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E-Book

Beethoven

Der Mensch hinter dem Mythos

AutorKirsten Jüngling
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783843721882
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Er war ein Genie, einer der größten Komponisten der Weltgeschichte. Er hatte Esprit und Humor. Doch er war auch ein Mensch, der dem Leben nicht gewachsen war. Kirsten Jüngling schildert in ihrer Biografie, wer sich wirklich hinter den großartigen Werken verbirgt, die Ludwig van Beethoven der Welt hinterlassen hat: ein überaus widersprüchlicher, launischer und misanthropischer Mann, der mit siebzehn seine Mutter verlor und unter einem herrischen Vater litt. Der sein Privatleben kaum im Griff hatte. Der Nähe suchte, aber ein schwieriges Verhältnis zu Frauen, Freunden und seiner Familie hatte. Der seinen Neffen mit überzogenen Erziehungsmaßnahmen kujonierte. Ein facettenreiches Lebensbild, das uns Beethoven so nah bringt wie kaum eine Biografie zuvor.

Kirsten Jüngling, geboren 1949, schrieb hoch gelobte Biografien über Elly Heuss-Knapp, Elizabeth von Arnim, Frieda von Richthofen, Franz und Maria Marc, Katia Mann sowie über Schillers Frau Charlotte und deren Schwester Caroline von Lengefeld. 2008 legte sie die erste Biografie von Heinrich Manns Ehefrau Nelly vor. Zuletzt erschien ihr Buch über Emil Nolde mit spektakulären neuen Erkenntnissen. Kirsten Jüngling lebt in Köln.

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Leseprobe

2. »Mein Vaterland die schöne gegend, in der ich das Licht der Welt erblickte«


Beethoven an Franz Gerhard Wegeler in Bonn, Wien, 29. Juni 1801

Beethovens Geburtshaus steht in Bonn. Nicht im niederländischen Städtchen Zutphen, wie immer mal wieder behauptet wird. Da müsste man tatsächlich weit gehen, nicht nur in Kilometern. Man müsste das Geburtsdatum ändern, sicher sein, dass seine Eltern 1772 dort waren und dass Ludwig in einem Gasthof namens »De Fransche tuin« zur Welt kam.

Das wahre, das Bonner Geburtshaus ist längst Wallfahrts-, Gedenk- und Forschungsstätte. Bis vor Kurzem konnte man dort noch einen Blick in ein Zimmer werfen, das sein Geburtszimmer gewesen sein sollte: eine ruhige Ecke unter dem Dachgiebel im Hinterhaus, damals sogar noch kleiner als heute, zu erreichen über eine schmale Stiege. Zum Geburtstermin im Dezember 1770 muss es dort oben sehr kalt gewesen sein. Ganz ausgeschlossen ist dieser Ort nicht, denn die Familien der Hof­angestellten, zu denen auch Beethovens Vater gehörte, wurden von den Hofärzten versorgt, und die waren es gewohnt, ihre Patienten in deren privaten Räumen, im Schlafzimmer also, zu behandeln. Maria Magdalena könnte ihren Ludwig aber auch in der warmen Küche unten im Haus zur Welt gebracht haben, nicht im Bett liegend, sondern hockend oder kniend. Nur sein Taufdatum ist belegt, wie bei seinen Geschwistern auch. Es war der 17. Dezember. Sollte er am 16. geboren worden sein, wäre er ein Sonntagskind gewesen. Das kann sein, aber auch, dass er bereits an seinem Geburtstag getauft wurde, was wegen der hohen Säuglingssterblichkeitsrate damals oft so gehandhabt wurde.

