Wie ein Blitz zuckte der Schmerz in meinen Rücken. Ich hatte den Fehler gemacht, mich zu bewegen, und doch hatte ich gar keine andere Wahl. Ich lag bäuchlings auf dem Sofa meiner Wohnung in Magdeburg und jede Bewegung hatte Höllenschmerzen zur Folge, also war ich bemüht, so regungslos wie möglich zu bleiben. Doch schon nach kurzer Zeit kam der Schmerz auf andere Weise, langsam schlich er sich an, wurde bald stärker, so stark, dass sich alles verkrampfte und ich mir eine neue Liegeposition suchen musste. Auch das war mit Schmerzen verbunden. Ein Teufelskreis.
Ich muss ein erbärmliches Bild abgegeben haben. Hätte mich damals jemand anderes außer meinen nächsten Angehörigen so gesehen, mein Image als cooler Handball-Punk wäre total im Eimer gewesen.
Ächzend, stöhnend, jammernd, seufzend, mit dem Schicksal hadernd vegetierte ich auf dem Sofa vor mich hin – wie Männer nun mal sind, wenn der Körper streikt und sie leiden. Jedenfalls wenn keine anderen Männer in der Nähe sind und sie sich nicht beweisen müssen, wie hart im Nehmen sie sind.
Handball war das Allerletzte, an das ich in dieser Situation dachte. Meine ganze Kraft und Konzentration brauchte ich, um mit minimalem Bewegungsradius maximalem Schmerz auszuweichen – in Superzeitlupe und Endlosschleife. Die größte sportliche Herausforderung im Tagesverlauf bestand darin, mich zwischendurch aufs Klo zu schleppen, verbunden mit der entscheidenden taktischen Frage: Wann ist der richtige Moment loszugehen, um – kurze Pausen eingerechnet – noch rechtzeitig in der hauseigenen Keramikabteilung anzukommen. In diesen Tagen verfluchte ich mich nicht nur einmal, dass ich mir als Heim unbedingt eine 300 Quadratmeter große Fabriketage auf dem Gelände des ehemaligen VEB-Kombinats „Gurken und Senf“ zum Loft hatte ausbauen müssen. Schon cool, vorübergehend aber schön blöd.
Ich hatte also alles andere als Handball im Kopf, als das Telefon klingelte. Ein folgenschwerer Anruf, wie sich herausstellen sollte. Der Name auf dem Display hätte mich eigentlich stutzig machen sollen: Alfred Gislason. Das war mein damaliger Trainer beim SC Magdeburg, heute Coach des THW Kiel, einer der erfolgreichsten Vereinstrainer der Welt. Es waren nur noch wenige Tage bis zum Auswärtsspiel am 1. Dezember 2001 in der Champions League bei Vardar Skopje, dem mazedonischen Spitzenklub. Wir spielten unsere erste Saison in der Königsklasse, nachdem wir ein paar Monate zuvor erstmals gesamtdeutscher Meister geworden waren. Champions League, die Besten der Besten in Europa, das war eine große Sache für den SCM und jede Partie ein Highlight.
Eigentlich unvorstellbar, dass Alfred in der Vorbereitungsphase Kontakt zu einem verletzten Spieler aufnahm. Normalerweise existierte dieser für ihn in der Situation gar nicht. Das klingt hart, aber er war dann total im Tunnel. Wer in seinen taktischen Überlegungen keine Rolle spielte, weil er nicht spielen konnte, war in dieser Phase Luft. Das galt auch für mich. Ich hatte mir eine sogenannte Bandscheibenvorwölbung im unteren Bereich der Lendenwirbelsäule zugezogen, wahrscheinlich im Training. Aber so genau weiß man das als Handballer meist gar nicht, wann welche Blessur zustande gekommen ist – auch so ein Phänomen unserer Sportart. Die Bandscheibe war ein Stück herausgerutscht und drückte auf den Nerv. Medizinisch gesehen keine allzu dramatische Sache, aber eben äußerst schmerzhaft, auch für Handballerverhältnisse. Um genau zu sein: Es war sogar unerträglich. Ich war seit einer Woche außer Gefecht und mir war von der medizinischen Abteilung meines Vereins absolute Schonung auferlegt worden. An Sport war nicht im Geringsten zu denken.
Einigermaßen verwundert nahm ich den Anruf entgegen.
„Kretzsche, ich brauche dich“, fiel Alfred mit seiner tiefen, rauen Stimme ohne Umschweife mit der Tür ins Haus. Hatte er überhaupt Hallo gesagt?
Zu seiner Entschuldigung sei an dieser Stelle angemerkt: Alfred ist Isländer. Und Isländer sagen, wie ich aus vier Dekaden Handball weiß, in denen ich die Freude hatte, diverse Vertreter dieses wunderbaren, aber auch wundersamen Völkchens aus nächster Nähe zu erleben, oft nur das Allernötigste.
„Hallo“, entgegnete ich irritiert, „ich kann mich kaum bewegen.“
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Eisernes, bleiernes Schweigen. Taktik, natürlich. Alfred ist ein Fuchs. Natürlich war ich derjenige, der schwach wurde.
„Was soll ich tun?“, fragte ich mit mulmigem Gefühl.
„Du musst mit nach Skopje fliegen.“
„Alfred!“, beschwor ich ihn. Was zum Teufel sollte das, hatte er mich nicht verstanden?
„Du sollst nur mitreisen, damit die denken, du spielst.“
Aha, das war es also, ein Psychospielchen, um den Gegner im Unklaren zu lassen, denn außer mir waren noch weitere Spieler unserer Mannschaft angeschlagen. Ich war fast erleichtert.
