1. Kapitel
Manchmal kommt es anders und zweitens als man denkt
Hamburg schmuddelt sich mal wieder durch den Februar. Es ist kalt, feucht und grau – das ist so typisch für diese Stadt. Man spürt regelrecht, wie dieser hanseatische Winter die Hosenbeine heraufkrabbelt und bleiben will. Er lässt sich selbst dann nur schwer verscheuchen, wenn man, wie ich gerade, in einem gut geheizten Büro hockt. Reflexartig wünscht sich doch jeder an so einem Kuddelmuddel-Tag den nächsten Frühling herbei, oder? Wenigstens einen Hauch davon.
Mir geht es jedenfalls so, denn eigentlich bin ich ein Sonnenkind. Ich liebe den Sommer, sitze gerne auf der Café-Terrasse und schlürfe einen Latte oder plansche bei schönstem Sonnenschein im Pool und gönne mir mal ein leckeres Eis. Ich liege auch gerne auf einem Rasen im Park und beobachte die vorbeiziehenden Wolken, während der warme Wind meinen Bauch kitzelt. Das ist herrlich!
Aber noch ist das alles ganz, ganz weit weg. Leider. Statt in der Sommersonne zu brutzeln, halte ich mich an einer Tasse dampfendem Tee fest und lasse die Ausführungen von Frau Doktor Eva Schmidt-Neuenfels über mich ergehen. Wenigstens ein bisschen Frühling wäre schön, denke ich und schaue zum Fenster hinaus. In Bayern liegt wenigstens Schnee. Aber Winter im Norden ist ja nichts Halbes und nichts Ganzes.
Also lümmle ich mich jetzt auf dem braunen Ledersofa von Frau Doktor. Mein Hausarzt hat mich zu ihr geschickt. Sie sei in Hamburg die Beste ihres Faches, erklärte er mir. »Da gehen Sie mal hin, verlieren können Sie ohnehin nichts«, lautete sein Befehl. Also habe ich mir einen Termin geben lassen. Mir blieb nichts anderes übrig. Meinem Hausarzt widerspricht man besser nicht. Und nun bin ich hier.
Es stimmt: Mir geht es nicht gut. Und dennoch gebe ich mich fröhlich. So schlimm kann das schließlich alles nicht sein. Ist doch nichts Körperliches. Immerhin. Ich fühle mich nur leer, schlapp, ausgelaugt. Immerzu den Tränen nahe. Oder wütend. So wütend, dass ich am liebsten die ganze Einrichtung zertrümmern würde. Und mir fehlen die Worte. Immer wieder fehlen mir die Worte. Das ist tödlich in meinem Job. Schließich bin ich Journalist, genauer gesagt: Klatschreporter. Meine Geschichten werden in den bunten Blättern veröffentlicht, einige sogar weltweit. Früher hat mir dieser Job großen Spaß gemacht. Jetzt schleppe ich mich nur noch zur Arbeit. Kaum hinterm Schreibtisch, würde ich am liebsten wieder gehen.
Seit zwanzig Jahren verdiene ich meinen Lebensunterhalt mit Geschichten aus der Welt der Promis und erlebte wunderbare, aber auch skandalöse Momente: Ich habe mit der englischen Königin das Abendbrot geteilt und am Krankenbett eines mir lieb gewordenen Stars gewacht. Er starb, während ich bei ihm saß. Das war vielleicht ein Theater! Fürchterlich traurig, aber eine gute Story. Ein Prinz betrog vor meinen Augen seine Frau. Das war eine noch bessere Geschichte.
Ich durfte auf Fürstenhochzeiten unterm Sternenhimmel tanzen und habe Models beim Koksen erwischt. Eine Zeit lang aß ich des Öfteren mit einem Bundeskanzler in Berlin zu Mittag und diskutierte mit amerikanischen Präsidenten auf Empfängen in New York. Der schwedischen Kronprinzessin gratulierte ich in Stockholm zur Hochzeit, und das Formel-Eins-Rennen in Monaco schaute ich mir vom Achterdeck einer noblen Jacht aus an. Einer unserer größten Schlagersänger traf sich zum Essen mit seiner heimlichen Geliebten – natürlich saß ich am Nebentisch.