Ludwig war Maria Magdalenas drittes Kind und der zweite Sohn, den sie mit ihrem zweiten Ehemann Johann (oder Jean) van Beethoven hatte, aber das erste Kind, das sie aufwachsen sah. Danach kamen noch fünf, von denen nur zwei am Leben blieben: Kaspar Anton Carl (getauft am 2. Oktober 1774) und Nikolaus Johann (getauft am 2. Oktober 1776). Anna Maria Franziska (getauft am 23. Februar 1779) lebte nur ein paar Tage. Franz Georg (getauft am 17. Januar 1781) starb am 16. August 1783, Maria Margaretha Josepha (getauft am 5. Mai 1786) am 26. November 1787. Katholisch war die Familie, wie üblich in Bonn, aber nicht besonders fromm. Daran wird sich auch Ludwig van Beethoven halten.

Erinnerungen von Zeitzeugen entnimmt man, dass Frau van Beethoven ihren Kindern gegenüber keine große Fürsorglichkeit an den Tag legte. Die Kleinen seien in Schmutz und auch schon mal in der Kälte den Dienstboten anvertraut worden, die sich nicht besonders um sie scherten. Kann es sein, dass die Mutter ihr Herz nicht an die Kleinen hängen wollte? Wäre das verwunderlich?

Man sieht also Ludwig in seinem Kinderkleidchen sich selbst überlassen auf irgendeinem Fußboden, drinnen oder draußen, in der Bonngasse 20 (früher 515) auf dem Fußboden sitzen. Die Eltern hatten eine Wohnung mit vermischtem Hof- und Gartenraum »in zweiter Reihe« gemietet, also im eher dunklen Hinterhaus, wo es im Erdgeschoss eine Küche nebst einem unterkellerten Wirtschaftsraum gab, dazu zwei kleine Stuben und eine etwas größere im ersten Stock und darüber mehrere kleine Kammern unterm Dach, wie die, in der Ludwig van Beethoven geboren worden sein könnte. Im Vorderhaus wohnte die Familie Philipp Salomon. Er war Oboist und wie Jean van Beethoven Mitglied der (übrigens sehr angesehenen) Hofkapelle, die dessen Vater, unseres Ludwigs Großvater, im Zenit seiner Karriere leitete.

Der war auch ein Ludwig oder Louis. 1717, gerade fünf Jahre alt, begann er mit dem Eintritt in die Chorschule in Mecheln eine Sängerlaufbahn. Nachdem er auch Orgel- und Generalbassunterricht erhalten hatte, konnte er in Kirchen Aufgaben übernehmen, will heißen arbeiten, zunächst als Tenorist. 1731 ging er als Chorleiter nach Löwen, 1732 als Bassist nach Lüttich und 1733 als Solobassist und Chorsänger nach Bonn in die Dienste von Clemens August von Bayern, Kurfürst und Erzbischof von Köln.

Der junge Mann sah sich in eine sehr spezielle Welt versetzt. Er wurde Zeuge der Vergnügungen des Adels: prunkvolle Messen, Tafelmusik, Theater, Ballett, Maskenbälle. Nach Clemens Augusts Hinscheiden 1761 – so passend: Er starb während eines Balls in den Armen seiner Geliebten, der Baronin von Waldendorf – wurde Louis’ Aufstieg zum Hofkapellmeister möglich, allerdings bei geringeren Einkünften als zuvor üblich, denn unter Maximilian Friedrich ging es nicht mehr so üppig zu. Aber ein Weinhandel nebenbei brachte ebenfalls Geld. Seine Ehefrau soll zur Trinkerin geworden sein. Die Familie kam schließlich nicht mehr mit ihr zurecht, sie wurde in ein als »Irrenanstalt« genutztes Kloster abgeschoben, wo sie mit etwa sechzig Jahren starb.

Louis gelang eine beachtliche und innerhalb der Familie immer sehr geachtete Karriere als Musiker, zumal wenn man seine Herkunft in Betracht zieht. Vater Michael war ein Bäckermeister, der irgendwann auf den Handel mit allem Möglichen umstieg: Immobilien, Spitzen, Gemälde, Möbel. Sein Sohn entschied sich eben für den Handel mit Wein. Der galt damals als gesundes, nicht verunreinigtes Getränk. Louis van Beethoven besaß zwei Keller voll und verkaufte ihn fassweise von Bonn aus, vor allem in die Niederlande.

