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E-Book

Mein Fehmarn

AutorMirko Bonné
Verlagmareverlag
Erscheinungsjahr2019
ReiheMeine Insel 
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783866483606
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Sommerinselkinder - das waren er und sein Bruder Stipe, seit sie zum ersten Mal die Ferien auf Fehmarn verbrachten, zusammen mit der Mutter und dem wiederaufgetauchten Vater. Während die Risse in der Ehe der Eltern erneut aufbrechen, gewinnen andere Erfahrungen an Beständigkeit und Tiefe: Ausflüge zum Niobe-Denkmal, das Leben auf dem Land am Meer, Nachtfahrten mit dem Traktor, erste Sommerlieben und prägende Lektüren. Daneben Bilder von blühendem Raps und Mohn, von Dünen und Kliffs, die den Erzähler sein Leben lang begleiten und ihm später wiederbegegnen auf den Fehmarn-Gemälden Ernst Ludwig Kirchners. Melancholisch, kraftvoll und lebensklug sind diese Reflexionen über die Ostseeinsel, in denen Mirko Bonné Betrachtungen von Freundschaft, Erinnerung und Liebe verwebt mit Fehmarns Geschichten von Hexenverfolgungen und der Heydrich-Witwe, von Campingurlauben des NSU und von Jimi Hendrix.

Mirko Bonné, 1965 in Tegernsee geboren, ist Autor zahlreicher Gedichtbände und Romane. Daneben ist er als Übersetzer tätig und übertrug u. a. Dickinson, Keats, Stevenson und Yeats ins Deutsche. Mirko Bonné lebt in Hamburg.

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Leseprobe

1 Untergänge


Die Reise zurück beginnt mit der Erinnerung an das lichte Dunkel hinter den geschlossenen Augen. Es ist die Erinnerung an ein Zimmer, in dem ein Junge im Bett lag. An diesem ersten Morgen auf der Ferieninsel weckte ihn früh ein geistergleiches und doch vertrautes Geräusch. Er lag da, hielt die Lider geschlossen, und noch eine ganze Weile lang kamen ihm seine Augen unnötig vor.

Für die Träume, die er in der ersten Nacht auf Fehmarn gehabt hatte, waren Augen ja auch unnötig gewesen. Er war außerdem überzeugt, alles, was in dem Zimmer von Bedeutung war, bestens zu kennen: Der Junge wusste, er hatte langes dunkelbraunes Haar und einen Stirnwirbel, den er verabscheute. Er wusste, er hieß Marko. Er wusste, dass Sommer war, der zehnte Sommer in seinem Leben. Es war August, und das Jahr nannten die Erwachsenen 1975.

Marko wusste, wo er war und welche Zeit für ihn anbrach. Er hatte auf dem Bauernhof auf Fehmarn, wo er zum ersten Mal gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Vater die Sommerferien verbrachte, zusammen mit seinem Bruder ein Zimmer, das »Mansarde« hieß. Dort lag er in seinem Bett, es war früh am Morgen, drüben an der Wand schnarchte Stipe leise, und bestimmt fiel warmes, pulsierendes Licht durch das Fenster.

Für Marko war das Jahr, als er zum ersten Mal nach Fehmarn kam, das, in dem sich alles geändert hatte. Er nannte 1975 deshalb »das Jahr, in dem alles anders wurde«.

Das Geräusch, das er hörte, war Taubengurren. Doch war dieses rollende und schnarrende Vogelgegurgel so laut, als säße die Taube nicht draußen auf der Regenrinne oder irgendwo in einer Kastanienkrone, sondern – und das war es in Wirklichkeit, was ihn die Augen fest zusammenkneifen ließ – als hockte sie auf der Bettdecke.

Marko war sich nicht sicher, hielt es aber für sehr wahrscheinlich, dass eine Taube gurrend auf seiner Bettdecke saß.

Fest stand: Etwas war da auf seiner Brust, etwas, das sich nicht bewegte. Es war schwer, und es hatte das Gesicht dieses anscheinend schlafenden Jungen genau vor sich. Es gurrte. Da nichts anderes auf der Welt gurrte, konnte es nur eine Taube sein.