Klatschreporter ist man rund um die Uhr. Vierundzwanzig Stunden am Tag. Aber das hatte mir bisher nichts ausgemacht. Denn kaum etwas anderes hat mich so sehr fasziniert, wie die Welt der Reichen und Schönen, der Berühmten und Berüchtigten. Ihre falsche Moral, das liderliche Leben, die Scheinheiligkeit. Allerdings zerrt die Leidenschaft für diesen Beruf an der Gesundheit. Sie kostet Freundschaften, die Familie leidet, und so manche Beziehung ist daran gescheitert.
»Frank, das geht so nicht weiter. Sie brauchen eine Auszeit, und zwar dringend«, erklärt mir Frau Doktor Eva Schmidt-Neuenfels nun in ihrer noblen Hamburger Klinik. »Das Beste ist, Sie ziehen erst einmal für acht Wochen bei uns hier ein. Machen Sie das nicht, werde ich Sie mit Sicherheit bald für längere Zeit aus dem Verkehr ziehen müssen, und das wollen wir doch nicht, oder?«
Also ehrlich! »Eva, wie stellen Sie sich das vor? Ich habe Termine, Verpflichtungen, dann der Druck aus der Redaktion«, erkläre ich leise und streiche dabei meine rote Chino glatt. Ich zupfe das Hemd aus dem rechten Jackettärmel, richte den silbernen Manschettenknopf und stehe langsam auf. »Vielen Dank für das Gespräch, Eva. Sie haben mir sehr geholfen. Ich werde Ihre Ratschläge sehr ernst nehmen. Aber jetzt muss ich los. Die Redaktion ruft.« Mit dem Mantel über dem Arm verlasse ich das Zimmer. Fluchtartig.
Sanft fällt die Autotür ins Schloss. Ich kuschle mich in den Fahrersitz, schließe die Augen und atme tief durch. In meinem Landrover ist die Welt noch in Ordnung. Hier fühle ich mich sicher und geborgen. Das warme Leder der Sitze schenkt mir Behaglichkeit. Ist es wirklich so schlimm? Mein Bauch brüllt unumwunden: »JA!« Mein Kopf flüstert dagegen: »Nein.« Ja, was denn nun? Aus den Lautsprechern rieselt leise das Doppelkonzert für zwei Violinen und Streichorchester von Johann Sebastian Bach. Erst vor Kurzem habe ich irgendwo gelesen, dass diese Musik Blutdruck und Herzfrequenz in ähnlicher Weise wie Medikamente senken soll. Wenn’s auch so geht, warum sollte ich mich dann in einer Klinik einquartieren? Nein! Noch einmal tief Luft holen, und dann geht’s ab in Richtung Innenstadt. Auf in die Redaktion. Auf in den Trubel. Langsam versuche ich, Frau Doktor hinter mir zu lassen. So ganz klappt das nicht.
Frau Doktors Diagnose kommt mit in die Stadt. Das ist kein leichtes Gepäck. Wirklich nicht. Immerhin hat sie mir mit klaren Worten deutlich gemacht, dass ich mich in einem Burn-out befinde. Mittendrin quasi. So wie bisher könne es also nicht weitergehen. Auf gar keinen Fall! In diesem Punkt war sie sich ziemlich sicher.
Ich sei total ausgebrannt. In einem Zustand der Frustration. Schuld seien unrealistische Erwartungen an mich und andere. Das habe zu einem Energieverschleiß geführt, hat sie mit fester Stimme erklärt. Ich und andere haben mich überfordert. Nun sei ich eben einfach erschöpft. Das würde alles erklären – die Wut, die Tränen, die Müdigkeit, den Sprachverlust.
