Einführung
von Colin Wilson
Mit der Gründung der Society for Psychical Research im Jahre 1882 erhob die Parapsychologie den Anspruch, eine exakte Wissenschaft zu sein. Heute, mehr als ein Jahrhundert später, musste jedoch auch ihr eifrigster Verfechter zugeben, dass sie diesem Anspruch nicht gerecht werden konnte. Nicht ein einziges «Faktum» wurde bisher wissenschaftlich bewiesen: weder Leben nach dem Tod noch Präkognition, noch Ausleibigkeitserlebnisse; sogar Telepathie wird von vielen ernsthaften Forschern für Unsinn gehalten. All das verstärkt noch den sensationellen Erfolg der Erforschung von «Todesnähe-Erlebnissen». Dieser neueste Zweig der paranormalen Forschung wurde fast im Alleingang von Dr. Raymond Moody, dem Autor dieses Buches, begründet.
Wie meist bei Geistesblitzen, kam auch dieser beinah zufällig. Mitte der sechziger Jahre stieß der noch junge Philosophiestudent Moody auf das Todesnähe-Erlebnis eines Psychiaters aus Virginia. Dieser Dr. med. George Ritchie war als junger Soldat «gestorben» und dann wieder ins Leben zurückgekommen. Ich kann mir vorstellen, wie die Aufzeichnung dieses Erlebnisses auf Moody gewirkt haben muss, da mir ein paar Jahre später – lange bevor ich von Moody gehört hatte – dieselbe Tonbandaufzeichnung vorgelegt wurde. Da beschreibt Ritchie, wie er in Texas mit Lungenentzündung in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, wie er plötzlich einen Blutsturz erlitt und das Bewusstsein verlor. Als er die Augen aufschlug, sah er seinen eigenen Körper auf dem Bett liegen. Draußen auf dem Flur lief ein Pfleger geradewegs durch ihn hindurch, und ein Mann, dem er auf die Schulter klopfte, reagierte überhaupt nicht. Wieder im Zimmer, fand er es wie «von über tausend Lichtern erhellt», und es erschien eine Gestalt, in der er Jesus erkannte, die führte ihn durch eine prächtige Stadt und sprach zu ihm ausführlich über die Folgen des Sündigens. Als Ritchie aus dem Koma erwachte, war er überzeugt, erlebt zu haben, was Sterben ist.
Ich muss zugeben, dass mich damals die religiöse Einkleidung dieses Erlebnisses gestört hat, es klang mir zu sehr nach Heilsarmee. Heute weiß ich, dass ich genau das hätte tun sollen, was Raymond Moody getan hat, ich hätte nach anderen Menschen suchen sollen, die auch ein «Todesnähe-Erlebnis» gehabt haben. Dann hätte ich die gleiche Entdeckung gemacht, die Moody so faszinierte: Todesnähe-Erlebnisse sind weitaus häufiger als allgemein angenommen.
Dies wurde mir jedoch erst 1984 klar, genau an jenem Tag, an dem ich mein Buch über das Thema «Leben nach dem Tod» beginnen wollte. Bei meinem nachmittäglichen Spaziergang traf ich die Frau eines Freundes, und als ich erwähnte, dass ich anfangen wollte, mein Buch «Afterlife» zu schreiben, erzählte sie mir von ihrem eigenen Todesnähe-Erlebnis. Eines Nachts, von starken Unterleibsschmerzen geplagt (was später eine Gebärmutterentfernung erforderlich machte), ging sie zu Hause die Treppe hinunter und merkte, wie sie in Ohnmacht fiel und dann in einen langen Tunnel gezogen wurde, an dessen Ende es hell war. Ein Gefühl vollkommenen Friedens überkam sie. Als sie sich damit abgefunden hatte zu sterben, dachte sie daran, wie ihr Mann und ihr Sohn sie morgens tot auffinden würden, und daraufhin beschloss sie, am Leben zu bleiben. Sie kehrte zurück in ihren Körper und hatte kein Fieber mehr. Sie erzählte mir, dass sie jetzt keine Angst mehr vor dem Tod habe und dass das Erlebnis ihr Mut sowohl zum Leben als auch zum Sterben gegeben habe. Außerdem erzählte sie mir noch von einem unserer Nachbarn, der ein ganz ähnliches Erlebnis gehabt habe. Seit jenem Tag wurden mir Dutzende von solchen Erlebnissen geschildert, und ich weiß jetzt, dass ich allein in meinem Bekanntenkreis Hunderte solcher Geschichten hätte sammeln können.
Dr. Moody hat es dagegen tatsächlich getan, und das Ergebnis war «Leben nach dem Tod», ein Buch, das zum Erstaunen seines Verlages über Nacht ein Bestseller wurde. Der kleine amerikanische Verlag Mockingbird Books brachte das Buch ursprünglich heraus, doch als die Nachfrage nach «Leben nach dem Tod» immer größer wurde, übernahm das Verlagshaus Bantam den Vertrieb sowohl in den USA als auch in Großbritannien.
