Wenn dein Neugeborenes weint, dann ist das ein dringender Hilfeschrei – du kannst ihn körperlich spüren und leidest mit. Das Weinen weckt in uns den Fürsorgeinstinkt, wirkt alarmierend und beunruhigend. Wir möchten das Weinen am liebsten sofort stoppen. Warum ist das so? Und vor allem: Wie gelingt uns das?
Die Natur hat es clever eingerichtet: Der Schrei eines Menschenbabys ist wie der eines hilflosen Jungtieres ein echter Schutzmechanismus. Das Baby ruft, die Mutter reagiert sofort darauf. Nur woher weiß sie, was jetzt für Ruhe sorgt? Die Schreie eines Jungen müssen spezifisch und unterschiedlich sein, damit jede Mutter – egal ob Mensch oder Tier – richtig darauf eingehen kann. Im Tierreich ist es besonders wichtig, dass das Kleine sich schnell beruhigt, da es sonst mit seinem Rufen Fressfeinde anlockt. Logisch, oder?
Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass verschiedene Bedürfnisse der Kleinen auch zu unterschiedlichen Arten von Weinen führen. Tiermütter erkennen sie sehr schnell. Doch auch für uns Menschen ist das gar nicht so schwer, man muss nur wissen, worauf man lauschen muss und wodurch die Unterschiede im Weinen entstehen. Ich hätte mir dieses Wissen als frischgebackene Mama auch gewünscht – ganz besonders in den durchwachten Nächten – und ich frage mich, warum dieser geniale Erfahrungsschatz nicht in jedem Schwangerschaftskurs vermittelt wird. Dieses Kapitel soll Licht ins Dunkel bringen, damit du ab dem ersten Tag die Bedürfnisse deines Neugeborenen richtig interpretieren und befriedigen kannst und euch lange Schreiphasen erspart bleiben.
Lange Zeit galt Weinen als unspezifische Kommunikation. Untersuchungen beschäftigten sich zumeist mit der Zeitdauer, der Frequenz und Intensität des Schreiens. Jungen, verunsicherten Eltern riet man einfach, ihr Baby schrittweise kennenzulernen und sich einzuhören.
Heute wissen wir, dass kindliches Weinen eine hoch entwickelte Kommunikationsform ist, die auf den Bedürfnissen der Kleinsten basiert und die durchaus spezifisch ist. Laute, die ein Baby äußert, bevor (!) es ins Schreien verfällt, stehen für verschiedene Grundbedürfnisse. Du musst nur den Code knacken, um die Laute richtig zu identifizieren. Dadurch weißt du sofort, wie du korrekt auf die Signale deines Babys reagierst, damit es sich beruhigt, sich sicher und verstanden fühlen kann. Dann erlebst du dich als kompetenten Experten für die Versorgung deines Kindes. Ein gutes Gefühl für beide Seiten!
Zunächst hört sich für ungeschulte Ohren jedes Babyweinen irgendwie gleich oder ähnlich an. Über seine angeborenen Reflexe führen unbefriedigte Bedürfnisse wie Hunger oder Müdigkeit dein Kind automatisch und unbewusst zum Weinen. Wenn dein Baby beispielsweise hungrig wird, setzt sein Saugreflex ein. Kommt zu diesem Körperreflex ein Ton dazu, wird ein spezifischer Hungerlaut daraus. Und wir können lernen, ihn von anderen Bedürfnislauten zu unterscheiden.
Die Australierin Priscilla Dunstan hat den Zusammenhang zwischen spezifischen Babylauten und biologischen Grundbedürfnissen 1998 entdeckt – quasi aus der eigenen Not heraus. Priscillas Sohn Tomas gehörte zu den vielen Babys, die unter Koliken leiden und lange Perioden unerklärlichen Weinens durchleiden. Sie fühlte sich wie viele junge Mütter oft isoliert und gestresst, weil sie nicht wusste, was sein Weinen bedeutete und was er brauchte. Tage und Nächte verbrachte sie damit, ihn durchs Haus zu tragen und alles Mögliche auszuprobieren, was ihn beruhigen sollte. Am Ende war sie total erschöpft und mit den Nerven am Ende.
Schon als kleines Mädchen konnte Priscilla Dunstan Musikstücke nach einmaligem Hören auf ihrer Geige nachspielen. Ihrer besonderen Begabung eines fotografischen Gedächtnisses für Klänge und ihrem Wissen als ausgebildete Opernsängerin, wie Töne von unserem Körper erzeugt werden, kam nach der Geburt ihres Sohnes nun eine ganz neue Bedeutung zu. Priscilla Dunstan beobachtete, dass Tom einige Laute äußerte, bevor er anfing zu schreien. Sie führte Tagebuch darüber, was er „sagte“ und was sie tat, um ihn zu beruhigen. Auf diese Weise entdeckte sie ein Muster in seinem Weinen. Das Tagebuch mit den Notizen zu den verschiedenen Lauten und körperlichen Signalen bildete die Basis für die heute als „Dunstan classification of infant cries“ (Dunstan Klassifizierung von kindlichem Weinen) bekannte Methode.
