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Von Ur nach Kanaan: Ein Volk auf Wanderschaft
Am Anfang war die Wanderschaft. Die ersten Menschen, Adam und Eva, werden aus Gan Eden, dem Paradies, verbannt. Der Begründer des Monotheismus, Abraham, folgt Gottes Befehl «Lech lecha» («Geh hinweg») und begibt sich auf die Wanderschaft von seiner Heimat Ur in Mesopotamien in das Land Kanaan, von dem sein Urenkel Josef wiederum nach Ägypten ziehen wird. Viele Generationen später führt Mose die Juden zurück in die ihnen zugewiesene Heimat, in jenes Land, das nunmehr den gleichen Namen erhalten wird wie das Volk selbst, den Namen Israel, den zweiten Namen von Abrahams Enkel Jakob.
So zumindest erzählt es uns die Hebräische Bibel, das wohl erfolgreichste und zweifellos einflussreichste Buch der Weltliteratur. Seine Erfolgsgeschichte ist umso erstaunlicher, als dieses Dokument nicht von einer der bedeutenden Nationen des Altertums wie den Ägyptern oder Assyrern, den Persern oder Babyloniern, den Griechen oder Römern verfasst wurde, sondern von einer kleinen Nation, die im Laufe ihrer Geschichte von all den genannten Völkern beherrscht wurde. Und doch war es gerade jene Hinterlassenschaft der Juden, die mit der Verbreitung des Christentums und des Islams zum Grundstock des literarischen und religiösen Erbes des Großteils der Menschheit wurde. Mit ihr sind auch die sagenhaften Ursprünge der Juden, von denen die Bibel berichtet, zu weltweitem Ruhm gelangt.
Zur Hebräischen Bibel, die später im Christentum als Altes Testament bezeichnet werden sollte, gehören neben Rechtsvorschriften, Weisheitsliteratur, Moralpredigten, Liebesliedern und mystischen Visionen auch Bücher, die uns über geschichtliche Vorgänge unterrichten wollen. Um historisch verifizierbare Berichte handelt es sich hierbei in der Regel nicht. Es war auch nicht die Absicht der Autoren, die historischen Vorgänge möglichst authentisch zu beschreiben. Sie stellten vielmehr ihre theologische Interpretation in den Mittelpunkt. Wann man begann, sich Legenden wie die erwähnten Wanderungen zu erzählen, ist ebenso wenig bekannt wie das genaue Datum ihrer Niederschrift. Der Kern der historischen Überlieferung geht zweifellos auf die Zeit der Königtümer Israel und Juda zurück, ihre endgültige Form aber erhielten die Bücher der Hebräischen Bibel erst in persischer und hellenistischer Zeit. Ihre Texte sind vor allem aufschlussreich für die Verfassung der israelitischen und judäischen Bevölkerung während dieser Jahrhunderte und müssen aus deren Kontext heraus verstanden werden. Erst seit dieser Zeit kann man von einer Geschichte der Juden sprechen. Wenn unser Bericht dennoch früher einsetzt, so hat dies einen einfachen Grund: Die Bücher der Bibel haben, ganz unabhängig von ihrem historischen Wahrheitsgehalt, in solch vielfältiger Weise das Bewusstsein der Juden in nachfolgenden Jahrhunderten und Jahrtausenden geprägt, dass unsere Kenntnis von ihnen für das Verständnis der jüdischen Geschichte von ganz entscheidender Bedeutung ist. Dieses Kapitel handelt daher größtenteils nicht von historisch gesicherten Ereignissen, sondern von Mythen und Legenden, die weit über das Judentum hinaus von Bedeutung sind.
Mythische Anfänge
Die Bibel beginnt nicht mit der Geschichte Israels, sondern mit den Ursprüngen der Menschheit. Adam und Eva sind nicht die ersten Juden, sondern die ersten Menschen. In der Urzeit gab es gemäß der biblischen Weltvorstellung keine Völker. Erst der frevelhafte Bau des Turms zu Babel, mit dessen Hilfe die Menschen zu Gott aufsteigen wollten und sich damit selbst maßlos überschätzten, führte zu jenem göttlichen Eingriff, der die bis dahin vereinte Menschheit in verschiedene Nationen mit unterschiedlichen Sprachen aufspaltete. Auch die Figur des Abram, der nach seiner Wandlung zu Abraham wurde, steht in Judentum, Christentum und Islam für den Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus und damit für die vielleicht größte Revolution der antiken Welt. Aus Abrahams Familie stammen auch jene Völker, die zu den Nachbarn und Feinden Israels wurden. Hier ist vor allem an seinen ältesten Sohn Ismael zu denken, der nach islamischer Tradition zusammen mit Abraham die Kaaba in Mekka gebaut haben soll.
