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Was nun?

Ein Weg zur deutschen Einheit

AutorEgon Bahr
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl222 Seiten
ISBN9783518747704
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR

Im März 1966 stellt Egon Bahr ein Manuskript fertig. Unter dem Titel »Was nun?« skizziert er, damals Pressesprecher des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, darin eine neue Ost- und Deutschlandpolitik. Er übergibt es stolz seinem Chef - und der Text verschwindet in der Schublade. Angesichts der Möglichkeit einer Großen Koalition berge die Denkschrift zu viel Sprengstoff, fürchtet Willy Brandt. Doch die beiden machen sich schon bald daran, Bahrs Konzept im Zuge der »Neuen Ostpolitik« Schritt für Schritt zu verwirklichen: Sie lassen die Hallstein-Doktrin hinter sich, setzen auf »Wandel durch Annäherung« und bringen die Ostverträge auf den Weg. Brandts Kniefall in Warschau steht bis heute sinnbildlich für diese Politik. Dem Kanzler wird sie den Friedensnobelpreis einbringen, seinem wichtigsten Berater und engsten Freund den Ruf des brillanten außenpolitischen Analytikers.

30 Jahre nach dem Mauerfall wird Egon Bahrs Denkschrift nun endlich veröffentlicht. Der Historiker Peter Brandt ordnet Bahrs Strategie in das politische Spannungsfeld der sechziger Jahre ein. Ein historisches Dokument ersten Ranges.



<p>Egon Bahr (1922-2015) begann seine politische Karriere 1960 als Leiter des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin und ging 1966 in die Bundespolitik, wo er in verschiedenen Positionen - unter anderem als Staatssekretär im Bundeskanzleramt sowie als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit - tätig war.</p>

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Leseprobe

Was nun?


Nachdem volle zwanzig Jahre vergangen sind seit dem Kriegsende, fast siebzehn Jahre seit Gründung der Bundesrepublik und der DDR, mehr als zehn Jahre, seit die beiden staatlichen Organisationen ihre verschieden zu bewertende Souveränität erhalten haben,3 kann niemand sagen, wann die deutsche Teilung zu Ende sein wird. Nach einem solchen Zeitabschnitt kann man nicht länger so sprechen, als sei die deutsche Teilung ein kurzes Zwischenspiel, eine zeitlich überschaubare, also absehbare Unterbrechung des Staates aller Deutschen.

Es wirkt komisch, vom Provisorium der Bundesrepublik zu sprechen,4 das sie sein sollte. Sie ist es ebensowenig oder ebensoviel wie die DDR, deren Staatsorgane und Bindungen ebenso fest geworden sind wie die der Bundesrepublik; mit dem Unterschied, daß die Menschen hier gern leben und gut leben können, auch mit der Teilung, und daß die Menschen drüben gelernt haben und weiter lernen müssen, mit der Teilung zu leben.

Wenig kennzeichnet die Absurdität deutschen Denkens und deutscher Wirklichkeit mehr als die Geläufigkeit, mit der immer wieder gesagt wird, es gäbe keine dringendere Aufgabe als die Wiedervereinigung,5 während sie sich doch kaum jemand vorstellen kann; ja, wer ernsthaft über sie spricht, kann in die Gefahr der Lächerlichkeit geraten.

Die Deutschen sind für die Wiedervereinigung, aber sie glauben nicht an sie, könnte verallgemeinernd gesagt werden. Die Franzosen, die Engländer, die Amerikaner sind dafür, wie Umfragen gezeigt haben, aber halten dieses Ziel nicht für ein Thema praktischer Politik. Eine ähnliche Kluft zwischen Wunsch und Einsicht wird in den Äußerungen unserer Landsleute jenseits von Mauer und Stacheldraht sichtbar.6

Inzwischen bleibt die Weltgeschichte nicht stehen. Die Konzeptionen einer neuen Osteuropapolitik in den drei westlichen Hauptstädten gehen bei aller Unterschiedlichkeit von der These aus, daß eine Verstärkung menschlicher, wirtschaftlicher und kultureller Kontakte und Verbindungen positive Entwicklungen in Osteuropa fördern, Gegensätze abbauen und die Kluft, die Europa trennt, schmaler werden läßt, mindestens überbrückt. Diese Politik erbringt praktische Ergebnisse unter Ausklammerung Deutschlands.

Deutschland zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gerät in die Gefahr, die Annäherung von Ost- und Westeuropa zu behindern. Jeder Rückfall in den Stalinismus in der DDR, jeder Rückfall in den Kalten Krieg in der Bundesrepublik macht Deutschland hüben wie drüben zu einem Störungsfaktor. Aber diese Störung ist nicht schöpferisch, sondern sie hemmt den Fortschritt. Dabei ist es bei dem sowjetischen Einfluß immer noch leichter, die DDR »marktkonform« zu halten; der Bundesrepublik hingegen kann kein Verbündeter ein störendes Sperrfeuer von Worten verbieten, solange daraus keine Taten werden. Aber aus Eigeninteresse sorgt die Bundesrepublik dafür, durch ihr praktisches Verhalten nicht isoliert zu werden.

