DAS IMMUNSYSTEM ALS AGGRESSOR
Der Krankheitsbeginn ist meist schleichend – bis plötzlich der erste Schub auftritt. Er ist so heftig, dass schnell klar ist: Jetzt wird nichts mehr so sein, wie es vorher war. Tag für Tag damit konfrontiert zu werden, dass offenbar eine fremde Macht die Kontrolle über den eigenen Körper übernommen hat – damit müssen hierzulande etwa acht Millionen Menschen fertig werden. Sie leiden an einer von etwa 80 Autoimmunerkrankungen. Diese bilden nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebserkrankungen inzwischen die dritthäufigste Erkrankungsgruppe und betreffen insgesamt mehr als fünf Prozent der Menschen in den westlichen Industrieländern. Experten rechnen allerdings damit, dass die Zahl der Autoimmunerkrankungen in den nächsten Jahren weiter ansteigt.
Die Beschwerden können ganz unterschiedlich sein, dennoch teilen die Betroffenen ein gemeinsames Schicksal: Sie leiden an einer chronischen, oftmals in Schüben verlaufenden und bislang unheilbaren Krankheit, die durch entzündliche Prozesse in Gang gehalten wird und die schwere Schäden an Organen und Geweben anrichten kann. Die durch die Krankheit hervorgerufenen Beeinträchtigungen können so massiv sein, dass sie den Alltag bestimmen, Einfluss auf den Lebensrhythmus, die Lebensgestaltung, Lebensqualität und die Lebenspläne nehmen.
DIE IMMUNABWEHR – BOLLWERK GEGEN ANGRIFFE VON AUSSEN
Im Zentrum des Geschehens einer Autoimmunerkrankung stehen weder Krankheitserreger noch Tumorzellen, die Angriffe auf körpereigenes Gewebe gehen vielmehr ausgerechnet vom Sicherheitsdienst des Körpers, vom Immunsystem, aus. Die Frage, was genau das Immunsystem aus dem Lot gebracht hat, dass es den eigenen Körper zum Feind erklärt, stellt die Mediziner vor große Rätsel. Wie lässt sich das Immunsystem wieder dahin bringen, den Körper nur vor den Einflüssen zu schützen, die ihn tatsächlich auch bedrohen?
Fakt ist: Unser Körper wird ständig mit fremden Einflüssen und Substanzen konfrontiert, die ihm großen Schaden zufügen können. Dennoch schafft es der Mensch seit Jahrtausenden, den überall von außen lauernden Anfeindungen durch Bakterien, Viren und Pilze, durch andere Keime und Giftstoffe zu trotzen. Das verdankt er dem Immunsystem.
Dieses hocheffiziente Netzwerk von Organen, Geweben und speziell ausgebildeten Zellen steht rund um die Uhr in Bereitschaft und läuft jederzeit zu Höchstform auf, wenn es gilt, durch eine fein austarierte Abwehrleistung den Körper gesund zu erhalten. Sogar Fehler im eigenen System spürt ein intaktes Immunsystem auf und beseitigt sie, zum Beispiel, wenn etwas bei der Teilung von Körperzellen schiefgeht (Mutation) und Zellen unkontrolliert wachsen.
Körpereigene Schutzbarrieren
Um effektiv zu sein, muss die Abwehr im ganzen Körper funktionieren. Zig Billionen Zellen stehen im Dienst des Immunsystems, die weit verzweigt und buchstäblich von Kopf bis Fuß agieren. Ein Teil von ihnen arbeitet ortsgebunden, andere zirkulieren im Blut oder in der Lymphe, um Krankheitserreger rechtzeitig abzufangen, bevor sie in die Körperzellen gelangen können. Weitere Mitwirkende sind die verschiedenen Immunorgane wie Knochenmark oder Thymus(drüse), die für die Bildung, Reifung und Spezialisierung bestimmter Immunzellen zuständig sind. Aber auch Lymphknoten, Milz oder Mandeln leisten einen wichtigen Beitrag zur Abwehrfunktion gegen Eindringlinge.
ÄUSSERE SCHUTZBARRIEREN
Die Haut ist der erste Außenposten unseres Immunsystems: Schon der bloße Versuch eines Erregers, die Hautschranke zu überwinden, wird von den Bakterien der Hautflora und von speziellen Proteinen (Defensine), die wie körpereigene Antibiotika wirken, erfolgreich abgeschmettert. Gleiches gilt für die »Schlupflöcher« Augen, Nase, Mund, Ohren oder Genitalien: Sie alle verfügen über wirkungsvolle Mechanismen, um Bakterien, Viren und Pilzen den Weg in das Körperinnere zu versperren.
Der Darm ist der Ort im Körper mit den meisten Abwehrspezialisten: Hier stehen mehr als 70 Prozent der körpereigenen Immunzellen bereit, um feindliche Mikroorganismen, allen voran Bakterien, zu bekämpfen, die versuchen, die Darmschleimhaut zu durchdringen. Mit anderen Worten: Mehr als zwei Drittel der Immunabwehr werden im Darm organisiert. Den Immunzellen im Darm steht eine Gruppe von etwa 100 Billionen Bakterien im Dickdarm zur Seite – die Darmflora oder Mikrobiota –, zu der mehr als 1 000 verschiedene Arten gehören und deren herausragende Bedeutung für unsere Gesundheit man erst in den letzten Jahren entdeckt hat. Von einer intakten Darmflora (siehe >) profitiert das mächtige Immunorgan in vielerlei Hinsicht. Denn die Darmflora ist nicht nur selbst eine Meisterin darin, Krankheitserreger an ihrer Vermehrung zu hindern, sondern sie bietet den Immunzellen auch ein sehr effektives Training: Indem sich die Abwehrzellen immer wieder mit den verschiedenen Bakterien auseinandersetzen müssen, werden sie permanent geschult und lernen, zwischen »gefährlich« und »ungefährlich« zu unterscheiden.