Aber keine Sorge, ich sei nicht der Erste, dem das passiert, und schämen müsste ich mich schon gar nicht dafür. Vor allem Männer im mittleren Management seien davon betroffen. Und Menschen, die beruflich intensive Beziehungen zu anderen Menschen unterhalten. Nun, beides träfe wohl auf mich zu. Da dürfe ich mich nicht wundern. Allerdings müsste ich mein Leben ändern. Und zwar rucki zucki.
Immerhin bin ich in prominenter Gesellschaft, tröste ich mich: Skispringer Sven Hannawald hat es auch schon erwischt, erfuhr man aus den Medien. Schlimm war das damals. Oder Fernsehkoch Tim Mälzer. Der wollte wohl Trost im Alkohol finden, war überall zu lesen. Das war aber eine Sackgasse. Auch Schlagerstar Michelle musste da durch. Damit sich die Schlagersängerin erholt, wurde sie schließlich in ein künstliches Koma versetzt. Oder Hollywood-Sunnyboy Owen Wilson. Er litt ebenfalls jahrelang an einem Burn-out, zudem noch an Depressionen. Eine Therapie hat das Schlimmste verhindert. »Toll, da bin ich ja mal wieder in prominenter Gesellschaft«, murmle ich, als mich das Klingeln meines Handys aus dieser bunten Gedankenwelt reißt. Auf dem Display blinkt eine Schweizer Telefonnummer.
»Süßer, wo bist du? Ich hab schon versucht, dich in der Redaktion zu erreichen. Da sprang leider nur der Anrufbeantworter an«, flötet Musical-Star Angelika Milster ins Telefon. Mit der beliebten Schauspielerin bin ich seit rund zwanzig Jahren befreundet. Berühmt wurde sie als Grizabella im Musical »Cats«. Der Song »Memory« machte sie zum Star. Das war in Wien. In Berlin wurden wir Freunde.
»Gerade komme ich vom Arzt und überlege nun so grundsätzlich, wie es weitergehen soll«, erkläre ich. Dabei versuche ich, ruhig und souverän zu klingen. Stille am anderen Ende. Unachtsam rase ich mit meinem Auto durch eine Pfütze. Das dreckige Wasser spritzt auf den Gehweg. Ein Fußgänger bekommt es ab und schimpft.
Ich erzähle ihr von der Diagnose und zucke mit den Schultern, als ich auf das Wie-soll’s-weitergehen zu sprechen komme. Am Horizont schimmert das Klinkerrot des Verlagsgebäudes. Die Ampel wird gelb. Ich gehe vom Gas.
»Du willst doch jetzt wohl nicht in die Redaktion? Kommt gar nicht in Frage! Ab nach Hause – und nachdenken«, Angelika wird resolut. »Wir reden weiter, sobald du dort angekommen bist.« Alles klar. Recht hat sie. So wird’s gemacht. Also fahre ich brav nach Hause. Raus aufs Land.
Während ich über die Autobahn rase, schweifen meine Gedanken ab. Die Erinnerung an ein Gespräch mit TV-Liebling Ruth-Maria Kubitschek kommt mir in den Sinn. Wir trafen uns in München und haben danach noch mehrmals telefoniert. Ich hielt die Grande Dame der deutschen Fernsehunterhaltung immer für, nun ja, leicht exzentrisch. Der Eindruck verfestigte sich, als sie mir von ihrem Garten »Aphrodite« erzählte.
Ende der 1990er hatte sie ein viertausend Quadratmeter großes Grundstück unterhalb ihres Hauses am Bodensee gekauft. Danach verschwand sie für ein ganzes Jahr von der Bildfläche, um aus der Wildnis zu ihren Füßen eine parkähnliche Landschaft zu zaubern. Sie wollte das Fleckchen der Natur zurückgeben, versicherte sie gerne und pflanzte Apfelbäume, Rosen, Jasmin, Flieder. Dazwischen kamen in Form geschnittene...