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Kindheit und Jugend
(1933–1949)
Ich war ein Kind, das großes Glück hatte:
Ich wurde mitten in die Musik hineingeboren.
Claudio Abbado[1]
«Das klingende Haus»
Claudio Abbados Leben kennt den verheißungsvollen Auftakt, durch den musikalische Talente ihr Glück schmieden: Vater und Mutter sind Musiker, die Geschwister musizieren, das «klingende» Elternhaus macht das Verstehen der «Sprache» aus Noten und Klängen kinderleicht, deren Geheimnisse sich spielerisch entschlüsseln und erlernen lassen.
Die frühe Lebenszeit bis ins Alter bewahren wie eine Art heimlicher Gegenwart – Claudio Abbado ist das gelungen. 1986 erschien in Italien «La casa dei suoni» (Das klingende Haus), ein Musikbuch für Kinder.[2] In kurzen Begleittexten zu Illustrationen von Paolo Cardoni[3] teilt Abbado Erinnerungen mit an sein Mailänder Elternhaus, an frühe Begegnungen mit der Kammermusik, an Erlebnisse gemeinsamen Musizierens und erste Besuche in der Mailänder Scala. Und der Autor erklärt seinen jungen Lesern ganz nebenbei, was es mit der Musik als ernster Kunst auf sich hat, auf welche Weise die Töne und Klänge entstehen, wie die Streich-, Blas- und Schlaginstrumente gehandhabt werden oder auch, wie ein Orchester und wie die Aufgaben des Dirigenten beschaffen sind. Er zeigt ihnen ferner, was Oper und Symphonie zu bieten haben. Sehr wichtig ist ihm die Gewissheit, dass alle Musik auf eine bestimmte Art und Weise ganz und gar «real», dass sie mit dem Leben verbunden ist: «Einen Rat nur möchte ich meinen Lesern, den Musikern und Zuhörern von morgen, mit auf den Weg geben: Haltet euch immer den engen Zusammenhang zwischen der Musik und der Wirklichkeit vor Augen. Denn jede Musik ist ein Echo und ein Abbild ihrer Zeit.»
«Es ist des Lernens kein Ende» – Robert Schumanns finaler Merksatz in seinen «Musikalischen Haus- und Lebensregeln» scheint Claudio Abbados ganzes Musikertum bestimmt zu haben. Am 26. Juni 1933 wird er in Mailand geboren – als drittes von vier Kindern einer bürgerlichen Familie, in der die Musik, die Künste und die Wissenschaften zu Leitmotiven eines guten Lebens geworden sind. Der acht Jahre ältere Bruder Marcello wird Pianist und später Direktor des Mailänder Konservatoriums «Giuseppe Verdi», die Schwester Luciana spielt Geige und tritt in den Mailänder Musikverlag Ricordi ein, gründet das Festival Milano Musica. Der jüngere Bruder Gabriele geht seinen Weg als Architekt.
Claudio (l.) mit den Geschwistern Marcello, Luciana, Gabriele und der Mutter
Claudio und seine Schwester Luciana
Michelangelo Abbado, Claudios Vater, im Jahr 1900 in der piemontesischen Stadt Alba geboren, ist Geiger. Er unterrichtet als Professor am Mailänder Konservatorium und gründet später ein Kammermusikensemble, mit dem der junge Claudio musizieren wird. Als Kind hört und beobachtet er eines Tages heimlich durch einen Türspalt, wie der Vater auf der Violine ein Stück spielt, das ihn fesselt: Johann Sebastian Bachs berühmte Chaconne für Geige allein: «Diese Sprache war sicher sehr schwierig, aber außerordentlich schön. Lange Zeit hörte ich ganz still zu, ohne mich bemerkbar zu machen, denn ich hatte Angst, den Zauber zu zerstören.»
Vater Michelangelo erteilt Claudio mit Strenge erste Geigenstunden. Doch erst die weißen und schwarzen Tasten des Klaviers können den Knaben begeistern. Die sizilianische Mutter Maria Carmela Savagnone, 1899 in Palermo geboren und von französischen Nonnen erzogen, ist selbst Pianistin und Klavierlehrerin, sie liebt die Dichtung und führt ihren Sohn Claudio mit großer Güte und Einfühlung in die Kunst des Klavierspielens ein. Sie erzählt ihren Kindern gern Märchen und erfindet für sie Geschichten. Sie schreibt auch selbst Texte und veröffentlicht Kinderbücher. «Die Mama bezauberte mich mit ihren Geschichten über Sizilien, ihre Heimat, und über das ferne Persien. Auch ihre Phantasie war für mich Musik; ich bat sie, mir alle Geheimnisse der Klänge zu erklären, die Papas Leben erfüllten, und sie wusste mir diese Welt aufregender zu gestalten als ein Märchen.»