Inzwischen hat sich bestätigt, dass es tatsächlich universelle Laute gibt, die dem Schreien vorausgehen. Diese Laute sind bei allen Babys weltweit gleich, denn sie alle sind von Natur aus mit den gleichen körperlichen Grundreflexen ausgestattet.
Jedes Neugeborene auf dieser Welt verwendet also unabhängig von seiner Muttersprache und seinem Kulturkreis die gleichen fünf Laute für seine allerersten und wichtigsten Grundbedürfnisse. Es äußert damit, ob es Hunger hat, müde ist, aufstoßen muss, Bauchweh hat oder sich unwohl fühlt, weil es ihm zum Beispiel zu warm oder kalt ist, es eine neue Windel braucht oder es woanders drückt.
Machen wir uns noch mal ganz bewusst: Das Weinen unseres Babys ist nicht unser Feind! Wir können ganz ruhig und gelassen bleiben. Versuchen wir das Weinen als Wegweiser oder Übersetzungshilfe für uns Eltern aufzufassen, und nicht als absichtsvolle Lärmbelästigung – die kommt erst im Teenageralter!
Fünf neue Wörter für die wichtigsten Bedürfnisse in dieser natürlichen Babysprache herauszuhören und zu unterscheiden, ist innerhalb kurzer Zeit machbar. Kein Vergleich zu schulischem Vokabelpauken. Mit den vielen täglichen Übungsmöglichkeiten, die der Babyalltag von früh bis spät ohnehin bietet, wirst du rasch erkennen, was dein Neugeborenes dir sagen will.
Die Dunstan-Babysprache zu kennen stärkt deine Familie, du fühlst dich dadurch sicherer in deiner Elternrolle und bist deinem Kind besonders nah. Habt ihr ein zufriedenes Baby, das weniger weint und auf dessen Bedürfnisse ihr rasch und richtig reagieren könnt, profitiert auch die Partnerschaft davon. Weniger Stress und mehr Schlaf für alle sind eine gute Basis für ein harmonisches Familienleben. Auch größere Geschwisterkinder können die Sprache und die Bedürfnisse des Babys auf diese Weise verstehen lernen.
TIPP: SO FÜHLST DU DICH IN DEIN UNRUHIGES BABY EIN
Bevor wir die fünf Laute unter die Lupe nehmen, hier eine Anleitung, wie du am besten vorgehst, wenn dein Baby unruhig und weinerlich wird und deine Hilfe braucht.
1. Halte inne bei dem, was du gerade tust! Schaue genau auf dein Kind und höre ihm bewusst zu!
2. Lausche schon in der Vor-Schrei-Phase! Dann sind die Laute noch isoliert und deutlicher wahrzunehmen. Im heftigen Weinen werden sie untergehen.
3. Höre auf den markanten Teil jedes Lautes!
4. Ändere gegebenenfalls die Haltung des Babys, wenn der Laut schwer zu erkennen ist!
5. Reagiere intuitiv über dein Bauchgefühl, wenn du einen Laut nicht erkennst! Versuche es später erneut. Dein Baby gibt dir genügend Chancen dazu.
Kommen wir nun zu den wichtigsten Lauten. Die Sound-Beispiele erleichtern dir das Einhören und das Erkennen der akustischen Unterschiede. Dazu einfach den QR-Code mit deinem Handy scannen (QR-Code-Reader können im App Store heruntergeladen werden und sind im Internet zum größten Teil gratis verfügbar).
Bitte denke daran, dass jedes Kind anders ist und sich individuell äußert. Wie der Ton herauskommt, hängt auch mit Lage und Körperhaltung des Babys zusammen. Am besten nimmst du es im wachen Zustand aufrecht auf den Arm, so kannst du den Laut am besten erfassen. Weint es schon heftig, kann eine Lageänderung beruhigend wirken, und du bekommst eine neue Chance zum Lauschen.
Die Laute werden undeutlicher und vermischen sich mit anderen Tönen, wenn das Baby von der Vor-Schrei-Phase ins Weinen kommt und danach sein Schreien eskaliert. Manche sehr sensiblen Kinder beginnen recht rasch, laut zu schreien. Bei ihnen ist es wichtig, schon auf die kleinsten Signale frühzeitig zu reagieren und eventuell einen Babymonitor zu nutzen, um die Vor-Schrei-Laute zu erwischen.
Wenn du dein Kind beruhigen möchtest, musst du selbst innerlich ruhig sein. Sonst schaukelt sich eure Aufregung gegenseitig hoch. Atme tief durch, lass die Schultern locker und halte dein Baby nah bei dir. Manchen Eltern hilft es, ihr Baby zu filmen, um sich in die Ausdrucksweise des eigenen Kindes besser einzuhören. Sie schauen sich die Aufnahmen in einer ruhigen und entspannten Minute an, um daraus zu lernen.
„Den Hungerschrei wirst du rasch erkennen“, das geben Hebammen jungen Müttern gern mit auf den Weg. Nur konnte bisher keiner so genau spezifizieren, wie sich dieser Hungerschrei nun anhört. Hier kommt des Rätsels...