Es mag die eigene Situation des oftmals zum Spielball zwischen den mächtigen Assyrern, Babyloniern und Ägyptern werdenden Israel widerspiegeln, wenn die Bibel in der Regel die jüngeren Söhne zu den legitimen Erben macht. Isaak folgte seinem älteren Halbbruder Ismael nach, Jakob seinem Zwilling Esau, Jakobs Sohn Josef war der Elftgeborene und David der jüngste von acht Brüdern. Der wichtigste Protagonist der gesamten biblischen Erzählung ist aber weder einer der oben genannten Helden noch Mose, der sein Volk aus der ägyptischen Knechtschaft befreite, noch einer der Propheten, die wie Jesaja und Jeremia zweifellos zu den mächtigsten Stimmen der Bibel gehören. Der Hauptakteur findet erstmals bei Jakobs Kampf mit einem Engel Gottes Erwähnung. Jakob wird in diesem Kampf zu Israel, dem «Gottesstreiter». Im Gegensatz zu dem Jesus des Neuen Testaments und zu dem Mohammed des Korans steht im Zentrum der biblischen Erzählungen ein Kollektiv, das Volk Israel. Dies unterscheidet die Bibel auch von den zeitgenössischen griechischen Sagen, die um einzelne Helden wie Aeneas oder Odysseus kreisen.
Jede Kultur hat ihre eigenen Geburtsmythen. Im Falle Israels sind diese komplex und vielfältig. Was wir heute «Religion» bzw. «Nation» nennen, ist hier von Anfang an untrennbar miteinander verbunden. Dies gilt für das Bewusstsein vieler Juden bis in die moderne Zeit: Die Bibel dient ihnen als autoritative Quelle für einen religiösen Lebenswandel wie als Geschichtsbuch ihrer vermeintlichen Vorfahren.
Eine Haggada aus Mantua (1560) zeigt unter Anspielung auf eine Text-passage aus Josua 24,2 («Eure Väter wohnten in früheren Zeiten jenseits des Flusses»), wie Abraham in einer Gondel einen Fluss überquert. Das Bild spielt damit auf die Ursprünge der Patriarchen in Mesopotamien und auf die lange Geschichte ihrer Wanderschaften an.
Bereits Abraham, der der jüdischen Tradition zufolge mit dem Götzendienst seines Vaters Terach brach und einen einzigen und unsichtbaren Gott verehrte, ist zugleich Adressat «nationaler» Verheißungen Gottes: Aus seinem Samen soll ein großes Volk hervorgehen, das von Gott selbst auserwählt ist. Diese Erwählung ist im späteren Selbstverständnis der Juden keine moralische Erhöhung über andere Völker, sondern bedeutet vor allem besondere Pflichten, die im religionsgesetzlichen Teil der Tora, der Fünf Bücher Mose, ausgeführt werden. Jener biblische Mose, dem Gott am Berg Sinai die Gesetzestafeln anvertraut, steht am Beginn eines neuen Religionsverständnisses und ist gleichzeitig die zentrale Figur, die die hebräischen Sklaven aus Ägypten herausführt und zu einem Volk formt.
Der Exodus, für den es – wie für alle in den Fünf Büchern Mose geschilderten historischen Ereignisse – keine außerbiblischen Belege gibt, ist als entscheidendes Erlebnis, gleichsam als «zweite Geburt» des Volkes Israel und der jüdischen Religion, in das kollektive Bewusstsein nachfolgender Generationen eingegangen. Bis heute gedenken die Juden in aller Welt an verschiedenen Festtagen jener Wanderung. Am Pessachfest essen sie ungesäuertes Brot, als ob sie sich auf der Wüstenwanderung befänden, und am Sukkotfest bauen sie Laubhütten, die daran erinnern sollen, dass die Israeliten während ihrer Wanderung in Zelten lagerten. Am eindrucksvollsten ist wohl die jedes Jahr am Sederabend des Pessachfestes ausgesprochene Beteuerung, jeder Jude müsse das Ereignis der Befreiung aus der Knechtschaft so auf sein eigenes Dasein beziehen, dass er selbst das Bewusstsein habe, aus Ägypten in das Land Israel gekommen zu sein. So wurde im Laufe der Jahrhunderte die biblische Geschichte zu einem Paradigma für das historische Empfinden nachfolgender Generationen.
Der jüdische Jahreszyklus trägt zu diesem an den biblischen Ereignissen orientierten Geschichtsverständnis bei. Jedes Frühjahr erleben die Juden den Auszug aus Ägypten von neuem, wenn sie die Geschichte des Exodus verlesen. Jeden Winter zünden sie die Chanukkalichter an, die sie an die Wiedereinweihung des Tempels von Jerusalem im zweiten Jahrhundert v. d. Z. erinnern. Jedes Jahr gedenken sie der Errettung der persischen Juden, wie sie im Buch Esther beschrieben ist. Wichtiger noch sind die im wöchentlichen Rhythmus in der Synagoge vorgetragenen Abschnitte der Tora. Da jedes Jahr im gleichen Zeitraum in allen Synagogen der Welt dieselbe Passage vorgetragen wird, erleben sozusagen alle Juden im Herbst die Erschaffung der Welt, im Winter die Biographien der Patriarchen, im Frühjahr die Wanderung durch die Wüste.
Im traditionellen jüdischen Geschichtsverständnis sind sämtliche Ereignisse der nachbiblischen Jahrhunderte von zweitrangiger Bedeutung. Das nächste wichtigste Ereignis ist in die Zukunft verlagert: das Kommen des Messias, der seit Jahrhunderten sehnsüchtig erwartet wird und eine Epoche des friedvollen...