Es ist die musische Familie in der Mailänder Via Fogazzaro, unter deren Fittichen die künstlerischen Anlagen und charakterlichen Eigenheiten des Musikers Claudio Abbado erwachen: Offenherzigkeit und geistige Interessen lassen ihn sein Künstlerleben lang frei, emanzipiert und tiefgründig denken und empfinden, wohl stärker, als es im Musikmetier der virtuosen Hochbegabungen und prominenten Überflieger die Regel ist. Das Lesen wird zum Lebenselixier eines Knaben, der auf Fotografien schmächtig, in sich gekehrt, sanftmütig versonnen, fast fragil erscheint. Und dann strömen ihm aus dem Grammophonapparat im Elternhaus die wundersamen Musikstücke von Bach und Mozart, Beethoven und Brahms, von Rossini und Verdi entgegen – mit Hilfe der sich rasch drehenden, geheimnisvoll kratzenden Scheiben aus schwarzem Schellack. Noch Jahrzehnte später erinnert sich Claudio Abbado an die drei Schellackplatten, die ihm am wichtigsten waren: «eine mit dem Sänger Schaljapin als Boris, ein Violinkonzert von Mozart mit Yehudi Menuhin und eine mit Beethovens ‹Coriolan›, dirigiert von Willem Mengelberg. Ich habe diese Platten als kleines Kind Hunderte Male gehört.»[4] Mussorgskis «Boris Godunow» blieb im Zentrum seiner Opernwelt.
Ein Freund der Mailänder Musikerfamilie, der kluge hochgebildete Dirigent aus Bergamo, Gianandrea Gavazzeni, der im Teatro alla Scala regelmäßig am Pult stand, als Musikschriftsteller tätig war und als Pianist zur Kammermusik der Familie Abbado beitrug, hat der gastfreundlichen Lebensart im Hause Abbado eine Erinnerung gewidmet: «Die Familie des geigenden Freundes ist die ordentlichste und organisierteste, die mir je begegnet ist. Aber es ist eine Ordnung, die keine Schwere kennt, denn sie ist heiter und fröhlich, hat einen eigenen spontanen Rhythmus ohne Strenge und ohne Posen.» Gavazzeni beeindruckte besonders Claudio Abbados Mutter als Gastgeberin, «die vollkommenste Musikerfrau unserer Zeit», die, «hätte sie zweihundert Jahre früher gelebt, eine Anna Magdalena Bach hätte sein können».[5]
Das Opernhaus seiner Heimatstadt, das in der Welt berühmte Mailänder Teatro alla Scala, besucht Claudio Abbado zum ersten Mal als Siebenjähriger, in Begleitung der Familie. Dort hört er in einem Symphoniekonzert unter der Leitung Antonio Guarnieris die Orchestertrilogie «Nocturnes» von Claude Debussy. Die gleißende Sinnenfreude der Musik nimmt den Knaben mit ihrem instrumentalen Farbenglitzer und der Anmut tänzerischer Rhythmen vollkommen gefangen: «Besonders beeindruckte mich die Musik … mit dem Klang der Trompeten, der, wie von fernher kommend, mächtig anschwillt wie ein Zauberton … Jener Abend im Teatro alla Scala war sehr bedeutungsvoll für mich. Ich war fasziniert von der Möglichkeit, mit so vielen Musikern gemeinsam zu spielen, und von der Wichtigkeit des kleinen Mannes, der sie alle lenkte, als ob sie an einem Faden hingen.» Damals notierte er in seinem Tagebuch das Verlangen, «dass auch ich eines Tages diese Musik dirigieren würde».
Die erste Oper, die der Achtjährige in Begleitung von Vater und Mutter erlebt, ist Giuseppe Verdis «Aida». Dem Berliner Gesprächspartner Frithjof Hager schilderte Abbado später, wie er «nach der Vorstellung allein auf der Straße» stand und die Eltern ihn fragten, «warum ich nicht mit ihnen gehen wollte. Dass mich aber diese Oper erschüttert hatte, das wollte ich keinem anderen zeigen.»[6]
Noch stärker und folgenreicher als der frühe Besuch im Opernhaus wird für den Knaben die fortwährende Nähe zur Musik und zum Musizieren im Elternhaus. Die Hauskonzerte sind es, die sein Hören schulen, seine Hörexkursionen ins Innere der Musik, die Zauberwelt der Klänge und all der Verästelungen von Tönen und Tonbewegungen, in die Kammermusik. Der mühelose Zugang zur Musik und die Lust auf ihre umfassende Aneignung werden für einen jungen Menschen zum Antrieb, sein Leben der Musik und dem Musizieren zu widmen. Die besondere Zuneigung gilt der Kammermusik.
Selbst musizieren, Kammermusik spielen in kleinen Gruppen und variablen Formationen, das verschafft selbst denen, die bloß zuhören, einen unmittelbaren, persönlichen Zugang zur Musik – das Glücksgefühl des Wahrnehmens und Entzifferns einer klingenden Grammatik und von «Botschaften», deren verwobene Tonmotive und Melodien, deren Rhythmen und Klanggesten wirklich zu...