PROLOG
Was macht eine Frau, die im 16. Jahrhundert den Thron Englands bestieg, so herausragend, dass man sie auch noch 450 Jahre später auf Anhieb wiedererkennt? Sind es ihre starren, mehr fiktiven als realen Gesichtszüge, mit denen sie uns aus ihrer ausladenden Halskrause heraus anblickt, dem modischen Nonplusultra ihrer Epoche? Oder ist es der legendäre Ruf der jungfräulichen Königin, der ihr anhaftet wie eine die Zeiten überdauernde Auszeichnung, ihr Abwehrschild gegen eine von Männern dominierte Welt? Was sagt uns Elisabeth I. über England, das wir bisher noch nicht wussten oder übersehen haben? Ist die Insel, die sich heute aus dem Konstrukt der Europäischen Union zu befreien anschickt, in der Ära dieser Frau und ihrer Herrschaft gar schon vorgeprägt? Das würde Churchills Wort bestätigen: «Je weiter wir zurückschauen, desto weiter können wir nach vorne blicken.»
Die Versuchung ist in der Tat groß, den Firnis des Heute einfach hinwegzukratzen und darunter das Muster einer alten Identität freizulegen. Ganz so einfach kann es sich eine Biographie der großen Tudor-Königin allerdings nicht machen. Die Renaissance ist nicht unsere Zeit, der Humanismus nicht die Hochblüte der Menschenrechte. Im Gegenteil. Während die Bildung zu Elisabeths Zeit aus der Antike kräftige Anstöße erhält, die englische Literatur mit Shakespeare ihrem klassischen Höhepunkt zueilt, wohnt der Zeitgenosse grausamsten Hinrichtungen bei oder blutrünstigen Freizeitvergnügen wie der Stier- und Bärenhatz. Ein Bildersturm ist über das Land gefegt, ein konfessioneller Aufruhr, der die Klöster enteignete, entweihte, ihre Kirchen zerstörte und blindlings das Glaubenserbe des Mittelalters zertrat. Das Hohe und das Niedere sind, wie immer in der Geschichte, auch in dieser Zeit koexistent. Tiefe Gräben trennen die Bevölkerung, in deren Mitte sich zum Ende der elisabethanischen Ära ein mittelloser Bodensatz bildet, der Vagabundentum fördert, keine Zivilisation.
Aber in den 44 Jahren ihrer Herrschaft lebt die Königin ihrem Land dennoch einen Stil, man kann fast sagen: eine Façon vor, die sich der englischen DNA tief eingeprägt und einen Charakter angelegt hat, der bis heute anzutreffen ist. Dazu gehört die Fähigkeit, mit widersprüchlichen Tendenzen Umgang zu pflegen, sie auszuhalten, kurz: die Fähigkeit zum Kompromiss. Warum verfiel die Insel unter Elisabeth nicht den Glaubenskriegen, die zur gleichen Zeit Frankreich zerrissen und in anderen Teilen des Kontinents Religionskrisen auslösten, die sich schließlich im Dreißigjährigen Krieg eruptiv entladen sollten – an dem England so gut wie nicht beteiligt war? Immerhin hatte Elisabeths Vater über Nacht eine 1000-jährige Frömmigkeitskultur zum Einsturz gebracht und England vom Papsttum gelöst. Und immerhin hatte Elisabeths unmittelbare Vorgängerin, ihre ältere Halbschwester Mary, eine fanatische Rekatholisierung geprobt und in den fünf Jahren ihrer Thronzeit an die 300 protestantische Häretiker dem Flammentod übergeben. Konfliktstoff genug, um eine Versöhnung der Gesellschaft unmöglich zu machen. Elisabeths Antwort: der Anglikanismus.
Denn die anglikanische Kirche ist im Eigentlichen ihr Verdienst, nicht das ihres Vaters. Heinrich VIII. hat gespalten, seine Tochter das Potenzial zur Unversöhnlichkeit bekämpft und gebändigt. Vor die Alternative des römisch-katholischen oder des protestantischen Wegs gestellt, wählte die Königin die Mitte, die «via media», eine Mischform aus beiden. Kritiker in den verfeindeten Lagern nannten das abfällig ein «mingle-mangle», ein Mischmasch, das niemanden so richtig befriedige. Die Königin jedoch widersetzte sich ebenso stark dem Fanatismus, der sie durch die katholische Maria Stuart zu ersetzen suchte, wie den calvinistischen Ideologen, die England einer puritanischen Freudlosigkeit ausliefern wollten, was erst fünfzig Jahre nach Elisabeth unter dem Usurpator Oliver Cromwell gelang. Der Pragmatismus, den Elisabeth vertrat, setzte sie zeitweilig sogar dem Verdacht religiöser Indifferenz aus. «Es gibt nur einen Christus, Jesus, nur einen Glauben. Alles andere ist ein Disput über Trivialitäten.» Was für eine Theologin! Wenn es so etwas wie religiöse Realpolitik gibt, dann war es dieser Satz, der dem latenten Glaubenskrieg, dem protestantisch-katholischen Sprengsatz in ihrem Land die Lunte austrat. In der Tugendlehre des Politischen gebührt dieser Frau ein herausragender Platz.