Nein, er würde die Augen nicht aufmachen, sondern seinen Bruder um Hilfe bitten. Stipe war zwar ein gutes Jahr jünger als er, manchmal jedoch viel mutiger und meistens auch stärker und schneller, während Marko annahm, der etwas Klügere und Raffiniertere zu sein. Vielleicht aber stimmte das gar nicht.

Er wusste, die Chancen, Stipe allein durch Flüstern aufzuwecken, waren sehr gering.

»Stipe!«, flüsterte er, und weil nichts passierte, wiederholte er es, und dann noch mal. Er zischte so laut, wie es ging, ohne die Taube zu erschrecken.

»Stipe, bitte! Stipe!«

Nichts geschah, nur in seinen Gedanken.

Wie sollte sie hereingekommen sein?

Als er die Lider aufklappte, so abrupt wie nur möglich, erblickte er nichts, was einer Taube ähnlich sah. Er hatte recht gehabt: Ein warmes, beinahe goldenes Licht fiel ins Zimmer. Und als hätten seine Augen Ohren, erkannte er jetzt auch sofort, dass das Gurren genauso wie das Licht von draußen kam. Die Taube oder die Tauben, wenn es mehrere waren, saßen auf der anderen Seite der Fensterscheibe. Sie gurrten und gurgelten, und ab und zu flatterte eine mit ihren Flügeln. Es war ihnen gleich, ob er schlief oder wach war, es war ihnen so gleichgültig wie seinem schnarchenden Bruder.

Marko hob den Kopf. Und vorsichtig spähte er so über den Bettdeckenrand und hinunter auf das schneebedeckte Inselgebirge seines zehn Jahre alten Körpers.

Nicht auf seiner Brust, aber knapp darunter und in den weißen Falten des Bettzeugs versteckt, lag das dicke Buch, das ihm am Abend aus den Händen gerutscht sein musste, als er, erschöpft und ausgelaugt von der nicht enden wollenden Autobahnfahrt vom äußersten Süden bis fast in den höchsten Norden des Landes, eingeschlummert war.

Zehn Stunden lang hatte die Fahrt vom Tegernsee bis nach Hamburg und dann weiter bis zur Ostsee gedauert. Marko war sie vorgekommen wie die Reise in ein neues Leben für Stipe und für sich.

Der bärtige Mann am Steuer war ihr Vater, er selbst und ihre Mutter behaupteten das, weshalb es wohl stimmte, doch erinnern konnten sich Marko und Stipe kaum an ihn. »Ab in die Falle, oder es kracht im Karton«, hatte er früher gesagt, als sie klein gewesen waren und er noch keinen Bart gehabt hatte. Und wenn sie dann noch immer nicht ruhig gewesen waren, hatte er damit gedroht, einen von ihnen in den Schrank zu sperren, zum Knochenfuchs, der dort im Dunkeln die Füße fraß.

Sechs, sieben Jahre lang hatten sie in ein paar bayerischen Dörfern und Städtchen am See ihr Leben ohne ihn geführt. Sie hatten viel Zeit mit den Großeltern verbracht, hatten vom Freund ihrer Mutter, den sie Onkel Werner nannten, schwimmen gelernt, waren zur Schule gekommen, hatten die Schule gewechselt, hatten immer andere Freunde und große goldene Gokarts und Bonanzaräder gehabt. Ihr Vater war nie aufgetaucht, angeblich, weil Onkel Werner ein alter Freund von ihm war. Konnte das ein Grund sein? Stipe war in einen Stacheldraht gerannt und hatte unterhalb des Auges genäht werden müssen, Marko war vom Sockel des Löwendenkmals in der Dorfmitte gefallen und hatte sich den Fuß gebrochen. Stipe wollte Profifußballer werden, und Marko war seit einem Urlaub mit ihren Großeltern am Mittelmeer fest entschlossen, als Matrose auf einem großen Segelschiff anzuheuern.

