1 Zur Notwendigkeit von Früher Bildung und Erziehung
Die frühkindliche Bildung ist eine, wenn nicht die wichtigste und beste Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. Heidelberger Erklärung zur Frühkindlichen und Elementarbildung (2008)
Die Relevanz von Erziehung und Bildung sowohl für die individuelle als auch für die gesellschaftliche Entwicklung ist unstrittig ( Kasten 1; s. auch Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina e. V. et al., 2014).
Kasten 1: Frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung: Grundpfeiler für den Aufbau besserer und gerechterer Bildungssysteme
In einer Zeit nie dagewesener Herausforderungen ist es von entscheidender Bedeutung, allen unseren Kindern durch die Gewährleistung einer hochwertigen frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) einen guten Start zu ermöglichen. Die umfassenden Vorzüge einer frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung werden zunehmend anerkannt und reichen von wirtschaftlichen Vorteilen für die Gesellschaft insgesamt bis hin zu besseren schulischen Leistungen des Einzelnen. Die Ergebnisse internationaler Schülerleistungsstudien (PISA (OECD) und IGLU (IEA)) belegen, dass Kinder und Jugendliche in den Bereichen Leseverständnis und Mathematik bessere Leistungen erzielen, wenn sie eine FBBE-Einrichtung besucht haben. Die Forschungsarbeiten legen zudem den Schluss nahe, dass das Angebot einer hochwertigen FBBE die öffentlichen Ausgaben des Sozial-, Gesundheits- und auch des Justizsystems verringern kann. Eine hochwertige FBBE bildet ein starkes Fundament für ein erfolgreiches lebenslanges Lernen und kommt daher insbesondere benachteiligten Kindern zugute. Die FBBE bildet somit einen Grundpfeiler für den Aufbau besserer und gerechterer Bildungssysteme. (Europäische Kommission, 2014, S. 3)
Gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Populismus, den damit verbundenen Simplifizierungen und Lügen (dem Zeitalter des »Postfaktischen« bzw. der »alternativen Fakten«) erscheint es dringlicher denn je, »auf die Karte Bildung zu setzen«. Nur viele mündige, d. h. zur Reflexion fähige Bürgerinnen und Bürger können der aktuellen Gefahr einer Abschaffung demokratischer Strukturen am ehesten begegnen – und »wählen nicht ihre eigenen Schlächter«10.
Zu Recht hört man daher seit Jahrzehnten »Kinder sind unsere Zukunft«, insbesondere verstärkt nach dem »PISA-Schock« (s. u.) – und wenn es um den Wirtschaftsstandort Deutschland geht, der auch in Zukunft erhalten bleiben soll. Eine »Investition in die Zukunft« bringt die größte Rendite, wenn diese in der Frühen Bildung geschieht: Ein dort investierter Euro hätte eine Rendite von 1 : 12, ein Euro in den tertiären Bildungsbereich nur von 1 : 3, so Jürgen Kluge11 2008 in Heidelberg12. Unter der Zukunftsperspektive für eine Gesellschaft ist es demnach lohnenswert, sich mit Früher Bildung intensiver zu beschäftigen und sie tatsächlich nicht nur zu einem relevanten Thema, sondern zu einem festen Bestandteil im politischen Handlungsfeld zu machen.
Neben dem quantitativen Ausbau der zur Verfügung stehenden Plätze für Kinder sind allerdings auch qualitativ Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Wert der Frühen Bildung auch für die dort beschäftigten Fachkräfte mit der wohl anspruchsvollsten und komplexesten Bildungsarbeit sichtbar macht. Eine Wertsteigerung könnte dazu beitragen, dass möglichst viele der Besten eines Jahrganges, die sich für einen pädagogischen Beruf entscheiden, die Frühe Bildung wählen (Schöler, 2009).
Für eine bessere Bewertung der Arbeit in der Frühen Bildung wäre eine Akademisierung eine der notwendigen Voraussetzungen – und zwar eine Akademisierung aller pädagogischen Berufe in frühkindlicher Bildung und Erziehung. In nahezu13 allen anderen pädagogischen Lehrberufen (von der Grundschule bis zum Gymnasium) ist in Deutschland eine Hochschulausbildung erforderlich und wird auch bereits am Beginn des 21. Jahrhunderts von der OECD (2004) dringend für Deutschland empfohlen – übrigens ein Standard in anderen europäischen Ländern:
189. Gemessen an europäischen Standards findet die Ausbildung der deutschen Beschäftigten in der FBBE auf niedrigem Niveau statt. Deutschland und Österreich sind die einzigen Länder Westeuropas, in denen keine nennenswerte Präsenz von Beschäftigten in der Kindertagesbetreuung mit einer grundlegenden Hochschulausbildung zu verzeichnen ist. Über die Unangemessenheit der derzeitigen Ausbildung besteht allgemein Einigkeit, was daran ersichtlich ist, dass vermehrt gefordert wird, die Ausbildung auf eine höhere Ausbildungsebene zu verlagern, und dass in mehreren Ländern Reformen beschlossen wurden, die allerdings eine Anhebung der Ausbildungsebene nicht vorsehen.
