Das Alte endet
Wir brauchen Sie nicht mehr.«
Die Worte hallten durch seinen Kopf, immer und immer wieder. Für einen Moment überlegte Niklas, ob es vielleicht ein Witz gewesen war. Aber nein, sein Chef hatte noch nie Witze gemacht. Statt zu lachen sollte er also vielleicht besser aufspringen und diesem aufgeblasenen Zwerg sagen, was er wirklich über ihn dachte. Die Versuchung war da, aber wozu das ganze Theater? In einem Film mag es ja unterhaltsam sein, wenn jemand ausflippt und in einem spontanen Rachefeldzug seinen Chef wild beschimpft, aber das hier war kein Film. Das hier war die nüchterne Realität.
Acht Jahre lang hatte Niklas an einem großen Schreibtisch in einer Bankfiliale gesessen und Kunden beraten. Die meisten waren zu ihm gekommen, weil sie ihr Geld für sich arbeiten lassen wollten. Dabei war diese Idee völlig absurd, denn Geld kann überhaupt nicht arbeiten. Entweder man schuftet selbst, oder man lässt andere für sich schuften. Und wenn man andere die Arbeit machen lässt, kann dies entweder auf faire Art und Weise passieren, oder es wird geherrscht und ausgebeutet. In der Welt, die Niklas in den letzten Jahren kennengelernt hatte, gab es dafür eine einfache Verteilungsformel: Je größer die Gier, desto größer die Ausbeutung. Der eigene Profit war schließlich wichtiger als das Wohl eines Fremden, vor allem eines Fremden in einem fernen Land.
Doch Ausbeutung und Fairness hin oder her – wenn Geld fließt, sind es immer Menschen, die die Arbeit ausführen. Jedenfalls war Niklas bisher davon ausgegangen, dass es so ist.
»Wie meinen Sie das, Sie brauchen mich nicht mehr?«
»So, wie ich es gesagt habe«, gab der Filialleiter ungerührt von sich. »Sie sehen doch selbst, was los ist, oder?«
Niklas ließ seine Augen von dem starren Gesicht seines Vorgesetzten zum Fenster wandern. Es war ein grauer Frühlingsmorgen, kalt und nass und abweisend.
»Die meisten Menschen erledigen ihre Bankgeschäfte heutzutage im Internet. Es macht also keinen Sinn, weiterhin so viele Filialen zu unterhalten.«
»Aber die Leute wollen doch nach wie vor beraten werden«, wandte Niklas ein.
»Natürlich wollen sie das, aber sie können sich auch online beraten lassen.«
»Das sind doch meistens irgendwelche unpersönlichen Programme mit wirren Algorithmen«, wehrte er sich, aber sein Chef zuckte nur mit den Schultern.
»Die arbeiten gut, diese Programme.«
Ihre Blicke trafen sich. Wut und Enttäuschung auf der einen, Leere und Ablehnung auf der anderen Seite.
»Ich kann nichts daran ändern«, sagte der Filialleiter und reichte Niklas die Entlassungspapiere. »Sie können selbst wählen: Entweder Sie gehen sofort und bekommen eine angemessene Abfindung, oder Sie bleiben noch fünf Monate bis zum Ende Ihres Vertrages und verzichten auf weitere Ansprüche.«
Dann drehte er sich zur Seite und nahm eine weitere Akte von dem Stapel, der sich neben ihm auftürmte. Die nächste Kündigung.
»Das war alles?« Stummes Nicken.
Zehn Minuten später war Niklas auf dem Heimweg. Anstatt wie sonst die Straßenbahn zu nehmen, hatte er sich entschieden, zu Fuß zu gehen. Der penetrante Nieselregen durchnässte seinen dunkelblauen Anzug und die persönlichen Unterlagen, die er unter seinem Arm trug. Beides war ihm egal.
Noch vor wenigen Stunden war er wie jeden Morgen bei der Arbeit erschienen, hatte die nette Frau an Schalter vier begrüßt und sich pflichtbewusst dem Alltag gestellt. Nun war das plötzlich alles vorbei. Niklas war zweiunddreißig Jahre alt und hatte sich für den schnellen Tod und die Abfindung entschieden. Was hätte er noch monatelang ausharren sollen, in einem Job, den er schon längst verloren hatte? Nein, dann lieber direkt klare Verhältnisse schaffen, auch wenn eigentlich alles ganz anders geplant gewesen war.
Bis jetzt hatte Niklas gedacht, er hätte im Leben alles richtig gemacht, um eine sichere und erfüllte Zukunft zu haben. Immer hatte er die gut gemeinten Ratschläge seiner Eltern und der Gesellschaft befolgt: Er war ein guter Schüler gewesen, hatte sich ohne Umwege direkt zur Uni begeben, das Studium in Regelzeit abgeschlossen und anschließend den Job bei der Bank angetreten. Er besaß einen Bausparvertrag und hatte sich trotz seiner jungen Jahre bereits um eine private Rentenvorsorge gekümmert. Sein Leben war immer geradeaus verlaufen, ohne Ecken, Kanten und Kurven. Er war der vorbildliche brave Bürger, der nie aufmuckte und alles so machte, wie es sich gehörte. Wirklich glücklich gemacht hatte ihn allerdings nichts von diesen Dingen. Immerhin hatte sein Job ihm ein bequemes Leben ermöglicht, doch dieser Job war nun weg.