Ihr Großvater war gestorben. An dem Abend, als Deutschland Fußballweltmeister wurde, war er eingeschlafen und am nächsten Morgen nicht mehr aufgewacht. Und wenig später war auch Onkel Werner gestorben. Er hatte zu viel geraucht, sein Herz war stehen geblieben, und keiner hatte es wieder zum Schlagen bringen können. Ihre Mutter war vor Kummer ganz weiß und schmal gewesen.

»Ich bin neunundzwanzig und am Ende meiner Kraft«, hatte sie zu Marko und Stipe gesagt. »Euer Vater muss uns jetzt helfen.«

Das dicke Buch auf Markos Brust hieß zwar DIE PRACHTVOLLSTEN SEGELSCHIFFE DER WELT, doch mit einem kunstvoll eigens dafür gebastelten Aufkleber hatte Marko den Titel verändert, so wie er das ganze Buch in den letzten Monaten allmählich umgeformt und praktisch von innen zum Bersten gebracht hatte.

DIE PRACHTVOLLSTEN SEGELSCHIFFE DER WELT UND IHRE NACHTRÄGLICHE NEUERFINDUNG DURCH MICH lautete der wirkliche und wahre Titel des Buches, wobei Marko noch nicht abschließend entschieden hatte, was durch ihn neu erfunden wurde, nur die Segelschiffe oder doch die ganze Welt.

Er nahm das Buch in die Hände und strich über die Ränder und Kanten. Die Abbildungen, Ausrisse und Zettel, die er auf viele Seiten geklebt hatte, waren nicht überall sauber abgeschnitten und standen über. Aber das störte ihn nicht, sondern ließ das Buch lebendig wirken, so als würde es wachsen. Stipe schnarchte, und die Tauben vor dem Fenster, wo die Insel Fehmarn war, von der er noch nichts gesehen hatte, nur am vorigen Abend ihre tiefe Dunkelheit, gurrten. Es könnte alles auch ganz anders sein … Marko stellte sich vor, wie es wäre, wenn das Buch sich aufplusterte und gurrte und wenn von Stipe nicht das kleinste Geräusch käme und stattdessen draußen auf dem Dach oder in dem Baum, der heraufreichte bis vor das Fenster, die Tauben schnarchten.

Wenn er den Kopf ein wenig zur Seite drehte, sah er an der Tapete über dem Fensterrahmen eine wellenförmige blaue Borte. Darüber verlief ein grauer, an manchen Stellen dunkelgrauer Streifen, der Marko wie Nebel vorkam, Nebel über der See. Wo der Dunst dunkler wird, dachte er, sieht man vielleicht Land, eine Küste. Denn die Borte war nicht nur blau wie das Meer, es war auch ein Segelschiff auf die Tapete gemalt, nicht größer als auf einer Quartettkarte, ein Schoner oder eine dreimastige Bark mit, er zählte, sechzehn Segeln. Das Schiff segelte über die Wände des Zimmers, und Markos Blick folgte seinem Weg. Etwa in Höhe des Kopfes eines Erwachsenen schien es zur Tür hereingesegelt zu kommen, passierte Stipe, der anderthalb Meter darunter noch immer fest schlief, fuhr um die Ecke, hinter dem Kleiderschrank hindurch, kam wieder zum Vorschein und segelte weiter über dem Fenster entlang, um dann an der Wand zurückzukehren zur Tür, durch die es verschwand ins Treppenhaus des Bauernhofs, auf dem ihre Eltern zwei Zimmer gemietet hatten, eins für sich, eins für Marko und Stipe. Der Hof stand in der Dorfmitte von Hinrichsdorf, das zwar der kleinste Ort auf Fehmarn war, doch dafür genau in der Mitte der Insel lag.

Dreizehn Mal war die kleine Schonerbark auf der Tapete zu sehen, immer war es dieselbe, leicht geneigt, in voller Takelung, mit gesetztem Gaffel- und vier Stagsegeln, Flieger, Außenklüver, Klüver und Binnenklüver. Ein so frischer Wind blies, dass die Segel sangen und sich knallend blähten. Marko setzte sich auf. Das Schiff war in voller Fahrt. Er beschloss, dass...

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