2. Indische Lehrjahre
Die Familie derer von Magalhães war seit dem 13. Jahrhundert im rauen, gebirgigen Norden Portugals ansässig, im alten Gerichtsbezirk Terra da Nóbrega. Mit der Zeit breitete sie sich über alle Provinzen Nordportugals aus und verzweigte sich in mehrere Seitenlinien. Im Dickicht der vielfach verästelten Familienzweige hat sich bereits so mancher Genealoge verirrt. Dass im 15. und 16. Jahrhundert mindestens acht verschiedene Personen mit dem Namen Fernão de Magalhães lebten, macht es nicht einfacher. Kein Wunder also, dass im Streit um Magellans Herkunft schon literweise Tinte vergossen wurde. Dabei waren die Streiter nicht selten vom Wunsch beseelt, als erklärte Nachfahren oder Lokalpatrioten am Nimbus des berühmtesten Portugiesen vor Cristiano Ronaldo teilzuhaben.
Lange galt ein Testament, das 1504 in Belém bei Lissabon von einem Fernão de Magalhães aufgesetzt wurde, als ältestes Dokument aus dem Leben des späteren Seefahrers. Der Verfasser hatte von seinen Eltern einen kleinen Bauernhof in Sabrosa geerbt, einem Dorf in der Provinz Trás-os-Montes tief im Landesinnern, und nun vermachte er den Hof seiner Schwester Teresa und ihrem Gatten. Ein altes Anwesen in Sabrosa, das mit dem Hof identisch sein soll, ist bis heute eine Pilgerstätte für Magellan-Aficionados. Dabei hat der Verehrte den Ort wohl nie betreten, und er wurde dort auch nicht geboren.
Vor wenigen Jahren kam ein Schenkungsvertrag ans Licht, nachdem er fast ein halbes Jahrtausend unbeachtet im Archiv der Notare von Sevilla gelegen hatte. Diesen Vertrag ließ «der Komtur Fernando de Magallaes, Kapitän seiner Hoheiten», am 19. März 1519 zugunsten seiner Schwester aufsetzen, also wenige Monate vor dem Auslaufen seiner Armada. Er bezeichnete sich darin als ältesten Sohn der Eheleute Rodrigo de Magalhães und Alda de la Mesquita.
In dem Schenkungsvertrag steht, dass Rodrigo und seine Frau Alda Einwohner der Stadt Porto waren und in deren Umgebung, auf dem Gebiet des heutigen Vila Nova de Gaia, eine «Quinta» besaßen, das heißt ein Landgut, samt Weinbergen, Kastanienhainen und Äckern zum Getreideanbau. Als sie starben, vererbten sie die Quinta ihrem Erstgeborenen Fernão, der mit dem Erbe auch die Sorge für seine Schwester übernahm. Die Schwester war unverheiratet und hieß Ysabel. Offenbar nahm Magellan seine familiären Pflichten ernst. Bevor er auf unabsehbare Zeit in See stach, überschrieb er Ysabel im März 1519 das elterliche Landgut und wusste sie damit versorgt.
Abgesehen von den Namen der Verfasser, die identisch sind, widersprechen sich die Schenkung von 1519 und das Testament von 1504 in allen Punkten. Wer auch immer Letzteres aufgesetzt hat, kann kaum derselbe gewesen sein, der im September 1519 als Befehlshaber einer Armada des spanischen Königs zu den Molukken auslief. Im Übrigen hat sich Magellan stets als «Einwohner» von Porto bezeichnet, und ein gelehrter Autor des 16. Jahrhunderts, Fernão de Oliveira, nannte ihn sogar ausdrücklich einen «Eingeborenen» dieser alten Handelsstadt am Douro.
Die Familie von Magellans Mutter zählte wie die seines Vaters zu den namhaften Adelssippen Nordportugals, auch wenn ihr Stammbaum nicht gar so tief in die Vergangenheit reichte. Ihr kurioser Name «de la Mesquita», deutsch «von der Moschee», soll daher rühren, dass fünf Brüder, die 1437 unter Prinz Heinrich dem Seefahrer an der Belagerung der marokkanischen Festung Tanger teilnahmen, vorübergehend eine Moschee besetzten.
Anders als die räumliche war Magellans soziale Herkunft nie strittig: Er war ein «Fidalgo». Ein Fidalgo, spanisch Hidalgo, war Sohn eines adligen Vaters und hatte von diesem ein Wappen geerbt, in dem sich die Ehre der Familie widerspiegelte. Da es dem Fidalgo zumeist an Reichtümern mangelte, waren Wappenschild und Ehre sein wertvollster Besitz, der ihn von seinen bäuerlichen und bürgerlichen Nachbarn abhob. Um diesen ideellen Besitz zu wahren und zu mehren, stand dem Fidalgo im Wesentlichen ein Weg offen: Er musste Ritter werden. Diesen Weg beschritt auch Magellan.