Die Kündigung war überraschend gekommen, auch wenn es vorher viele Anzeichen gegeben hatte. So hatte er schon seit geraumer Zeit beobachten können, wie die Kundenzahlen in der Bank in der Tat stetig zurückgegangen waren. Außerdem hatte er in verschiedenen Fernsehtalkshows gehört, wie Philosophen und vorausdenkende Wissenschaftler davor warnten, dass durch die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung immer mehr Arbeitsplätze wegfallen würden. Es war eine Entwicklung, die nicht aufgehalten werden konnte, und sie war weder gut noch schlecht – leistungsstarke Computer, das allwissende Internet und geschickte Roboter waren schlicht und einfach Teil des konstanten Wandels, an den man sich anpassen musste. Doch im Nachhinein die Zeichen zu interpretieren, ist natürlich viel einfacher, als sie im Moment ihres Auftauchens klar zu sehen, ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln.
Der Regen wurde stärker. Niklas dachte nicht daran, sich irgendwo unterzustellen, und ging stattdessen wie in Trance weiter den leeren Bürgersteig entlang. Er erinnerte sich an ein Gespräch mit einem Freund, einige Monate zuvor. Sie hatten genau über diese Probleme gesprochen, über die möglichen Konsequenzen von immer mehr Technologie und klugen Maschinen, die eines Tages den Menschen weitestgehend überflüssig machen würden. Ihnen war bewusst, dass sie in dieser Veränderung schon mitten drin steckten. Trotzdem schien sie noch sehr weit weg zu sein, als würde es noch lange dauern, bis diese ferne Zukunft ihre eigene Gegenwart betreffen würde. Außerdem hatte Niklas sich überhaupt nicht vorstellen können, dass es irgendwann ihn selbst treffen könnte. Die anderen würden ihre Arbeit verlieren und leiden, die anderen würden sich an die neue Welt anpassen müssen. Er selbst hatte doch alles richtig gemacht, was sollte also schief gehen?
An einem kalten Morgen Ende März war er nun eines Besseren belehrt worden. »Viel Glück bei Ihrer weiteren Karriere«, hatte er den Filialleiter beim Rausgehen noch sagen hören. Karriere. Glück.
Der Weg hatte sich inzwischen in ein Meer von Pfützen verwandelt. Niklas passierte einige Schaufenster, eine Bäckerei, dann eine Bushaltestelle. Sein Blick folgte einer jungen Frau, die unter einem roten Regenschirm mit schnellen Schritten die Straße überquerte. Er wollte gerade wieder die Augen nach vorne richten, als er auf der anderen Straßenseite das Logo seiner Bank sah. Abrupt blieb er stehen und betrachtete die Filiale, die kaum von seiner zu unterscheiden war. Niklas stieß einen langen Seufzer aus. Noch vor einer knappen Stunde hatte er ebenfalls einen Platz im Trockenen gehabt. Jetzt stand er draußen im strömenden Regen. Allein.
Er ging weiter und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Weinen, weil er gerade zum ersten Mal in seinem Leben aus dem fahrenden Karrierezug geschmissen worden war, oder lachen, weil er endlich diesen schwachsinnigen Job los war. Denn was hatte er schon Tolles gemacht? Sicher, er half anderen Menschen, ihr Geld zu vermehren und genoss auch selbst ein gutes Einkommen, aber er hatte in keinem Moment das Gefühl, irgendetwas wirklich Sinnvolles zur Welt beizutragen. Er wusste, wo seine Bank das Geld investierte, um möglichst große Gewinne zu erzielen, und so viel stand fest: Es waren keine Investitionen in nachhaltige oder soziale Projekte. Meistens ging es um Waffen, Medikamente und andere dubiose Geschäftspraktiken. Wenn man durch seine tägliche Arbeit indirekt an diesem dunklen Spiel beteiligt war, wie sollte man da Freude an seinem Job entwickeln? Außerdem war es einfach dumm, sich wie Niklas tagtäglich von einem machtbesessenen Chef tyrannisieren zu lassen. Soweit also die positiven Seiten der Kündigung.
Eigentlich Gründe genug, sich nicht aufzuregen, sondern die plötzliche Schicksalswendung als Chance anzusehen. Das Problem war allerdings, dass Niklas weder in der Schule noch in der Universität gelernt hatte, was genau zu tun ist, wenn man aus dem fahrenden Zug geschmissen wurde. Scheitern war bisher nie Teil seines offiziellen Lehrplans gewesen.
Zum Glück gibt es aber noch einen anderen Lehrer, der genau das unterrichtet, was in Klassenzimmern und Hörsälen keinen Platz findet. Es ist das Leben höchstpersönlich! Immer wieder lässt es seine Schüler stürzen, damit sie lernen, aufzustehen.
Niklas erreichte sein Wohnviertel. Verglichen mit dem Rest der Großstadt war es eine ruhige Gegend mit wenig Verkehr. An der letzten Kreuzung vor seiner Wohnung wechselte er die Straßenseite und blieb plötzlich mitten auf der Kreuzung stehen. Es schüttete unaufhörlich und dicke Tropfen fielen von seinen blonden Locken. Für einen Moment schloss er die Augen und atmete tief durch. Nein, nach dem Sturz liegenzubleiben war für ihn keine Option. Natürlich würde er wieder aufstehen! Die Frage war nur, welche Richtung er jetzt einschlagen sollte.
Er öffnete die Augen und begann, sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Wenn er seinem bisherigen Weg folgen würde, würde er sich direkt einen neuen Job suchen,...