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Erziehen heißt Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht

Gruschka, Andreas - Erläuterungen; Erziehungsfragen - 19593 - 2., erw. und aktual. Auflage 2019

AutorAndreas Gruschka
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2019
ReiheReclams Universal-Bibliothek 
Seitenanzahl215 Seiten
ISBN9783159614380
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Eine Schulreform jagt die nächste. Wo aber bleibt bei all diesen Reformen die Pädagogik? Andreas Gruschka untersucht die nach dem PISA-Gewitter angestoßenen Schulreformen im Licht des pädagogischen Anspruchs: Er diagnostiziert eine zunehmend inhaltsleere Kompetenzorientierung sowie eine zum puren Selbstzweck werdende Didaktisierung.Dagegen stellt er einen Vorschlag, wie erziehender Unterricht seiner pädagogischen Verantwortung wieder gerecht werden kann - in Form eines 'Stufengangs des Verstehens' nämlich: Denn Verstehen ist nicht reine Datenreproduktion, sondern Ergebnis von eigenem problembewussten Nachdenken, angefacht durch Neugier. Diese zweite Auflage des erfolgreichen Buches wurde vollständig überarbeitet und um neue Teile ergänzt. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Leseprobe

[25]Der weiterhin geltende pädagogische Anspruch an Schule und Unterricht


In diesem Buch sollen die Kritik an einer misslingenden Reform mit drei Fallstudien zu den zentralen pädagogischen Begriffen der Bildung, der Didaktik und der Erziehung belegt und die pädagogische Alternative einer Erziehung als Verstehen lehren begründet werden. Die Studien beziehen sich auf die vielleicht wichtigsten Reformbaustellen der gegenwärtigen Vergangenheit. Aus der immanenten Kritik der Maßnahmen lässt sich nicht nur erschließen, was hier falsch ins Werk gesetzt worden ist. Es wird auf diese Weise auch möglich, mit dem empirischen Tatsachenblick (also nicht bloß mit dem Austausch von bloßen Schlagwörtern und Postulaten) aufzuweisen, wie auf die eigentlich anstehenden Herausforderungen reagiert werden müsste. Das Misslingen beruht wesentlich darauf, dass die Maßnahmen keine Rücksicht auf die »Eigenstruktur des Pädagogischen« (so Herwig Blankertz 1982) von Schule und Unterricht nehmen. Was diese ausmacht, sei einleitend grundsätzlich näher erläutert und in den Kontrast zu den gegenwärtig gängigen Beschreibungen gebracht. Im Anschluss an die Fallstudien, die den zweiten bzw. den Hauptteil des Bandes ausmachen werden, soll abschließend exemplarisch konkretisiert werden, wie eine Reform der Schule und des Unterrichts erfolgen könnte, die nicht mit der Eigenstruktur des Pädagogischen bricht, sondern ihr erfolgreich zu neuer Geltung verhilft.

Der Titel des Bandes weist die Richtung der Auflösung des Unbehagens über den gegenwärtigen Zustand von Schule und Unterricht. In ihm werden die drei [26]Zentralbegriffe der Pädagogik mit einer Behauptung zu den Bedingungen der Möglichkeit erfolgreicher Arbeit in Schulen zusammengefügt.

Mit der Schule als einer pädagogischen Einrichtung geht es zeitlich gesehen zunächst um die Erziehung der Kinder zu Schülern. Die sollen durch diese Erziehung zu einem Verhalten befähigt werden, das ihnen erlaubt, produktiv dem Unterricht zu folgen. Erziehung in der Schule hat, anders als die in der Herkunftsfamilie, sich allein auf die Aufgabe der Schularbeit zu beziehen. Diese lebt von der Fähigkeit des Lehrenden, das als allgemeine Bildung aufgebaute Weltwissen und Können mit geeigneten didaktischen Mitteln im Unterricht zu repräsentieren, es in Aufgaben für die Schüler zu übertragen und deren Bearbeitung und Verhandlung so anzuleiten, dass die Schüler die Inhalte sich auch tatsächlich aneignen können. Das erstrebte Können und Wissen lässt sich nur im Ausnahmefall mechanisch einüben. Lernen setzt vielfach das Verstehen des zu Lernenden voraus. Die Gegenstände des Unterrichts lassen sich nicht gänzlich auf das hin domestizieren, was mit ihnen operativ etwa in einer Klassenarbeit zu tun ist. Die Schüler stellen Fragen des Verstehens, solche zum Sinn, der Bedeutung und Funktion der Inhalte, wie umgekehrt die Inhalte gleichsam selbst Rückfragen aufwerfen nach dem Woher, Warum und Wozu. Damit überschreitet Unterricht den Vorgang einer reinen Instruktion, Unterricht stößt auf diese Weise vielmehr eine Bildungsbewegung an.

