Die Welt, in die ich hineingeboren wurde
1936 war ein bedeutendes Jahr für meine Heimatstadt. Berlin hatte den Zuschlag für die Olympischen Spiele erhalten, und Hitler tat alles dazu, die Spiele zu einem Propagandaerfolg für das Nazi-Regime zu machen. Er wollte der Welt ein friedliches Deutschland zeigen und setzte dafür sogar zeitweise die Verfolgung der Juden und anderer Minderheiten aus. So gelang es ihm, eine unkritische Welt zum Narren zu halten.
Dies ist die Welt, in die ich hineingeboren wurde, am 18. Juli 1936 in einer Frauenklinik im Bezirk Wilmersdorf. Ich sorgte gleich für Probleme. Meine Eltern hatten Tickets für die Olympischen Spiele, aber meinetwegen verpasste meine Mutter die Eröffnungsfeier.
Das Haus, in dem ich aufwuchs, liegt am Rande von Berlin, aber noch innerhalb der Stadtgrenzen. Unsere Wohngegend war die Weinmeisterhöhe im Bezirk Spandau, etwa fünfzehn Kilometer vom Stadtzentrum. Wir wohnten westlich der Havel, in einer relativ dünn besiedelten und hügeligen Gegend. Mein Vater baute auf einem halben Hektar Land ein Haus mit großartigem Blick über den Fluss, der sich direkt unter uns zu einem See von einem Kilometer Durchmesser verbreiterte.
Mein Leben, zumindest in den ersten Jahren, verlief recht privilegiert. Das Haus hatte viele Zimmer und sogar einen gesonderten Flügel für meine Großmutter väterlicherseits. Wir hatten ein Kindermädchen und eine Köchin, die bei uns wohnten. Wir hatten auch eine Schneiderin, eine ältere Frau, die jedes Jahr mehrere Wochen bei uns wohnte. Sie erledigte alle Näharbeiten und fertigte neue Kleidungsstücke für die Familie an. Das war damals eher ungewöhnlich, aber mein Vater hatte in seiner Position ein gutes Einkommen, sodass wir uns diesen Luxus leisten konnten.
Mein Vater war Ingenieur für Flugzeugdesign und bei Junkers angestellt. Er hatte dort in den 1920er-Jahren angefangen und wurde später, als Junkers mit Lufthansa fusionierte, einer der führenden Ingenieure.
Die Lebensgeschichte meines Vaters ist so verworren wie die Zeiten, in denen er lebte. Er wurde 1894 als Werner Müller in Duisburg geboren, wuchs aber in Kauffung im heute polnischen Schlesien auf. Sein Vater wiederum war als Industrieller in der Stahl- bzw. Kohle-Produktion tätig. In den 20er-Jahren beging er Selbstmord. Über die möglichen Gründe kursierten zwei Versionen: eine, dass er dies aus Verzweiflung tat, als sein Unternehmen in einer finanziellen Krise scheiterte; die andere, dass eine Affäre mit seiner Haushälterin bekannt wurde. Welche Version stimmt, weiß ich nicht.
Mein Vater wurde vor dem Ersten Weltkrieg Kadett an der deutschen Marineschule. Im Rahmen seiner Ausbildung segelte er nach Mittelamerika, Kuba und Florida. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde er einem Kreuzer zugeteilt und war an mehreren Seegefechten beteiligt, einschließlich dem größten im Ersten Weltkrieg, der Skagerrak-Schlacht vor Jütland. Er sprach nicht viel über seine Kriegserlebnisse, aber ich erinnere mich, dass er Jütland erwähnte. Nach seinen Worten konnten sie die feindliche britische Flotte kaum sehen, als sie sich gegenseitig beschossen. »Manchmal war nur der Qualm der Schlote über dem Horizont zu erkennen.« Dadurch wurden die Schlacht und das Töten ziemlich »unpersönlich«.
Die deutsche Niederlage führte nach Kriegsende zum Versailler Vertrag, nach dem Deutschland nur sehr begrenzt Truppen unterhalten durfte. Die zugestandenen militärischen Einrichtungen reichten allenfalls zur Selbstverteidigung.
Viele Militärs und die Zivilbevölkerung wurden vom Kriegsausgang völlig überrascht, glaubten vielmehr bis kurz vor Schluss an einen Sieg. Die maßlose Enttäuschung machten sich dann die Nationalsozialisten zunutze: Es habe eine Verschwörung gegen Deutschland durch Kommunisten und Juden gegeben. Diese Legende konnte sich auch deshalb hartnäckig halten, weil auf deutschem Boden vergleichsweise wenige Kriegshandlungen stattgefunden hatten. Der Erste Weltkrieg fand zum größten Teil jenseits deutscher Grenzen statt.
Kaiser Wilhelm II. bei der Inspektion des Schiffs meines Vaters, der SMS Hertha, um 1913.
Das deutsche Volk hatte in einer Monarchie mit autoritärer Führung gelebt. Das erklärt die Dauerberieselung mit positiver Propaganda. Und dann lasen die Leute plötzlich in den Zeitungen, dass der Krieg vorbei war und ihr Land verloren hatte. Das führte zu einer kollektiven Bewusstseinsstörung.
