Wir werden wieder zu Landratten. – Winterarbeit. – Das kostbare Trinkwasser. – Ein Kapitel über Schlittenhunde. – Beginn der Winternacht. – Barbarische Kälte. – Besuch im Schneehaus. – Traurige Weihnachten. – Der stimmungsvolle Kirchhof.
Wie überall auf der Erde, so ist auch im Eismeer die Zeit der Tag- und Nachtgleiche die Zeit der Stürme. Und fast schien es, als ob sie in diesem Jahre zu ihrem gewohnten Ungestüm noch ein Übriges tun wollte. Während des ganzen Monats September heulten die Stürme bald aus Nordwest, bald aus Nordost und begruben alles ringsum tiefer und tiefer in dem weißen Schnee.
Aber das schlechte Wetter durfte uns in unserer Arbeit nicht aufhalten, denn es galt, das Schiff für die Winternacht herzurichten, ehe uns die große Kälte daran verhinderte. Zunächst mußte das Deckhaus errichtet werden, ein aus mitgebrachten Brettern roh gezimmertes Haus, das von der Back bis zum Achterdeck über das ganze Großdeck reichte. Es war natürlich nur eine notdürftige Behausung, die einen gewissen Schutz gegen den eisigen Wind und den treibenden Schnee gewähren sollte. Das Dach bestand aus den großen Segeln, die über den nach vorn geschafften Besanbaum gespannt waren. Wenige Tage nach dem Einfrieren des Schiffes war diese Arbeit beendet, und wir konnten nun an die eigentliche Winterarbeit denken.
Es war an einem trüben, rauhen Oktobertage, als die ganze Mannschaft, wohlausgerüstet mit großen, ungeschlachten Sägen und mit den langstieligen »Gaffhooks«, die man beim Zerlegen des Walfisches gebraucht, über Land zog. Wieder einmal tappte ich blindlings hinter der Herde her und wunderte mich, was man wohl jetzt mit mir anfangen würde. Zunächst erstiegen wir eine im Hintergrund der Bai gelegene Anhöhe. Es kostete manchen Schweißtropfen, bis alle oben angelangt waren, denn der Berg war steil und die Seebeine revoltierten energisch gegen die ungewohnte Zumutung. Nachdem alle Nachzügler angekommen waren, ging es weiter querfeldein durch den knietiefen Schnee, bis wir die glatte Eisfläche eines großen Teichs erreichten. Das war unser Ziel. Hier sollten wir das Trinkwassereis für den Winter schneiden. Wir machten uns mit Feuereifer an die Arbeit, denn Mr. Johnson, der die Aufsicht führte, hatte nicht verfehlt, uns gleich am Anfang auseinanderzusetzen, daß er nicht vom Platze weichen wollte, ehe der ganze Vorrat geschnitten und an Land geholt wäre. Und wir wußten, daß Mr. Johnson ein solches Gelübde nicht um der bloßen Rede willen abzulegen pflegte. Dort oben kam mir zum erstenmal zum Bewußtsein, was es bedeutet, in der eisigen Kälte eines arktischen Wintertages eine schwere Arbeit zu verrichten. Die Temperatur – es mochten wohl zwanzig Grad unter Null gewesen sein – war erbärmlich rauh, und die leichte Brise, die bald aus Norden, bald aus Nordosten wehte, machte die Kälte nur noch fühlbarer. War es schon eine Arbeit, die bereits zwei Fuß dicke Eisdecke zu durchsägen, so war dies doch ein Kinderspiel im Vergleich zu der Mühe, die es verursachte, die Stücke herauszufischen und am Ufer aufzustapeln. Die »Gaffhooks«, die man dazu verwendete, waren bald nur noch ein dicker Eisklumpen. Wir vollbrachten ein großes Tagewerk. Mr. Johnson machte beinahe eine befriedigte Miene, als seine kleinen, grünen Augen über die mit der Kante nebeneinander aufgestellten Eisstücke wanderten, die wie eine lange, dunkle Reihe Soldaten in der weißen, mondbeschienenen Landschaft dastanden. Er meinte auch etwas mürrisch, daß wir heute nicht ganz so faul und nichtsnutzig wie sonst gewesen seien – die höchste Skala des Lobes, zu der der Gestrenge sich aufzuschwingen vermochte. Bei völliger Dunkelheit erreichten wir endlich wieder das Schiff.