Erziehen heißt Verstehen lehren. Es verbindet als Formel alle drei Dimensionen. Mit ihr geht es nicht um die Arbeitsteilung in der pädagogischen Arbeit. Eine solche Arbeitsteilung, so lässt sich im schulischen Alltag [27]beobachten, hat viel eher zur Folge, dass die Probleme verschärft werden. Erziehung findet zum Beispiel als Exkurs zum Unterricht, ja zunehmend außerhalb von ihm in »Trainingsräumen für prosoziales Verhalten« statt. Mit ihr wird auf den Mangel an erfolgreicher Erziehung für die Arbeit an der im Unterricht jeweils verhandelten Sache in der Regel hilflos durch Appelle und Drohungen reagiert. Das didaktische Verhalten dient nicht selten dazu, die Schüler bei der Stange des Unterrichts zu halten. Allzu häufig werden sie durch Entlastung verzogen, anstatt durch Ansprüche an die eigene Person herausgefordert. Die Anwendung von didaktischen Hilfsmitteln wird zunehmend übertrieben. Sie helfen dabei, ein Stundenpensum zu absolvieren. Sie organisieren, »was dran ist«, damit man es anschließend »gehabt hat«, als wäre es tatsächlich »durchgenommen« worden. Was verhandelt wurde, muss dabei gar nicht geklärt werden. Der mögliche Bildungseffekt, ein Verstehen der Sache, wird zum privaten Glücksfall eines Einsichtigen, er leitet nicht unbedingt das Vermittlungshandeln an. Für die Kür des Verstehens scheint angesichts des Pflichtprogramms nur selten Platz zu sein. Und auch die Schüler werden nicht mehr durchweg als interessiert, motiviert und befähigt zum gründlicheren Bearbeiten und Verstehen der Inhalte des Unterrichts angesehen.

Eine solche, letztlich resignative Aufnahme der pädagogischen Aufgabenstellung des Unterrichts lässt sich in unseren heutigen Sekundarschulen vielerorts feststellen (vgl. Gruschka 2009, 2013). In Haupt- und Realschulen, vor allem dort, wo diese sich als »Restschulen« empfinden oder als solche öffentlich wahrgenommen werden, ist die Verunsicherung über die Möglichkeit der Erfüllung des [28]pädagogischen Auftrages am stärksten verbreitet. In Gymnasien ist er vergleichsweise weniger stark ausgeprägt: Lehrer fühlen hier stärker die Verpflichtung, zur Bildung beizutragen, und artikulieren diese Verpflichtung auch gegenüber den Schülern.

Zugleich zeigt die Analyse des realen Unterrichtsgeschehens, dass es für Resignation keine systematischen Gründe gibt. Sobald sich Erziehung sinnvoll und nachvollziehbar auf eine akzeptierte Aufgabe richtet, lässt sie sich als erfolgreiche beobachten. Sobald die Didaktik dazu dient, die Schüler in die Erkenntnis der Phänomene zu verwickeln, wird es sachlich und spannend im Unterricht. Die Vermittlung regelt sich gleichsam organisch als Bearbeitung der anfälligen Aufgaben zur Aufschließung und Beherrschung der Sache. Diese bewahrt und entfaltet ihre Faszinationskraft jenseits ihrer Didaktisierung. Sie stellt den Schülern die interessanten Fragen, fordert sie heraus, sich ins Verhältnis zu den Fragen, den Methoden und Erkenntnissen zu setzen, die ihnen bereits eigenen Mittel der Verstandestätigkeit und der produktiven Phantasie zu nutzen. Kurzum, es zeigt sich, dass Unterricht dann wirklich gut ist, wenn er Erziehung als »Lehren des Verstehens« organisiert.