190. Welchen Kurs man auch einschlägt, eine Erhöhung der Personalkosten könnte langfristig unvermeidlich sein, um einer Höherstufung der Ausbildung Rechnung zu tragen und eine ausreichende Personalbeschaffung zu sichern. Der Einwand, dass eine verbesserte Rekrutierung und Ausbildung zu hohe Kosten nach sich ziehen, ist langfristig nicht haltbar. In anderen OECD-Ländern hat man Kosten-Szenarios entwickelt, die im Wesentlichen ergaben, dass, wenn hohe Qualität gewünscht wird, eine Aufwertung der Beschäftigten erforderlich ist, um verbesserte Entwicklungs- und Lernergebnisse für die Kinder über das ganze System hinweg zu erzielen. (…) Dies hätte weitere Vorteile: es käme einer gleichberechtigten Beziehung zwischen FBBE-Einrichtungen und Schulen zugute; würde die Beschäftigten für weitere Ausbildungen qualifizieren sowie eine akademische Präsenz und Forschungspräsenz für die FBBE im Hochschulsektor sichern. Uns ist klar: Die Verantwortung für die Ausbildung liegt ausschließlich bei den Ländern. Trotzdem ist dies wiederum ein Bereich, der sich als Gegenstand einer vom Bund angeführten Initiative anbietet, wobei verschiedene Modellprojekte gefördert und bewertet werden könnten, um den besten Weg oder die besten Wege in die Zukunft zu finden. (OECD, 2004, S. 72)
Die im letzten Jahrzehnt entwickelten Bachelor-Studiengänge an Fachhochschulen und Universitäten sind zwar eine erste Grundlage, genügen aber nicht, um diese Wertsteigerung tatsächlich erreichen zu können.14 Denn eine Gleichstellung mit anderen pädagogischen Fachkräften im Bildungssystem (z. B. den Gymnasiallehrkräften) kann damit wohl kaum erreicht werden. Eine Akademisierung könnte auch dazu beitragen, dass Wertschätzung für die Frühe Bildung und die in diesem Bereich beschäftigten Lehrkräfte nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt, sondern sich sowohl auf deren Konto als auch in deren Interaktion mit anderen Fachkräften bemerkbar macht, »mit denen dann – wie es so schön heißt – auch eher eine »Kommunikation auf Augenhöhe« gelingt« (Schöler, 2009).15,16
Warum wird in der deutschen Bildungspolitik nun schon so lange darüber diskutiert, ohne aber wirklich nennenswerte Veränderungen in Gang zu setzen? Alleine der für Bildung unvorteilhaften Länderhoheit ( Kap. 13.1) kann dies doch nicht alleine angelastet werden.
1.1 Wertigkeit der Frühen Bildung und Gesellschaftssystem
Unterschiedliche Gesellschaftssysteme zeichnen sich dadurch aus, dass der Erziehung und Frühen Bildung sehr unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird und diese mehr oder weniger gezielt durch entsprechende staatliche Erziehungs- und Bildungsinstitutionen fördern – oder eben nicht. So hatten Erziehung und Bildung in der DDR einen deutlich höheren Stellenwert.17 Die Frühe Bildung wurde staatlich reguliert, und die Fachwissenschaften waren in die Vorstellungen und Überlegungen zur Erziehung und Bildung eingebunden.18 Die in der DDR erschienenen Entwicklungspsychologie-Lehrbücher waren allerdings – sofern man die Verlautbarungen der SED-Parteitage, die in jedem Buch am Anfang standen, überblätterte – für westdeutsche Studierende nicht nur billiger, sondern durchaus lesens- und bedenkenswert. Nach der Wende haben einige der führenden Vertreterinnen und Vertreter aus Entwicklungspsychologie und Erziehungswissenschaft ein Buch mit dem Titel »Dem Kinde zugewandt – Überlegungen und Vorschläge zur Erneuerung des Bildungswesens« (1991) publiziert, das nach meinen Recherchen kaum wahrgenommen...