Als mein Vater nach dem Krieg mit Tausenden anderen Offizieren heimkehrte, wusste er so wenig wie sie, was er tun sollte. Zum ersten Mal in seinem Leben engagierte er sich politisch. Es gab viele sogenannte »Freikorps«, das waren ehemalige Truppen, die sich auf eigene Faust zusammenschlossen. In Schlesien, wo mein Vater aufgewachsen war, waren die Polen an die Macht gekommen. Jetzt begannen die ehemaligen deutschen Truppen dort einen Partisanenkrieg und vertrieben die Polen aus der Region. Mein Vater nahm an diesen Expeditionen teil, ehe er dann an einer Universität Metallurgie studierte und einen Ingenieursabschluss erlangte.
Zu den Bedingungen des Versailler Vertrages gehörte – neben einem Verbot der Luftstreitkräfte – die generelle Einschränkung, Flugzeuge zu produzieren und damit in andere Länder zu fliegen. Um dies zu umgehen, flog Junkers seine Flugzeuge in das neutrale Schweden, wo die Maschinen schwedische Hoheitszeichen erhielten. Dann wurden sie zurück nach Deutschland geflogen und für den zivilen Luftverkehr innerhalb Deutschlands und in andere Länder eingesetzt.
In derselben Zeit, Mitte der 1920er-Jahre, lernte mein Vater meine Mutter kennen, die auch bei Junkers arbeitete. Sie war mehr oder weniger Sekretärin dort, denn Frauen wurden in jener Zeit noch nicht zu höheren Bildungsabschlüssen ermutigt.
Manchmal begleitete meine Mutter meinen Vater auf seinen Reisen nach Schweden. Sie erzählte mir einmal von einer Notlandung. Motorversagen war damals gar nicht so selten, und es war auch keine große Sache. Die Maschinen landeten einfach auf dem nächstgelegenen Feld. Für meine Eltern waren solche Reisen wie ein Ausflug – flieg nach Schweden, gönn dir ein gutes Essen, lass das Flugzeug anders anstreichen und flieg wieder zurück.
Meine Eltern am Tag ihrer Verlobung, Silvester 1926.
Meine Eltern waren beide leidenschaftliche Skiläufer, und sie verlobten sich an Silvester 1926, nachdem beide jeweils den zweiten Platz in einem Skirennen belegt hatten. Zu dem Zeitpunkt lebten sie in Dessau, wo sie 1928 heirateten.
Meine Mutter war in einer großen Familie in Hagen in Westfalen aufgewachsen. Ihr Vater war der Eigentümer der Heyda Werke, die Papierprodukte wie Notizbücher, Büromaterialien, Schulhefte und ähnliches produzierten. Sie hatte einen Bruder und drei Schwestern. Schon früh half sie in dem Familienunternehmen mit und war Zeit ihres Lebens eine sehr geschickte Geschäftsfrau. Trotzdem ging sie nach der zehnten Klasse von der Schule ab, um auf einer Frauenfachschule Kenntnisse in Hauswirtschaft und Büroführung zu erwerben.
Meine Eltern müssen bald nach ihrer Hochzeit nach Berlin gezogen sein. Der Umzug stand wohl im Zusammenhang mit der Fusion von Junkers und der Deutschen Aero-Lloyd AG, woraus die Fluglinie »Luft Hansa« (die spätere Lufthansa) entstand. Es gab von Anfang an große Ambitionen, nach Asien und Amerika zu fliegen, während Junkers weiterhin Flugzeuge entwarf und baute. Mein Vater hatte die Aufgabe, in anderen Ländern den Verkauf der Flugzeuge anzukurbeln. Einmal reiste er nach Brasilien, um die Ju 52 für Flüge in Südamerika auf den Markt zu bringen. Er flog mit dem Luftschiff Graf Zeppelin nach Rio de Janeiro, eine Reise, die etwa zehn Tage dauerte.
Inzwischen war Hitler – nach politisch und ökonomisch harten Zeiten – an die Macht gekommen. Die Atlantiküberquerung per Zeppelin war für das neue Nazi-Regime eine große Sache; jeden Tag gab es dazu Radioberichte in den Abendnachrichten. Meine Mutter verfolgte sie mit starkem Interesse und bangte um meinen Vater. Eines Tages kam kein Bericht im Radio. In Panik rief meine Mutter beim Sender an und erfuhr, dass der Zeppelin wegen heftiger Gegenwinde nicht vorangekommen war. Die Regierung hatte untersagt, dass dies im Radio berichtet wurde.
Das Luftschiff Graf Zeppelin bei der Ankunft in Rio de Janeiro, November 1935.
Die Ankunft des Graf Zeppelin war eine Sensation in Rio de Janeiro. Dann aber kam erst das Hauptereignis. Die Junkers Ju 52 sollte im Wettkampf gegen die amerikanische DC-3 von Rio nach Santiago de Chile fliegen. Die Ju 52 hob zuerst ab und schaffte es gerade noch eben über die Anden, als sich in einem aufkommenden Gewitter Wolken auftürmten. Die DC-3 flog dreißig Minuten später ab; sie konnte höher als die Ju 52 fliegen, aber zu dem Zeitpunkt hatte sich die Wolkendecke bereits so verdichtet, dass die Maschine umkehren musste. Die Luftfahrtgesellschaft in Brasilien entschied sich schließlich für das deutsche Modell, und mein Vater reiste triumphierend auf dem Passagierschiff Cap Arcona zurück. Er hatte als Ingenieur ganz...