Erste Vorlesung: Deskriptive Diagnostik
In diesem Teil der Diagnostik werde ich mich mit den Phänomenen beschäftigen, die uns bei einem ersten Zusammentreffen mit Menschen, die unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, auffallen. Ein charakteristisches Zeichen ist es, dass wir uns in einer solchen Sitzung zumeist verwirrt fühlen. Die PatientInnen konfrontieren uns im Allgemeinen mit einer Fülle unterschiedlicher Symptome, die letztlich zu keiner der bekannten Neurosenstrukturen passen.
Die Angst
Prominent ist das Phänomen der Angst, die bei Borderline-PatientInnen jedoch keine Signalangst i. S. Freuds13 ist, sondern die Qualität einer oft diffusen, schon durch geringfügige Irritationen auslösbaren Vernichtungsangst hat.
Eine Patientin berichtete in höchster Panik, am Vormittag habe jemand an ihrer Wohnung geläutet. Sie erwarte jedoch keine Besucher. Wer könne es denn sein, der zu ihr wolle? Diese Situation hatte bei ihr zu einer extremen Angst geführt, bei der sie das Gefühl hatte, der Boden würde ihr unter den Füssen weggezogen. Mein Hinweis, dass es doch eine völlig harmlose Situation sein könne, z. B. der Postbeamte ihr etwas bringen wolle oder eine Mitbewohnerin ihr etwas sagen müsse, führte zu einer weitgehenden Beruhigung. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Konfrontation mit der Realität bei Borderline-PatientInnen eine beruhigende, ihr Funktionsniveau verbessernde Wirkung hat.
Vielfältige »neurotische« Zeichen
Neben der Angst zeigen sich vielfältige Symptome, die wir auch bei neurotischen Störungen kennen. Sie sind bei Borderline-PatientInnen charakteristischerweise aber sehr stark ausgeprägt und haben Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Die Vielfalt und das Schillernde dieses Erscheinungsbildes löst bei uns oft das Gefühl großer Irritation aus. Meinen wir etwa an einer Stelle des Gesprächs, wir hätten es mit einer schweren phobischen Störung zu tun, so kann sich dieser Eindruck schon kurze Zeit später total verändern und wir vermuten, es liege eine depressive Neurose vor. Dann tauchen plötzlich auch Zwangssymptome, multiple Konversionssymptome, dissoziative Phänomene sowie Hinweise auf hypochondrische und paranoide Züge auf – und lassen uns in ziemlicher Verwirrung zurück.
Beziehungsstörungen
Auch im Beziehungsbereich präsentieren uns Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung vielfältige Störungen.
Wenn sie uns von anderen Menschen berichten, so ist bezeichnend für sie, dass die Schilderungen dieser Personen häufig blass und wenig aussagekräftig bleiben. Den PatientInnen ist am wichtigsten, uns zu berichten, in welcher Hinsicht diese Menschen für sie von Bedeutung sind oder inwiefern sie ihnen schaden. Ihre Schilderungen von Bezugspersonen sind, wie vieles in ihrem Leben, vor allem auf sie selbst ausgerichtet ( 3. Vorlesung, Ausführungen zu den narzisstischen Störungsanteilen).
Typisch sind beispielsweise Charakterisierungen von Freundinnen und Freunden, aber auch von Familienangehörigen, diese hätten »viel Geld« und besäßen »ein tolles Auto« – Dinge, durch welche die Betreffenden ihren eigenen Status erhöhen. Umgekehrt erfahren wir, die andere Person sei ein »Arschloch«, ohne dass aber aus den Schilderungen eine individuelle Persönlichkeit sichtbar würde.
Die Beziehungen von Menschen mit einer Borderline-Störung erweisen sich häufig als brüchig und instabil (im Sinne der Psychoanalyse verfügen sie über keine stabilen Objektbeziehungen) und zeichnen sich durch z. T. schwerwiegende Bindungsstörungen aus14
Außerdem sind die Beziehungen dieser Menschen überladen mit unrealistischen Erwartungen an die Bezugspersonen, so dass die Enttäuschungen von vorneherein einprogrammiert sind. Dabei kann es zu schnellen Wechseln zwischen Idealisierungen und Entwertungen kommen. Diese Beziehungsdynamik erleben wir nicht nur im privaten und beruflichen Umfeld von Borderline-PatientInnen, sondern auch in ihrem Umgang mit uns Professionellen.
