Aufbrüche
Die astrologischen Definitionen sind schärfer als die psychologischen. Die Sterne bieten einen festeren Rahmen; sie greifen tiefer ein. Wie aber soll ich die typischen Züge des Widders, der zu den Feuerzeichen zählt, in Einklang bringen mit dem Bienenfleiß an abgelegten und halbvergessenen Texten, mit der Vorliebe für verstaubte Böden, dem Wiedergang auf alten Wechseln überhaupt? Der Widder neigt zur Überschreitung gesetzter Grenzen, zu Fahrten und Zügen in fremde Reiche, läßt Bahnen von Rauch und Feuer hinter sich. Nautisch gesprochen, bestätigen Minen seine Route, wenn er längst in anderen Gewässern, Meerengen und Archipelen sich bewegt. Sein Wesen bedarf der Widerstände, die ihn aufhalten. Das gilt physisch wie metaphysisch; sein Äon hat Tiefe und Spannweite. Moses und Alexander tragen sein Zeichen; eine Doppelreihe ruhender Widder führt auf das hunderttorige Theben zu. Mit diesen Worten nutzt Jünger, auf Selbststilisierung bedacht, im Vorwort der ersten Gesamtausgabe seiner Werke 1965 weit ausholend die astrologischen Gegebenheiten seiner Geburt zur Charakteristik der eigenen Person. Nicht minder spannungsvoll und nachwirkend bleiben indes die sein Leben und Werk prägenden, in Herkunft und Sozialisation liegenden Gegensätze. Ernst Jünger wird am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. An der ältesten Universität Deutschlands ist sein Vater Ernst Georg Jünger, nachdem er zuvor als Apothekergehilfe in Berlin und England gearbeitet und anschließend ein Studium der Pharmazie und Chemie aufgenommen hat, frischpromovierter Assistent des angesehenen Chemikers Victor Meyer. Beim Wechsel von Marburg nach München lernte der lebenslustige Student in einer Tanzwirtschaft Karoline Lampl (1873–1950) kennen. Da nur eine Konversion des protestantischen Niedersachsen die Ehe mit der katholischen «Lily», wie sie ihre Familie nennt, ermöglicht hätte, erfolgte kurzerhand ein Umzug an den Neckar. Der erste Sohn Ernst kommt unehelich zur Welt; 1897 wird die Ehe auf Helgoland formell geschlossen. Auf die rigide gegliederte Gesellschaft des Kaiserreichs musste die Verbindung ohnehin brüskierend wirken: Ernst Georg Jünger, Sohn eines Hannoveraner Gymnasiallehrers, entstammt dem Bildungsbürgertum, Lilys Vater ist Fabrikarbeiter, ihre Mutter Bäuerin. Das unbürgerliche, unkonventionelle Element, das Ernst Jüngers Herkunft umspielt und das er später sorgsam kultiviert, begleitet seine Kindheit und Jugend in mancherlei Form, ja, es treibt noch den Achtzigjährigen um. Neben der Unruhe des geborenen Widders plagte mich von Anfang an das Gefühl, der herrschenden Ordnung nicht konform zu sein […]. So hatte ich gegen einen immer heftigeren Strom zu schwimmen, meist mit Widerwillen, manchmal auch mit Lust […].
Von seinen Eltern hat Ernst Jünger keine zusammenhängende Darstellung gegeben. Eindrücklicher wirkte offenbar der Vater, er bot auch mehr Reibungspunkte. Der hauptsächlich Jüngers großer Liebhaberei, der Entomologie, gewidmete Essayband Subtile Jagden (1967) gibt am Anfang in den Rehburger Reminiszenzen einige verhaltene Hinweise. Der Vater sei noch ein guter Botaniker gewesen. Obwohl mich auf unseren Gängen oft die Sicherheit erstaunte, mit der er ein unscheinbares Kraut ansprach, war er weniger mit den Tugenden der Pflanzen als mit ihrem Chemismus vertraut. Zugleich übermannt ihn, den Naturwissenschaftler alter Schule, bisweilen ein leidenschaftlicher Enthusiasmus: Der Vater war seinem Sternzeichen, dem Widder nach, ein Mensch von schnellen, zugreifenden und meist erfolgreichen Bewegungen. Das galt auch für seine Neigungen, die ihn nach kurzer Inkubationszeit heftig ergriffen und ein Jahrzehnt lang Tag und Nacht beschäftigten, bis er sie wechselte. Sie schwanden dann nicht ganz aus seinem Leben, doch verlor er die Leidenschaft dafür. Der fähige Chemiker Ernst Georg Jünger, der das Kumarin aus dem Waldmeister isolierte, war, nach den Erinnerungen seines Sohnes, ein leicht zu begeisternder Mann, ein Opernliebhaber mit streng rationalistischer Einstellung, ein passionierter Schachspieler, der sich zuzeiten die Flucht in die Welt des Spieles und der Spiele, der reinen, absichtslosen Neigung gestattete. Das Eindringen irrationaler Elemente und Ideen war ihm unheimlich, Exzesse waren ihm zuwider wie das Unberechenbare überhaupt. Für den Sohn verkörperte er den Siegeszug der wissenschaftlichen Methode, das positivistische Zeitalter samt der darin irregehenden Wissenschaft. In diesem mathematischen, von der trockenen und angesäuerten Luft der Laboratorien erfüllten Raume schien es dem Werdenden ganz undenkbar, nicht in der Richtung des Fortschritts zu gehen. Die fast vollständige Unterstellung aller Formen des Lebens unter die Entscheidungen des Verstandes wurde gesteigert durch eine Art von aufrührerischer Sittlichkeit, die aus den Gebieten der Kunst, der Politik und der Gesellschaft, die sich ihrerseits drängten, sich zu einem möglichst unmittelbaren Echo der wissenschaftlichen Erkenntnis zu machen, auch auf die Schulen ausstrahlte. Hier, in der materialistischen Endzeit des Kaiserreichs, herrscht nichts als der öde Triumph entleerter Maße, nichts als die tödliche Herrschaft der Zahlen. Rückblickend erkennt der Sohn im Vater einen für die Zeit ganz untypischen nihilistischen Mangel an Ethos: Er gehört zu jenen Vätern, die bei Tisch auf den Unsinn der humanistischen Gymnasien schimpften und denen, wie jede Bindung, längst auch die einer tieferen erzieherischen Verpflichtung lästig geworden war.