Umso beunruhigender ist die Beobachtung, dass von diesen pädagogischen Dimensionen der Erziehung, der Didaktik (Lehren) und der Bildung in der gegenwärtigen Reform anscheinend bewusst überhaupt gar nicht die Rede ist – die Begriffe tauchen in den Modellierungen der psychologischen Lehr-Lernforschung nicht mehr auf (s. a. S. 36 f.) oder werden, wenn überhaupt, nur im missverständlichen und reduzierten Sinn genutzt. Erziehung etwa wird zum »Classroom Management« umgedeutet. Dies stellt eine nicht [29]unbeträchtliche Verführung für angehende Lehrer dar, wird ihnen doch so suggeriert, sie trügen den Maßanzug statt den Bluecolour in der Klasse, und würden statt der schmuddeligen Disziplinierungsarbeit den »Lernbegleiter« und Arrangeur »adaptiver Lernumgebungen« spielen. Die Behauptung und Forderung »Erziehen heißt Verstehen lehren!« setzt damit an einem pädagogischen Problembewusstsein an, das es zuerst einmal wiederzugewinnen gilt.

Erziehung wird sowohl von Praktikern als auch von den Konzeptentwicklern heute vor allem mit der Aufgabe der nachholenden Disziplinierung von Undisziplinierten in Zusammenhang gebracht. Entsprechend wird nach ihr paradoxerweise dort gerufen, wo Erziehung bereits gescheitert ist, weil Schüler nicht oder nicht richtig erzogen worden sind. Sie zielt nicht auf die Vermittlung des richtigen Verhaltens, sondern auf die kompensatorische Bekämpfung des bereits eingetretenen falschen abweichenden Verhaltens. Erziehung bekämpft in diesem Sinne den Verzogenen und der Erziehung sich Verweigernden. Wer scheinbar [30]umsichtiger und klüger, wie etwa der ehemalige Praktiker Bernhard Bueb, das »Lob der Disziplin« (Bueb 2006) anstimmt und damit präventiv abweichendes Verhalten gleichsam im Keim ersticken will, muss hoffen können, dass die sanktionsbewehrte Durchsetzung von Verhalten durch Zwang irgendwann diesen Zwang deshalb überflüssig macht, weil er erfolgreich verinnerlicht worden ist. Wir können aber als Pädagogen wissen, dass nur die Einsicht in eine innerlich akzeptierte und eigenständig vollzogene Notwendigkeit zu Tugend und Vernunft frei macht, während Erziehung, die als Zucht inszeniert wird, ausschließlich fragile Anpassung und Wohlverhalten aus Angst nach sich zieht.

Erziehung ist insofern immer Selbsterziehung. Sie bedarf aber nicht nur der Bereitschaft der Person, sich selbst in die Pflicht zu nehmen, sondern immer auch einer als sinnvoll aufgefassten Aufgabe, um derentwillen man sich anstrengen will. Erst im Durchgang durch solche Aufgaben lösen sich die Tugenden von ihrem bloßen Mittelcharakter (als Sekundärtugenden) und gewinnen ihren eigenen humanen Wert. Wer sie von diesem Wert abstrahiert, als das gute Benehmen einklagt, muss mit dem Widerstand der Kinder und Jugendlichen rechnen. Sie reagieren auf diese Weise auf die Moralisierung ihres schlechten Verhaltens. Respekt gegenüber dem Lehrer definiert sich aber über die gemeinsame Aufgabe von Schülern und Lehrern und geht von dieser über auf die ganze Person. Die Schule ist Bildungsanstalt im Medium dieser Form der Erziehung. Ohne die übergreifende Aufgabe der Bildung bleibt sie bloß ein Zuchthaus. Das bedeutet für die jede Erziehung notwendig begleitenden Konflikte der Durchsetzung und der [31]Übernahme der verlangten Verhaltensweisen, dass die Erziehung der Schüler immer transparent...

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