie Weil wie so viele andere Juden nach Frankreich zieht. Die «Grande Nation» ist das erste europäische Land, das sie als gleichberechtigte Bürger anerkennt. Jeannes Vater Nathé (1814–96) steigt als Börsenmakler («agent de change») in das jüdische Finanzbürgertum auf, dessen wichtigste Repräsentanten schon unter Napoleon I. und König Louis-Philippe in den Adelsstand erhoben werden. Aus diesen Kreisen gehen auch namhafte Politiker hervor wie zum Beispiel der Republikaner Adolphe Crémieux, schon 1848 Minister, der 1870 als Trauzeuge bei der Eheschließung zwischen Adrien Proust und Jeanne Weil auftritt.

Auch die Vorfahren Jeanne Weils mütterlicherseits, die Familie Berncastel, ist aus Deutschland zugezogen und gehört gleichfalls dem Finanzbürgertum an. Sie alle haben sich die französische Tradition zu eigen gemacht und identifizieren sich mit dem Geist der Aufklärung. Als überzeugte Anhänger des gesellschaftlichen Fortschritts sympathisieren sie zum Teil mit Frühsozialisten der saintsimonistischen Schule. Aus ihren Kreisen stammen die Ideen zum Suez- und zum Panamakanal. Napoleon III. macht sie zu seinen...

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