Aber wie sollte das gehen? Auch wenn ich gewollt hätte, ich konnte nicht. Ich versuchte ihm das begreiflich zu machen, aber je mehr ich redete, desto weniger kamen meine Worte an. Zumindest überzeugten sie ihn nicht – ihn, der nach eigenem Bekunden als Spieler sogar mit gebrochener Hand aufgelaufen war. Ich könne auf der Fahrt zum Flughafen ja im Bus auf dem Gang liegen, und das Flugticket bezahle er, aus eigener Tasche – first class! Damit ich es auf dem Liegesitz so bequem wie möglich hätte.
„Okay, aber die Ärzte …“, wandte ich schließlich noch ein. Mit denen sei alles geklärt, Hoffi habe grünes Licht gegeben.
Damit war das Gespräch beendet. Als Sportler entwickelt man ein Gefühl dafür, wann man verloren hat.
Unsere Teamärztin Dr. Birgit Hoffmeyer, von allen „Hoffi“ gerufen, konnte Alfreds Ausführungen nicht so ganz bestätigen, wie ich im anschließenden Telefonat mit ihr feststellen musste. Hätte ich mir gleich denken können. Alfred hatte ihr gesagt, dass ich den Trip nach Skopje auf mich nehmen wollte. Nun, das war nicht falsch. Aber ich hatte mich ja eben erst bereit erklärt, nachdem Alfred mich angerufen hatte! Das passte von der Chronologie her schon mal überhaupt nicht zusammen, und Hoffi schien von dem Plan auch nicht allzu begeistert. Aber jetzt hatte ich Alfred nun mal mein Okay gegeben, und dem Trainer gegenüber konnte man keinen Rückzieher machen. Es sei denn, man legte es darauf an, die kommenden Wochen auf der Reservebank zu schmoren oder sogar gleich den Verein zu wechseln. Zur damaligen Zeit war das jedenfalls so.
Ja, ich gebe ganz offen zu: Ich hatte einfach Schiss, den Respekt und die Wertschätzung des Trainers zu verlieren. Und Hoffi äußerte zwar Bedenken, aber sie versicherte mir auch, dass die Reise kein schwerwiegendes Risiko für die Bandscheibe darstellte und es mit dem Fliegen schon irgendwie gehen würde. Ich müsste halt nur die Schmerzen aushalten. Sie spritzte mir ein Gel in den Rücken, das die Vorwölbung wie eine Schutzhülle umschließen und ein weiteres Herausflutschen verhindern sollte. Das Ergebnis sah aus, als hätte ich einen halben Tennisball unter der Haut. Selbst für mich, der zu dieser Zeit einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Gehalts dafür verwendete, sich Tinte auf den Leib und Metall durch diverse Körperstellen stechen zu lassen, war das ein ziemlich krasser Anblick. Wie eine Figur aus einem Science-Fiction-Horror-Film.
Und so fand ich mich am Tag vor dem Spiel über den Wolken wieder – inmitten meiner gut gelaunten Mitspieler. In der Holzklasse. Hätte ich mir gleich denken können, dass es auf der Strecke Berlin – Ljubljana – Skopje keine first class gab! Alfred, du Schlitzohr, dachte ich, und konnte mir bei all den Schmerzen ein Grinsen nicht verkneifen. Ich war zu gutgläubig gewesen, und er hatte mich verdammt nochmal gekriegt.
Am Spieltag fuhr ich zusammen mit der Mannschaft in die Halle, und wie alle hatte ich den Trainingsanzug des SC Magdeburg an. Den Weg vom Bus in die Kabine versuchte ich vor den Blicken der Gegner so lässig wie möglich zu bewältigen, fühlte mich aber eher wie ein Pinguin, der über das antarktische Packeis watschelt. Egal, es galt den Gegner hinters Licht zu führen. Und das gefiel mir irgendwie.
Etwa eine Stunde vor Spielbeginn schickte Alfred die Mannschaft durch die Katakomben zum Aufwärmen in die Halle.
„Mach Dich mal mit warm“, raunte er mir zu.
Und da er vermutlich die Panik in meinem Blick erkannte, ergänzte er:
„Du musst nicht laufen. Stell Dich einfach an den Pfosten und mach ein paar leichte Dehnübungen.“
Eine Diskussion an diesem Ort, zu dieser Stunde wäre unpassend und auch zwecklos gewesen. Mit der Geschwindigkeit einer Wanderdüne bewegte ich mich über das Parkett der Halle und hoffte, dass mir das als Selbstbewusstsein und Coolness ausgelegt würde.
Die Bezeichnung „Halle“ traf es übrigens in diesem Fall nicht ganz. Es war eher die Hölle, und die Hölle war klein und eng und zum Bersten gefüllt. Die Sicht war eingeschränkt. Das lag zum einen daran, dass es damals kein Rauchverbot in den Hallen gab, zumindest nicht auf dem Balkan, und zum anderen an der Tatsache, dass die Nichtraucher in der kuscheligen Betonhölle in der absoluten Minderzahl waren. Und nicht zuletzt hielten einige der Fans es anscheinend für eine gute Idee, die Silvesterfeierlichkeiten einen Monat vorzuziehen und Bengalos abzufackeln und Böller zu zünden. Das war sehr faszinierend, aber auch sehr furchteinflößend.
Der Platz neben dem Pfosten erwies sich als gar nicht mal so übel, denn er versprach ein wenig Schutz. Aber weder die einschüchternde Atmosphäre noch mein schmerzender...