Aufschlussreicher als dieses weithin über das Werk verteilte fragmentarische Porträt ist, wie der fast achtzigjährige Jünger in seinem stark autobiographischen Roman Die Zwille (1973) den Protagonisten Clamor den Tod seines Vaters, eines Müllerknechts, erleben und vor allem erinnern lässt – sofern man in der grellbunten Passage nicht den Vatermord herausliest, den die expressionistische Generation allzu gern begeht: Blutsturz, der Sack war zu schwer gewesen; als man das Kind rief, lag der bleiche Mann im blauen Kittel schon tot auf dem Kornboden. Das Gesicht war bestäubt, war weiß wie Porzellan; ein roter Faden zog sich aus dem Mundwinkel zur Brust. Das Bild kehrte wieder: der bleiche Mann auf dem Boden, der nach altem Holz und Mehlstaub roch. Er hätte nun weinen und klagen müssen – doch er konnte nicht in den Sinn bringen, daß es der Vater war. Dort lag ein anderer in seinen Kleidern, ein Schatten kaum von dem, den er geliebt hatte. Der Vater war fortgegangen; er war allein.
Weniger differenziert erlebt der Sohn die gute Mutter, die kleine Graue, die lautlos die Lippen bewegt. In München von den Englischen Fräulein erzogen, verkehrte die mit zeitgenössischer Literatur und den deutschen Klassikern bestens vertraute Lily (Sie kannte den Faust auswendig und konnte ein Gespräch mit Zitaten bestreiten […]) in den Kreisen der dort um die Jahrhundertwende so umtriebigen wie künstlerisch bedeutenden Boheme. Sie las damals Ibsen, hatte auch einmal mit dem Bruder zusammen den Dichter angesprochen, als er vor dem Café Luitpold in der Sonne saß. Revoltierende Frauen dieser Generation waren nach ihrem Herzen; gern las sie in späteren Jahren Lily Brauns «Memoiren einer Sozialistin» und die Tagebücher der Reventlow.
Ernst Jünger hat, nachdem zwei Geschwister im Säuglingsalter gestorben sind, noch eine Schwester, Johanna Hermine (1899–1984), und drei Brüder, Hans Otto (1905–1976), später Physiker, und Wolfgang (1908–1975), der Sachbuchautor wird. Das engste Verhältnis hat Ernst Jünger zu Friedrich Georg (1898–1977), der ebenfalls als namhafter Schriftsteller hervortritt; mit ihm steht Jünger zeit seines Lebens in intensivem Austausch.
Früh entdeckt Jünger seine lebenslange Leidenschaft, die liebevolle Beschäftigung mit den Insekten: Freilich gibt es Zeitvertreibe, die der Manie entgegenkommen; zu ihnen gehört, wie man seit altersher weiß, die Jagd als Muster unermüdlicher und ergötzlicher Nachstellung. Eine bescheidene Ausrüstung, bestehend aus Netz, Nadeln und einer Fangflasche, genügt vorerst. Damit beginnen alle Entomologen, und die meisten in früher Jugend – Subtile Jäger, die den Kerfen, den Entoma, nachstellen. «Subtile Jagden» lautet der Begriff für seine entomologischen Streifzüge, die er fortan betreibt, wann immer sich dazu die Möglichkeit ergibt, selbst in den beiden Weltkriegen. Jüngers Interesse geht über das rein Naturwissenschaftliche hinaus; ihm eröffnet sich ein unerschöpfliches Feld der Anschauung mit geradezu mythischen Dimensionen: Das Abenteuer, auf das wir uns einlassen, gleicht Aladins Einstieg in die Schatzhöhle. Das deutlich vernehmbare Staunen Jüngers über eine pantheistisch beseelte, geheimnisvolle Natur, das von den 1920er Jahren an die deskriptiven Parts seiner Bücher stets dem ‹Magischen Realismus› annähert, hat seinen Ursprung im Blick auf die Insektenwelt. Von manchen kannten wir schon den Namen, so von der Goldleiste, einem schwarzen Ritter, dessen Rüstung ein schmaler Amethystsaum einfaßte. Das Tier gefiel mir trotz seiner Bescheidenheit. Sein Schimmer war wie das Augenzwinkern eines großen Herrn, ein Blitz des Einverständnisses durch das...