INNERE SCHUTZBARRIEREN
Wenn es feindlichen Eindringlingen doch einmal gelungen ist, die äußeren Schutzbarrieren zu überwinden, dann können die Erreger tatsächlich ins Körperinnere vordringen. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir krank werden. Denn jetzt kommt die innere Abwehr ins Spiel: Noch bevor sich die Eindringlinge in die Zellen einnisten können, treffen sie auf ein hocheffizientes Verteidigungssystem, das sich durch zwei verschieden arbeitende Abwehrmechanismen gewissermaßen doppelt absichert: durch einen unspezifischen und einen spezifischen Anteil. Beide sind aufs Engste miteinander verknüpft und ergänzen sich auf kongeniale Weise.
Das unspezifische Immunsystem
Seine Verteidigungsmechanismen werden schon wenige Minuten nach Kontakt mit dem Eindringling aktiv. Dabei richtet sich der Vernichtungskampf praktisch gegen alles, was als körperfremd identifiziert wird – egal, ob der Körper bereits Kontakt mit der Substanz hatte oder nicht (»unspezifisch«). Mit dieser Abwehr sind wir von Geburt an ausgestattet, deshalb sprechen die Wissenschaftler auch vom »angeborenen« Immunsystem. Da die Akteure der unspezifischen Abwehr so rasch vor Ort sind, um die körperfremden Substanzen zu beseitigen, verschaffen sie dem deutlich langsameren spezifischen Immunsystem genug Zeit, um seine Abwehrstrategie vorzubereiten und den Vernichtungskampf schließlich zielgerichtet zu beenden.
Ein Makrophage, auch Riesenfresszelle genannt, hat ein Bakterium gefressen und unschädlich gemacht.
AKTEURE DES UNSPEZIFISCHEN IMMUNSYSTEMS
Die Fresszellen (Phagozyten) töten die Erreger ab, indem sie diese in sich aufnehmen und in ihrem Zellinneren verdauen. Es gibt mehrere Gruppen, die sich an unterschiedlichen Orten aufhalten, etwa die kleinen Monozyten und Granulozyten in den Blutbahnen oder die aus den Monozyten gereiften Riesenfresszellen (Makrophagen), die sich vor allem im Gewebe und in der Lymphflüssigkeit tummeln. Makrophagen können Erreger nicht nur direkt durch Verschlingen beseitigen, sondern sie fungieren auch als antigenpräsentierende Zellen (sie zeigen den T-Zellen Bruchstücke von Antigenen auf ihrer Oberfläche, damit sie diese erkennen) und aktivieren so die T-Helferzellen (siehe >).
Die natürlichen Killerzellen (NK-Zellen) sind darauf spezialisiert, gegen virusinfizierte Zellen oder Tumorzellen vorzugehen.
Die Komplementfaktoren des Komplementsystems (= Teil des Immunsystems) sind spezielle Bluteiweiße, die Krankheitserreger, insbesondere Bakterien, zerstören können. Sie haben aber auch die Fähigkeit, die Eindringlinge so zu präparieren, dass diese dann von den Fresszellen und den Immunzellen des spezifischen Immunsystems erkannt und angegriffen werden können.
Die Protagonisten des unspezifischen Immunsystems sind nicht spezialisiert, verfügen über kein »Gedächtnis« und können sich nicht an die Umwelt anpassen. Allerdings sind sie in ihrem Kampf gegen alles Fremde treffsicherer als lange Zeit gedacht. Denn die Zellen der unspezifischen Abwehr erkennen (wie auch die der spezifischen Abwehr) ihre Feinde mithilfe von speziellen Rezeptoren. Ein solcher Rezeptor ist zum Beispiel der Toll-like-Rezeptor (TLR 4), der auf Bakteriengifte reagiert. Dockt ein Erreger an einen TLR an, löst dies eine Kette von Reaktionen aus, die auch die Verteidigungslinie der spezifischen Immunreaktion festlegt.
Das spezifische Immunsystem
Es wird auch »erworbenes« Immunsystem genannt, weil seine herausragenden Abwehrfähigkeiten auf einem stetigen Lernprozess beruhen, für den es jedoch erst verschiedene Reifungs- und Aktivierungsprozesse durchlaufen muss (erst ab der Pubertät ist es voll leistungsfähig). Dabei nutzt es jeden neuen Kontakt mit einem Erreger, um seine Abwehrmechanismen zu verfeinern – und diese passgenau (»spezifisch«) gegen ihn zu richten.
Diese Fähigkeit verdankt das spezifische Immunsystem seinem enormen Anpassungsvermögen (deshalb auch »adaptives« Immunsystem, von Adaption = Anpassung): Durch die direkte Auseinandersetzung mit dem Feind beschafft es sich genau die Informationen, die es zu dessen Eliminierung benötigt. Diese Informationen finden die spezialisierten Abwehrzellen, die B-Zellen, oft mithilfe von T-Helferzelle (siehe >), auf den Oberflächen der Erreger – das Körperfremde wird zum Antigen. Auf ein Antigen reagiert das Immunsystem immer mit der Bereitstellung von Antikörpern (siehe >). Deren Rezeptoren sind genau auf die eine Zielstruktur der fremden Oberfläche zugeschnitten....