Pop – was ist das, und warum brauche ich dazu eine Gebrauchsanweisung?
Pop ist überall, und jeder redet über ihn – oder ist es eine Sie? Man spricht von Pop-Art, Popmusik, Popliteratur und sogar Popkultur, und jeder scheint zu wissen, was damit gemeint ist. Dabei denken die einen vielleicht zunächst an Andy Warhol, der die bunte Nachkriegswelt des Konsums in seiner Kunst abbildete und Suppendosen zu Kunstwerken erklärte. Andere eher an die Musik der Beatles oder die Inszenierungen und Verkleidungen von David Bowie, an die Superstars der Achtziger Madonna, Michael Jackson und Prince, an das Glamour-Paar Jay-Z und Beyoncé oder an die schauspielende Sängerin oder singende Schauspielerin Lady Gaga. Wieder andere rümpfen die Nase, assoziieren mit dem Wort vor allem das Triviale und Oberflächliche der heutigen Kultur, die für das pure Amüsement und die Zerstreuung der Massen produzierten Produkte der Unterhaltungsindustrie – und vergessen dabei, dass auch die subkulturellen Ursprünge von Punk, Reggae oder Hip-Hop nichts anderes sind als Pop.
Für ein Buch, das behauptet, eine Gebrauchsanweisung zu sein, scheint es mir jedoch zunächst sinnvoll, sich diesem allgegenwärtigen Phänomen nicht über Kunst, Künstler oder Kulturtheorie zu nähern, sondern über etwas, das wir alle immer griffbereit haben. Pop findet man beispielsweise oft in Hosen-, Mantel- oder Umhängetaschen. Es wäre jetzt an der Zeit, mal nachzuschauen. Nichts gefunden? Nur einen Schlüsselbund, ein etwas zerfasertes und verkrumpeltes Taschentuch, ein Mobiltelefon und zwei Pfandmarken von irgendeinem Konzert, die nicht eingelöst wurden, weil es schon spät und die Schlange vor der Theke zu lang war? Ist auf dem Telefon eine App zum Abspielen von Musik und eine zum Abspielen von Videos? Und ein Internetbrowser, mit ein paar Lesezeichen zu irgendwelchen bevorzugten Zeitungen und Magazinen, deren Lektüre in der U-Bahn oder beim Arzt die Zeit verkürzen, und sind da vielleicht auch noch ein paar Bookmarks zu Seiten von Online-Versandhäusern für Kleidung, Bücher, Inneneinrichtung? Sicher findet sich auch ein E-Mail-Programm, und im Posteingang sind einige Nachrichten von Freunden, die von den neuesten Songs, Serien oder Büchern schwärmen oder nach einer Begleitung fürs Kino oder ein Konzert in der nächsten Woche suchen.
Pop ist all das, besteht aus Klängen, Bildern, Texten, Kleidung, Artefakten und Gesprächen, die sich in unserer Massenkultur verbreiten. Pop ist ein Bedeutungszusammenhang, der sich um ein Produkt der Musikindustrie herum entfaltet. So haben die meisten Texte in diesem Buch ihren Ausgangspunkt zwar in der Musik, doch die anderen oben genannten Elemente schwingen immer mit. Die Musik an sich ist erst mal ein Produkt der Unterhaltungsindustrie, doch indem wir uns damit beschäftigen, sie teilen und uns darüber austauschen, wird daraus das, was wir Pop nennen. Ein Song wird für uns erst relevant und aufregend, wenn er auf unser Leben trifft.
Als ich im Oberstufenraum des Johannes-Kepler-Gymnasiums im westfälischen Ibbenbüren zum ersten Mal die amerikanische Band Pavement hörte, die ein älterer, mir nicht bekannter Schüler in den Schulkassettenrekorder gelegt hatte, änderte das alles. Ich glaube, es war der Song »Here«, in dem der Sänger Stephen Malkmus anfangs äußerst gelangweilt quengelt: »I was dressed for success / But success it never comes / And I’m the only one who laughs / At your jokes when they are so bad / And your jokes are always bad / But they’re not as bad as this …«
Wenige Wochen später hatte ich dank der Informationen, die ich mir mühsam aus dem Musikfernsehen und britischen Musikmagazinen geholt hatte, nicht nur einige Freunde von der weltbewegenden Wichtigkeit dieser Band überzeugt. Manche trugen, so wie ich, bald auch ähnliche Frisuren wie Malkmus, hatten sich ein seinem Stil würdiges Hemd gekauft und trugen die gleichen Retro-Turnschuhe. Seine hängerisch-kraftlose Haltung und die ungelenk-schlaksigen Bewegungen musste ich nicht extra einstudieren, die hatte ich von Haus aus drauf. Und seine Verweigerungshaltung gegenüber jeder Art von falscher Pose und kommerzieller Vereinnahmung war mir sofort sympathisch.