Von jetzt ab begann das regelrechte Winterleben. Über unsere seemännische Vergangenheit war der Schwamm gegangen, und wir hatten uns wieder in richtige Landratten mit einem geregelten Arbeitspensum verwandelt. Die Disziplin wurde selbst in den dunkelsten Tagen stets auf einem hohen Grad der Vollkommenheit gehalten. Und das war gut so, denn wer wollte durch all die langen, gleichmäßig dahinfließenden Monate, ohne die geringste Anregung von außen, seine Gemütsruhe bewahren, wenn ihm nicht die Rettung in Gestalt einer geregelten Tätigkeit zur Seite stünde! Und dann ist die körperliche Arbeit auch das einzige wirksame Gegenmittel gegen die schlimmste Geißel aller Eismeerfahrer: den Skorbut. Wohl liegt der erste Keim dieser entsetzlichen Krankheit in dem Mangel an frischen Nahrungsmitteln, aber einen günstigen Nährboden findet sie nur in dem stagnierenden Blut eines durch ungenügende Tätigkeit erschlafften Körpers. Und die umgebenden Umstände sorgten während des ganzen Winters für die nötige Tätigkeit. Für jemand, bei dem die Trinkwasserfrage zeitlebens mit dem Gang zum Wasserhahn erledigt ist, klingt es fast unglaublich, daß fast alle unsere laufenden Arbeiten in den Winterquartieren sich allein um diese Frage drehten. Nicht weniger als sechzehn Mann wurden der »Eismannschaft« zugeteilt. Sie hatten weiter nichts zu tun, als täglich zweimal den großen Schlitten über die Hügel nach dem fernen Eissee zu ziehen und von dort im Laufe der Zeit das Frischwassereis, das wir an jenem kalten Oktobertag geschnitten hatten, nach dem Schiff zu bringen. Alle übrige Arbeit an Bord oder in der Umgebung des Schiffes war der »Schiffsmannschaft« vorbehalten. Es war weder eine Ehre, noch ein Vergnügen, zu diesem letztgenannten Teil der Besatzung zu gehören, und darum setzte sie sich zusammen aus denen, die keine Gnade fanden vor den Augen der gestrengen Vorgesetzten. Selbstverständlich befand sich auch meine Wenigkeit darunter, nebst dem anderen Deutschen – man hatte uns das Abenteuer in der Beringstraße nicht vergessen. Als dritter gehörte dazu ein durchtriebener Jüngling namens John aus Boston und zwei Eskimos, die wir Jack und Joe getauft hatten. Wir waren die »Mädchen für alles«, und man verwendete uns zu den unglaublichsten Arbeiten.
Unsere erste Aufgabe war, das Schiff mit einem Schneewall zu umgeben. Die Sache war durchaus nicht so einfach, wie man annehmen sollte. Es vergingen Wochen, ehe wir damit fertig waren. Da die umgebenden Schneebänke, aus denen das Rohmaterial gewonnen wird, stets hart gefroren sind, müssen sie mit der Säge bearbeitet und der Schnee in Würfeln von etwa einem Kubikmeter Größe nach dem Schiff gebracht werden, wo diese von einem als Architekt abkommandierten Bootsteurer geformt und beschnitten, und dann in kunstgerechter Weise längs der Schiffsseite aufgebaut werden. In dieser Weise wird allmählich rings um das Schiff ein etwa zwei Meter dicker Wall aufgeschichtet, der bis zur Höhe des Hausdachs reicht. Mittschiffs führt ein breites, mit Schneemauern eingesäumtes Portal nach dem Innern der Festung. Denn wie eine Festung steht das Ganze da, wenigstens solange der treibende Schnee die festen Umrisse des künstlichen Baues noch nicht verwischt hat. Eine Märchenfestung aus Eis und Schnee. Anfang November war diese Arbeit beendet, und nun mochten unsertwegen die Winterstürme heranbrausen und ihre ohnmächtige Wut an den Masten und Rahen, Ketten und Tauen der hohen Takelage ausheulen! Wir waren gerüstet für ihr Erscheinen.
Man sollte meinen, daß die Temperatur auf einem derartig eingehausten Verdeck auf eine ganz behagliche Höhe steigen würde. Doch das war durchaus nicht der Fall; vielmehr herrschte dort während des ganzen Winters eine barbarische Kälte. Alles war hart und steif gefroren, und Dach und Wände waren mit einer dicken Reifschicht überzogen, bei deren Anblick es mich jedesmal mit einer Gänsehaut überlief. Nur der durch eine Bretterwand abgeteilte Achterteil des Deckhauses, von der Mitte der Großluke bis zum Rande des Achterdecks, war bewohnbar. Das war der »Bullroom«, der Salon des Schiffes. Hier hausten Steuerleute und Bootsteurer und andere Götter und Halbgötter aus dem Achterteile. Hier saßen Sam und Schneeball beim warmen Ofen und spannen lange Garne mit bedächtig abgewogenen Worten. Zuweilen dröhnte dort auch die sonore Stimme des Kapitäns, gleich dem Brüllen des Löwen unter der Schar der geängstigten Lämmer. Den sonderbaren Namen Bullroom – eine Verunstaltung des Wortes »boilroom« – hatte der Raum deshalb erhalten, weil hier das Frischwassereis geschmolzen wurde. In der Mitte waren zwei mächtige, aus leeren Petroleumtanks hergestellte Kessel aufgestellt, unter denen Tag und Nacht ein wohlgenährtes Feuer brannte. In dem einen Kessel wurde Eis zu Koch- und Trinkwasserzwecken geschmolzen, während in dem anderen das als Waschwasser dienende Schneewasser hergestellt wurde.
Geradezu ungeheuerlich war der Holzverbrauch dieser beiden Öfen, und es stellte sich bald heraus, daß der mitgebrachte Vorrat auch nicht annähernd imstande war, ihrem gesunden Appetit gerecht zu werden. Von nun ab wurde jeden Tag ein Hundeschlitten nach der Lagune geschickt, von wo wir im Herbst, kurz vor dem Einfrieren, die Holzladung an Bord gebracht hatten. Diese Schlittenpartien, die immer von einem Eskimo und einem Weißen begleitet werden mußten, waren nichts weniger als populär, denn der Holzplatz lag reichlich fünfzehn englische Meilen entfernt, was bei Hin- und Rückweg schon eine ganz ansehnliche Leistung war, ganz abgesehen davon, daß an Ort und Stelle das Holz erst mühsam unter dem Schnee hervorgeholt werden mußte.
Von Rechts wegen sollte jedermann der Besatzung der Reihe nach mit dem Schlitten gehen, aber da gewöhnlich niemand wußte, an wem die Reihe war, so mußte Mr. Johnson...