Über drei Millionen Exemplare allein der englischen Ausgabe wurden verkauft, und es stellt sich die Frage, warum. Todesnähe-Erlebnisse sind schon seit langem Gegenstand von Beschreibungen und Betrachtungen. Im Jahre 1871 stürzte ein Bergsteiger namens Albert Heim mehr als zwanzig Meter tief ab und empfand dabei so etwas wie «Transfiguration»; es war für ihn ein Blick in den Himmel. Daraufhin sammelte er zwanzig Jahre lang ähnliche Erlebnisse von anderen Bergsteigern. Wenige Jahre später begann Sir William Barrett, einer der Begründer der Society for Psychical Research, Krankenhauspatienten zu befragen, die dem Tod nahegekommen waren (seine Frau war Gynäkologin). Sein bekanntes Werk «Death-Bed Visions» (Totenbettvisionen) enthält Dutzende von Berichten über Transfigurationserlebnisse. Darin macht er die interessante Beobachtung, dass eine große Anzahl der Sterbenden Verwandte trifft, die bereits verstorben waren. In den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts befragte Dr. Karlis Osis in New York Ärzte und Krankenschwestern über ihre Erfahrungen mit sterbenden Patienten. Barretts Entdeckungen wurden durch ihn bestätigt. Auch Elisabeth Kübler-Ross, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit Überlebenden aus Konzentrationslagern gearbeitet hatte, stellte nicht nur Untersuchungen über Erfahrungen mit dem Sterben an, sondern wurde dadurch selber immer stärker davon überzeugt, dass solche Erlebnisse tatsächlich einen Beweis für ein Leben nach dem Tod darstellen. (Übrigens hat sie seinerzeit ein Vorwort für Moodys «Leben nach dem Tod» geschrieben.)
Warum hat ausgerechnet Moodys kleines Buch ein so gewaltiges Echo ausgelöst und den Anstoß gegeben zur Gründung eines neuen Forschungszweiges, der Untersuchung von Todesnähe-Erlebnissen («TNE»)?
Die Antwort auf diese Frage liegt sicherlich darin, wie frisch und im besten Sinne unbekümmert Moody sein Thema angepackt hat. Gerade erst Arzt geworden (Moody hatte, nachdem er der Philosophie überdrüssig geworden war, noch Medizin studiert), fragte er einfach Hunderte von Patienten nach ihren Todesnähe-Erlebnissen und war ganz überrascht, in welch enormem Ausmaß die Berichte übereinstimmten. Er selbst war über das Ergebnis erstaunt, und dieses Staunen konnte er an seine Leser weitergeben. Und da sein Ansatz pragmatisch und einfach war, gelang es ihm, Millionen von Lesern klarzumachen, dass diese offensichtlichen Blicke über die Schranke des Todes hinweg ein ganz normaler und weitverbreiteter Bestandteil des menschlichen Lebens sind. Seit damals wurden von vielen anderen Forschern – Kenneth Ring, Michael Sabom, Maurice Rawlings, Edith Fiore, Margot Grey – seine Untersuchungen und seine Ergebnisse wiederholt bestätigt. Doch Moody hat mit seinem Buch «Leben nach dem Tod» ein ähnliches Paradigma geschaffen wie jener Mann, der die Quellen des Nils entdeckte.
Eine Frage bleibt offen: Ist die Todesnähe-Forschung nicht einfach die «Suche des Glaubens nach Beweisen», wie es James Alcock im «Skeptical Enquirer» ausdrückt, und somit einfach nur unsrer allgemeinen Angst vor dem Tod entsprungen? Die Erforschung von Todesnähe liefert Gründe, die dieser Ansicht entgegenstehen. Sir William Barrett zitiert zum Beispiel einen Fall, bei dem eine Sterbende «jenseits der Schwelle» von ihrer Schwester begrüßt wurde – sehr zu ihrem Erstaunen, denn man hatte ihr nicht erzählt, dass ihre Schwester kurz vorher gestorben war.
Ich neige dazu, das Problem anders zu betrachten. Mich hat der Tod als solcher nie sehr interessiert, sondern eher Tod als ein «erweiterter Bewusstseinszustand», wie er von Dichtern wie William Wordsworth (1770–1850) oder Mystikern wie Jakob Böhme (1575–1624) beschrieben wurde. Mein erstes Buch «Der Outsider» war eine Arbeit über Menschen, die sich dem alltäglichen Leben entfremdet fühlen, da sie bereits einen flüchtigen Eindruck von Bewusstseinszuständen bekommen hatten, die sie mit mehr Zufriedenheit und Weite erfüllten. Und ich war, wie Moody auch, stark beeindruckt von der auffälligen Übereinstimmung solcher Berichte, ob sie nun von buddhistischen Mystikern, mittelalterlichen Heiligen, romantischen Dichtern oder modernen Psychologen stammten. Am allermeisten verwundert haben mich allerdings die Beschreibungen von «höheren Ebenen» der mystischen Erfahrung. In Peter D. Ouspenskys Buch «Ein neues Modell des Universums» gibt es ein interessantes Kapitel, in dem er recht ausführlich die Auswirkungen seiner Experimente bezüglich höherer Bewusstseinsstufen beschreibt. Seine erste, grundlegende Aussage ist vielleicht sogar die wichtigste: Etwas über diese Experimente zu sagen, sei prinzipiell unmöglich, denn um etwas zu sagen, müsste man alles sagen. Alles hänge miteinander zusammen. Nichts sei «abtrennbar». Wir alle kennen ähnliche Erlebnisse, wenn wir besonders glücklich und erregt sind – wenn wir zum Beispiel in Urlaub fahren: Erstens wirkt alles irgendwie «echter» als gewöhnlich, zweitens scheint uns alles irgendwie an etwas anderes zu «erinnern» und das wieder an etwas anderes und so weiter.
Ein weiterer experimenteller Mystiker, R.H. Ward, hat über seine Erfahrungen mit Lachgas und dem bewusstseinserweiternden Rauschmittel LSD ein Buch geschrieben: «A Drug Taker’s Notes». Darin heißt es: «Nachdem ich die ersten Züge des Gases inhaliert hatte, gelangte ich sofort in einen...