Jeder hat beim Wort «Ritter» sofort ein Bild vor Augen: einen Krieger im eisernen Panzer, hoch zu Ross und bewaffnet mit Schwert, Schild und Lanze. Auf den ersten Blick scheint dieses Bild dem eines frühneuzeitlichen Seefahrers zu widersprechen, der Pferd gegen Schiff, Rüstung gegen Mantel und Mütze getauscht hat und die Lanze gegen Kanonen. Allenfalls der Säbel an seinem Gürtel erinnert noch an das mittelalterliche Rittertum. Und doch ist es sinnvoll, kurz bei dem Bild zu verweilen, weil es zu Magellans Zeit ein prägendes Rollenmodell darstellte, besonders für den Stand der Fidalgos, dem er angehörte. Zwar hatten Söldner und Schießpulver den Ritter auf dem Schlachtfeld längst in die Defensive gedrängt, doch als Idealbild spukte er nach wie vor in den Köpfen des Adels – überall in Europa, vor allem aber auf der Iberischen Halbinsel. Dieses Ideal war ein Relikt der Kreuzzugszeit. Es verschmolz die Tugenden eines Kriegers mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe zu einem speziellen Amalgam. Der Ritter wurde von klein auf zu rücksichtslosem Draufgängertum erzogen. Er lebte die Gewalt, Töten war sein Metier. Aber er besaß einen Ehrenkodex, und idealerweise kultivierte er auch seine sanfte Seite, die er im Kreis der Familie, im Umgang mit edlen Damen, als treuer Diener seines Herrn und der Mutter Kirche ausleben durfte.
Die «Reconquista» – wie die jahrhundertelangen Eroberungskriege gegen die muslimischen Reiche von al-Andalus genannt wurden – hatte portugiesischen und spanischen Rittern reichlich Gelegenheit geboten, legendären Vorbildern wie Roland oder «el Cid» nachzueifern. Ehrgeizigen Fidalgos eröffnete die Reconquista einen steilen Weg des sozialen Aufstiegs: lebensgefährlich, aber aussichtsreich. Wer sich auf dem Schlachtfeld hervortat und den Muslimen, den Feinden der Kirche, ihre Ländereien raubte, den ernannte der König zum Herrn über Land und Leute mitsamt dem Recht, beide an seine Nachkommen zu vererben. So funktionierte die Feudalgesellschaft, und sie funktionierte über Jahrhunderte tadellos, bis eines Tages alles Land vergeben war. Dieser Tag dämmerte am 2. Januar 1492, als der letzte Emir von Granada sein Reich den Katholischen Königen Isabella und Fernando übergab. Damit war die Reconquista Geschichte. In Portugal war sie sogar schon Mitte des 13. Jahrhunderts an ihr Ende gelangt, nachdem portugiesische Könige die Algarve – «al-Gharb» oder «den Westen» – unter ihre Herrschaft gebracht hatten. Für die Ritter hieß das: Sie mussten zu neuen Ufern aufbrechen. Viele taten das auch im Wortsinn, aber an ihrem althergebrachten Selbstbild hielten sie eisern fest.
Nirgends sonst in Europa erfreuten sich zu Beginn der Neuzeit Ritterromane, in denen die mittelalterliche Heldendichtung fortlebte, so großer Beliebtheit wie in Portugal und Spanien. Was für Jungen und Mädchen von heute Luke Skywalker und die Jedi-Ritter oder für ihre Großeltern Old Shatterhand und die Apachen sind, waren für portugiesische und kastilische Jünglinge um 1500 König Artus und die Tafelrunde. Der unangefochtene Star des Genres hieß indes «Amadís de Gaula». Sein Schöpfer, vermutlich ein Portugiese, hatte Versatzstücke aus dem keltischen Sagenzyklus zu einer fantastischen Coming-of-Age-Story verwoben – mit allem, was dazugehörte: «Zaubereien wie auch Raufereien, Schlachten, Duelle, Wunden, Brautwerbungen, Liebschaften, Stürme und unmöglicher Unsinn» (Miguel de Cervantes). Der Held des Buches wird als Baby in einer Arche dem Meer überantwortet, jedoch gerettet und als geheimnisumwittertes «Kind der See» zum Musterbild eines Ritters erzogen, der auf abenteuerlicher Fahrt seine Tugenden unter Beweis stellt. Der «Amadís de Gaula» erschien 1508 in gedruckter Version auf Spanisch und begeisterte, wie zahllose andere Werke ähnlicher Machart, Generationen von Lesern, bis Cervantes mit seinem «Don Quijote de la Mancha» eine geniale Parodie des Genres schuf und ihm zugleich den literarischen Grabstein setzte.
Magellan muss als Heranwachsender mit dieser ritterlichen Kultur und Literatur in Berührung gekommen sein. Wie auf viele seiner Standesgenossen wird sie auch auf ihn ihren Eindruck nicht verfehlt haben, und wer weiß, womöglich hat sie ja sogar in ihm den Wunsch genährt, eines Tages selbst auf Abenteuerfahrt zu gehen. Auch wenn er für diese Suche – wie sich zeigen wird – noch ganz andere, viel rationalere Gründe hatte.
Zweifellos hat der junge Magellan die standesgemäße Ausbildung eines Ritters genossen. Dazu gehörte nicht nur das Erlernen des Kriegshandwerks,...