Daraus wird eine immer größere Kluft zwischen den Worten und der Wirklichkeit. Als ob es ein Gesetz wäre, daß ein gespaltenes Land eine gespaltene Zunge fördert. Je größer aber diese Kluft wird, um so geringer wird die Glaubwürdigkeit. Die fortgesetzte Weigerung, Bilanz zu machen, wo wir mit dem wichtigsten politischen deutschen Ziel heute stehen, muß zu einer schleichenden Vertrauenskrise führen. In der Wirtschaft gibt es den Begriff des betrügerischen Bankerotts für den, der wissentlich seine Bücher fälscht und dabei seine Aktiva zu hoch einsetzt. Auch in der Politik kann das fahrlässige Verspielen des Vertrauens verheerende Folgen haben in einer Situation, die ohne Vertrauen nicht zu meistern ist.

Drüben


Wir sind – in gefährlichem Maße unbewußt – Zeugen eines zunehmenden Selbstbewußtseins der DDR, auch wenn man ihre Schwächen nicht übersehen kann. Wer Gelegenheit hatte, mit Menschen zu sprechen, die in der DDR leben, hat etwas zu berichten, was nicht in unsere landläufigen Vorstellungen paßt. Wir wissen heute, daß auch den Nicht-Kommunisten das Wort »Zone« für den Teil des Landes nicht paßt, sogar ihr Widerstreben erregt, in dem sie ohne ihre Schuld leben müssen.

Es wäre völlig falsch zu glauben, es habe sich ein neues Nationalbewußtsein gebildet. Im Gegenteil, es gehört zu den untilgbaren Hypotheken der DDR, daß den Menschen dort das Bewußtsein nicht ausgetrieben werden und nicht abhanden kommen kann, daß sie der kleinere Teil des zerrissenen deutschen Volkes sind.

Aber etwas anderes hat sich eingestellt: ein Stolz auf die erreichten Leistungen. Im Laufe der Jahre ist eine gewisse Identifizierung mit dem erfolgt, was dort aufgebaut wurde, was das tägliche Leben bestimmt und was morgen erreicht werden soll. Auch damit wird die Masse der Bevölkerung nicht kommunistisch. Sie ist gewissermaßen stolz trotz des Regimes. Ihr Selbstbewußtsein ist gewachsen, gerade weil unter ungünstigsten Bedingungen sichtbare Fortschritte erzielt worden sind.

Vor allem darf nicht übersehen werden, daß auch für das Territorium, das sich DDR nennt, dasselbe gilt, was für andere abgeschlossene Gebiete zutrifft: Man muß sich einrichten. Man lebt in seiner Welt; die ungeheure Kraft des Alltags bestimmt das Leben, die Sorgen, die Hoffnungen, ganz besonders, wenn dieser Alltag zwanzig Jahre dauert und niemand sein Ende sieht.

Die größte Stärke der DDR ist ihr Alltag. Die größte Gefahr für die Verewigung der deutschen Spaltung ist der deutsche Alltag, in dem sich alle einrichten, je länger, um so bequemer.

Millionen von Menschen in der DDR überlegen, was sie sich als nächstes anschaffen, was sie im Urlaub unternehmen, ob sie eine neue Wohnung bekommen. Junge Menschen verlieben sich und heiraten, sie bekommen Kinder, die später ihre Probleme in der Schule haben. Die Älteren müssen länger arbeiten, als sie möchten, und viele von ihnen wissen, daß sie in der DDR sterben werden. Dieses tägliche Leben ist durchwirkt von Politik, aber es bleibt tägliches Leben, millionenfaches Einzelschicksal.

Wer Ältere auf die deutsche Einheit anspricht, kann Tränen sehen. Wer an Jüngere dieselbe Frage richtet, hört auch: Ihr habt uns nicht geholfen, ihr helft uns auch heute nicht. Wir haben anderes zu tun, als uns im Nachdenken zu erschöpfen, warum die Älteren nichts zustande bringen. Wir haben etwas gelernt (und das haben die jungen Technokraten wirklich), wir werden etwas auf die Beine stellen und wir werden später, wenn wir die Zügel des Staates in die Hände nehmen, weitersehen und miteinander reden, von gleich zu gleich.

Das ist Resignation, ins Positive gewendet.

Kein Volk kann auf die Dauer ohne Selbstbewußtsein leben, auch nicht der Teil des deutschen Volkes, der in der DDR lebt. Die Frage, was nach nationalistischen Exzessen und nach der Betäubung durch die Niederlage aus dem deutschen Nationalgefühl wird, ob es sich zu einem Stolz ohne Überheblichkeit findet, ist nicht nur ein Problem der Bundesrepublik. Diese Frage stellt sich auch in der DDR und für ihr Verhältnis gegenüber osteuropäischen Staaten und Völkern. So viel scheint klar zu sein, daß die nationale Frage auch in der DDR nicht zu unterdrücken ist.

Etwas davon schwingt mit, wenn man von drüben Fragen hört, in denen schon die Antwort liegt: Wer ist denn der bessere Deutsche? Hatten wir es nicht schwerer? Entscheidet sich das Schicksal eines Volkes nicht dort, wo es am ärgsten bedrängt ist? Welche Hoffnung auf Einheit hättet ihr ohne uns?

Es erinnert an den Stolz auf das Sich-groß-Hungern.

Diese Leute sind allerdings keine Phantasten. Ihr Alltag besteht aus Rechnen. Ihr Glaubensbekenntnis ist der Produktionserfolg, nicht die Ideologie. Wir nennen solche ...

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