Ein Patient sagte mir: »Für mich sind Sie mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und Freund. Ich liebe Sie wirklich. Wie ein Sohn und habe sehr großen Respekt vor Ihnen«. Diese Idealisierung verkehrte sich jedoch kurze Zeit später in eine massive Entwertung, als er sich von mir nicht ernst genommen fühlte. Voller Ironie schleuderte er mir nun entgegen: »Ich danke Ihnen, dass Sie mich im Stich lassen mit einem Haufen von Problemen!«
Probleme haben Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auch in ihrer Fähigkeit der Nähe-Distanz-Regulierung. Für sie gibt es nur »Freunde« oder »Feinde« (wobei sie den Mechanismus der Spaltung einsetzen, 2. Vorlesung). Einer als »Freund« erlebten Person gegenüber zeigen sie eine mitunter extreme Kritiklosigkeit und suchen Beziehungen von geradezu symbiotischer Qualität zu ihnen. Menschen, die sie der Kategorie der »Feinde« zuordnen, sind für sie hingegen abgrundtief schlecht und werden zum Ziel massiver Aggression. Auch diese im sozialen Leben der Menschen mit einer Borderline-Störung sich zeigende Dynamik erleben wir in der Therapie und Begleitung solcher PatientInnen.
Eine Situation dieser Art war die folgende: Ein Patient beklagte sich über viele Stunden hin, dass ich ihm mit meiner Art der Therapie nicht gerecht würde. Ich solle ihm Geld für seinen Lebensunterhalt beschaffen; voller Aggression fügte er jeweils in entwertender Weise hinzu, mein »Psycho-Bla-Bla« nütze ihm überhaupt nichts. Bei der Verabschiedung am Ende einer solchen Sitzung sagte er, alles wäre gut für ihn, wenn ich 24 Stunden mit ihm zusammen sein könne. Anhand dieser Situation war es möglich, ihn auf die Diskrepanz zwischen diesen beiden Haltungen, die extreme Zurückweisung und Abgrenzung von mir einerseits und den Wunsch nach einer symbiotischen Verschmelzung andererseits, hinzuweisen und ihm daran seine Probleme in der Nähe-Distanz-Regulierung aufzuzeigen.
In Bezug auf die sexuellen Beziehungen von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung finden wir bei ihnen entweder ausgeprägte Hemmungen oder einen chaotischen Beziehungsstil mit schnell wechselnden SexualpartnerInnen. Häufig versuchen sie über die Sexualität ihre immensen Wünsche nach Zuwendung und Akzeptanz zu befriedigen ( 2. Vorlesung, entwicklungspsychologische Aspekte).
Häufige Symptome bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen
• Angst von der Qualität einer Vernichtungsangst,
• vielfältige »neurotische« Zeichen: Depression, Zwangs- und Konversionssymptome, dissoziative Phänomene, hypochondrische und paranoide Züge,
• Beziehungsstörungen: instabile Objektbeziehungen, Bindungsstörungen, Beziehungen überladen mit unrealistischen Erwartungen, Idealisierung und Entwertung der Bezugspersonen, Probleme in der Nähe-Distanz-Regulierung.
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung und die übrigen Persönlichkeitsstörungen
Immer wieder taucht in Diskussionen die Frage auf, in welchem Verhältnis die Borderline-Persönlichkeitsstörung zu den anderen Persönlichkeitsstörungen, die in der ICD und im DSM genannt werden, steht. Hier ist zu berücksichtigen, worauf ich im Vorwort hingewiesen habe: die ICD und das DSM verwenden zwar zum Teil die gleiche Terminologie wie die psychoanalytischen Theorien. Den Diagnosesystemen liegen jedoch statische Persönlichkeitskonzepte zugrunde, die für jede Störung charakteristische Symptome nennen. Die dynamische Komponente wird aber bewusst nicht berücksichtigt.
Unter einem psychoanalytischen Aspekt könnte man sagen, die Borderline-Persönlichkeitsstörung stelle das Zentrum der Persönlichkeitsstörungen dar und die anderen in der ICD und im DSM genannten Persönlichkeitsstörungen seien letztlich verschiedene Spielarten der Borderline-Persönlichkeit. Eine solche Ausweitung der Diagnose »Borderline« mag auf der einen Seite fragwürdig erscheinen, weil dabei die Gefahr bestehen könnte, das Spezifische der verschiedenen Persönlichkeitsstörungen aus den Augen zu verlieren. Auf der anderen Seite erscheint es mir aber unter psychoanalytischem Aspekt,...