Ausgewogenheit suchte sie – wie in der Religion, so in der Außenpolitik. Die Sicherung der immer gefährdeten Nation, der Frieden, manchmal zum Preis fragwürdiger Kompromisse: Das waren Elisabeths Ziele, während die Heißsporne unter ihren Beratern ein stärkeres militärisches Engagement empfahlen, zugunsten bedrohter Protestanten auf dem europäischen Festland oder in Schottland. «England to the front!» war gleichsam das Credo der königlichen Räte. Nicht so Elisabeth. Hunderte von Zweifeln bedrängten ihre Brust, ob ein Einsatz nicht die Kräfte Englands überstieg, den Haushalt ruinieren und das Land geschwächt zurücklassen würde. «Perfides Albion!», müssen hugenottische Freunde in Frankreich und protestantische Verbündete in Holland wiederholt gedacht haben, wenn aus London die Antwort auf Bitten um Hilfe ein übers andere Mal widersprüchlich ausfiel. «Answer answerless», eine Antwort ohne Antwort, war die ewige Beschwerde auch bei Hof über die Königin, die Zaudernde, die Freunde und Berater schier verzweifeln ließ. Dabei war es im Grunde nichts anderes als ihre Sorge um das Familiensilber, um England, was sie zurückprallen ließ vor übereilten Entschlüssen. Ein Kampf gegen Maximalisten, überall.
Der Patriotismus, der sich in ihrer Ära zum ersten Mal herausbildete, als Bewusstsein eines homogenen Nationalgefühls, fand seine Nahrung in dieser Entschlossenheit der Monarchin, das ihr anvertraute Erbe zu bewahren. Dass England sich aus den kriegerischen Verwicklungen Kontinentaleuropas weitgehend heraushielt, aber Spanien schließlich die Stirn bot – das wurde der rote Faden der Nation im elisabethanischen Zeitalter, und es war das Verdienst von «Gloriana» – der Beiname der Königin in ihren späteren Jahren. Es erfüllte die Zeitgenossen letztlich mit großer Dankbarkeit, einem Grundgefühl, das auch Elisabeths Frömmigkeit ausmachte, wie in vielen ihrer gedruckt erschienenen Gebete überliefert.
Für den Imperialismus einer späteren Zeit dagegen war bei der Königin noch kein Platz. Das Empire lässt sich hier aus der Rückschau erst in Umrissen erkennen; noch ruht es, ein Embryo, im Schoß der Geschichte. Doch die maritime Auseinandersetzung mit Spanien eskalierte und ließ einen Machtwillen erkennen, der prägend werden sollte. Zuerst bei Elisabeths «sea dogs», den wagemutigen Draufgängern auf den Meeren der Welt. Der Mut, sich dem Unbekannten auszusetzen, in einer Nussschale wie der «Golden Hind», in der Francis Drake 1577–1580 die Welt umsegelte, war der Gipfel einer Kultur des Risikos. Zugleich markierte er den Moment, von dem ab Spaniens Seeherrschaft gebrochen war, und wurde zur Quelle des Stolzes für Elisabeths Untertanen.
Doch die Königin sah, anders als manche Visionäre in ihrem Umkreis, in den Triumphen auf See noch keinen Schritt zu außerenglischen Eroberungen. Der tastende Versuch einer Koloniegründung in der Neuen Welt, in Virginia, war eben nicht mehr als dies – ein tastender Versuch, in der Phantasie Walter Raleighs ausgeheckt und bald wegen widriger Umstände aufgegeben. Viel näher stand der Monarchin die sanktionierte Plünderung spanischen Reichtums, der mit der kolonialen «flota» aus den südamerikanischen Schatzkammern den Seeweg zurück nach Spanien suchte. Die Raubzüge der Piraten waren Teil einer englischen Nadelstich-Politik, mit deren Hilfe das Land allmählich in den Stand einer ernst zu nehmenden Macht vorrückte, ohne dass dies als Ziel eigens deklariert worden wäre.
Kernthese von Elisabeths berühmter Rede in Tilbury 1588, nach dem Sieg über die Armada, war die Schlussfolgerung, dass es nun niemand mehr würde wagen können, England anzugreifen oder gar zu besetzen. Das war kein Trompetenstoß der Parität mit Spanien, sondern das stolze Bekenntnis der Unangreifbarkeit, eine Philosophie der Defensive. Erst nach Elisabeth wurde daraus der Grundpfeiler einer über die Meere expandierenden Weltmacht, deren Umrisse sich unter der Tudor-Königin wohl abzuzeichnen begannen, aus der sie selbst aber keine Ideologie machen wollte. Der Zusammenhalt des Gemeinwesens war ihr wichtiger als der zweifelhafte Ruhm fremder Eroberungen. Außenpolitisch für England kämpfen hieß für die Königin meist, den Einsatz zu dosieren und ihn, wenn nötig, zu...