Popmusik scheint also mehr zu sein als ein paar Akkorde und ein bisschen Gesang – nämlich ein komplexer Zusammenhang aus kulturellen Zeichen und versteckten Codes, Praktiken und Strategien, Outfits, Haltungen und Geschichten. Pop ist Teil des kapitalistischen Systems und stellt sich zugleich manchmal dagegen. Und so, wie ich den Begriff in diesem Buch verstehe, war sein Nährboden der nach Ende des Krieges durch zunehmenden Wohlstand größer werdende Markt junger Menschen mit ausreichender Kaufkraft. Immer mehr Haushalte hatten mit dem Fernseher ein Fenster in die aufregende bunte weite Welt (auch wenn die zunächst noch in Schwarz-Weiß erschien), und immer mehr Jugendliche hatten Geld, das sie hauptsächlich dafür ausgeben wollten, an dieser Welt teilzuhaben. Sie wollten die engen Grenzen ihres Elternhauses sprengen, sie wollten nicht länger still in Kinosesseln sitzen und die Sehnsüchte anderer nachempfinden, sie wollten sich bewegen, sie wollten ausbrechen, sie wollten Spaß haben. Sie sahen und hörten Sänger, die genau davon erzählten und dazu zuckten, als würden sie sich wie der große Entfesselungskünstler Harry Houdini aus den Ketten befreien, die die Gesellschaft ihnen angelegt hatte: Chuck Berry, Little Richard, Jerry Lee Lewis, Elvis Presley, Buddy Holly.
Vor allem diese fünf zettelten eine Revolution an, verdrehten einer Generation den Kopf – und auch die Jugendlichen nachfolgender Generationen liefen daraufhin mit verdrehten Köpfen herum und unterhielten sich in dieser Sprache, die jeder von ihnen verstand und durch die jeder von ihnen Individualität ausdrücken konnte. Denn obwohl die Popmusik ein Massenphänomen war, konnte man sich über die kleinen Unterschiede und Abweichungen als Individuum definieren: durch die Bands, die man hörte, und noch mehr durch die, die man nicht hörte, durch die Zeichen, die man mit seiner Kleidung und seiner Frisur vermittelte, über die Art, wie man sprach und wie man tanzte, und die Magazine, die man las. Die feinen Unterschiede waren mindestens genauso wichtig wie das Verbindende.
Doch das hat sich mittlerweile geändert. In einer Zeit, in der jede Form von Musik jederzeit verfügbar ist, muss man sich nicht mehr entscheiden, was man für seine begrenzten Ressourcen kaufen und hören will, und somit: wer man sein will. Man bezahlt höchstens ein Abo für einen Streamingdienst und hört einfach alles. Am Morgen ist man ein Mönch in seiner Klause und lauscht Johann Sebastian Bach, mittags ist man Achtzigerjahre-Popper und wippt den Kopf zu den Pet Shop Boys, nachmittags fühlt man sich als Mod, genießt den Soul der Impressions und peitscht sich mit The Who auf, wird mit den Get Up Kids zum Emo, mit den Buzzcocks zum Punk, zerstört diese Identität mit ein bisschen Pink Floyd, um dann mit dem Rapper und Pulitzerpreisträger Kendrick Lamar und der Neo-Soul-Sängerin Erykah Badu den Tag zu beschließen.
Jeden Moment jemand anders sein zu können – auch das ist eine Freiheit, wie sie nur die Popmusik bieten kann. Andererseits ist in dieser neuen Form der Nutzung von Musik auch eine gewisse Beliebigkeit und Unverbindlichkeit angelegt. Der Bedeutungszusammenhang löst sich auf. Es gibt keine ausgeprägten Haltungen mehr, keine Outfits, keine Szenen. Und auch die Texte, die einem kulturelle und soziale Zusammenhänge zur Musik aufschlüsseln und Geschichten darüber erzählen können, werden immer seltener gelesen. Heute lässt man sich von Algorithmen leiten, die einem zeigen, was man hören soll. Warum man das tun soll, erklären sie allerdings nicht. So bleibt man als Hörer in der gated community seines einmal anhand von Eckdaten festgelegten Geschmacks gefangen, jede Form von Reibung und Irritation wird vermieden, der Dissens und die Distinktion, die einst entscheidend waren für die identitätsstiftende Kraft der Popmusik, gehen damit verloren. Das Wissen über die feinen Unterschiede und die großen Fragen verliert allmählich an Bedeutung. Das merken vor allem die Musikmagazine und -kritiker, deren Vermittlerfunktion und Einordnungen nicht mehr so gefragt sind wie früher. Die Künstler kommunizieren über soziale Medien direkt mit ihren Fans, anstatt Journalisten, wie etwa dem Autor dieses Buches, Interviews zu geben. Jede ihrer Äußerungen ist mehrfach vom Management gecheckt, die Instagram-Story hat den Artikel ersetzt und das Marketing den Mythos. Musik wird in Playlists eingeordnet und nicht mehr in ein subtiles persönliches Raster, das man aus Plattenkritiken oder Abhandlungen über Stile, Szenen oder Künstler entwickelt hat.
Es ist sicher kein Zufall, dass in der ersten Hälfte der Zehnerjahre dieses Jahrhunderts gleich vier gewichtige Werke erschienen sind, die sich mit der Geschichte der Popmusik beschäftigten und ein bisschen wirkten, als seien es eigentlich vorweggenommene Nachrufe auf eine alte Industrie und ein tradiertes Popverständnis. Der britische Musikjournalist Simon Reynolds (Jahrgang 1963) beleuchtete 2012 in seinem Buch Retromania die Sucht der Popmusik nach ihrer eigenen Vergangenheit – schrieb über die vielen Wiederveröffentlichungen alter Platten und über Reunions ehemals großer oder auch nicht so großer Bands, die das kriselnde Musikgeschäft am Laufen halten und einem den Eindruck vermitteln, Popmusik musealisiere sich zunehmend selbst.
Im Jahr darauf lieferte der britische Musiker und Autor Bob Stanley (Jahrgang 1964) mit Yeah Yeah Yeah – The Story of Modern Pop gewissermaßen den (übrigens sehr unterhaltsamen und kenntnisreichen)...