Sein Sohn Jean setzte dieses Geschäft fort, wie er auch als Sänger in die Fußstapfen des Vaters trat. Zunächst ohne Entgelt sang der Zwölfjährige als Sopran in der kurfürstlichen Hofkapelle. Später, um sein sechzehntes Lebensjahr herum, wurde er Hofmusikus und bezog ein Gehalt, das Jahr für Jahr erhöht wurde. Begabt und ehrgeizig, aber auch leichtsinnig und von einer gewissen Bindungsschwäche soll er gewesen sein. Im renommierten Jesuiten-Gymnasium kam der Junge nicht über das erste Jahr hinaus, und überhaupt war er wohl nicht immer Willens, auf vorgezeichneten Wegen zu gehen. Vom Vater wurde er »Johannes der Läufer« genannt: »[…] lauf nur, lauf nur, du wirst noch einmal an dein End’ laufen«, soll er ihn laut Thayer verspottet haben. Vielleicht, weil dieser Sohn nach Köln, Deutz, Andernach, Koblenz, Ehrenbreitstein und sonst wohin ging, sobald der Vater ein paar Tage nicht zu Hause war. Auf Brautschau, heißt es, mögliche Bonner Arrangements verschmähte er offenbar. Nun, er wurde fündig – kann gut sein, dass dies durch Vermittlung des Bonner Hofviolonisten Rovantini gelang, der ein Verwandter von Maria Magdalena Leym, geborene Keverich, wohnhaft in Ehrenbreitstein, war. Sie war eine schöne, schlanke, ernsthafte Person mit guter Bildung und Erziehung und einem guten Ruf. Geboren im Dezember 1749 als Tochter des Oberhofkochs und der Köchin des Kurfürsten von Trier, verlor sie ihren Vater im Alter von zwölf, heiratete mit sechzehn den kurfürstlichen Kammerherrn Johann Leym und wurde mit nicht einmal neunzehn Witwe. In ihrer Ahnenreihe finden sich reiche Kaufleute, Hofräte und eine Mutter, die ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen konnte, keine schlechte Partie also. Eine Kammerzofe oder ein Hausmädchen, so urteilte Luis van Beethoven, als Schwiegertochter? Aber sein Sohn setzte sich durch, und das war nicht typisch für ihn.

Der Trauung am 12. November 1767 in der Kirche Sankt Remigius folgten keine großen Feierlichkeiten, denn Louis war noch immer gegen die Verbindung, und zwar so sehr, dass er aus den bisher gemeinsam mit dem Sohn bewohnten Räumen in der Rheingasse auszog. Er wollte nicht mit dem Paar unter einem Dach leben, blieb aber in der Nähe und ließ es nicht aus den Augen. Sicher hatte er andere Pläne mit Jean.

Auch für Maria Magdalenas Wahl fehlte die Begeisterung der Familie der Keverichs. Nicht grundlos, wie sich zeigen würde. Ihre Mutter, die als Köchin nach dem frühen Tod des Vaters als Ernährerin ihrer beiden verbliebenen Kindern – vier waren früh verstorben – ihr Bestes gab, erlitt im Jahr nach der Hochzeit einen Nervenzusammenbruch. Sie hatte in dieser kurzen Zeit die Ehe der Tochter derart alimentiert, dass sie ihr ganzes, gewiss unter schweren Bedingungen erarbeitetes Vermögen abschreiben musste, und soll ihr restliches Leben bei Wind und Wetter als Bittstellerin vor Kirchen verbracht haben. Wenigstens ein schwarzes Schaf gab es auch auf dieser Seite der Familie. Von Unterschlagungen ist die Rede, auch Maria Magdalena soll geschädigt worden sein. Ein Prozess half ihr nicht, das Geld zurückzubekommen. Warum sie überhaupt auf Unterstützung aus der Verwandtschaft zurückgriff? Unklar, denn eigentlich war Jean finanziell durchaus in der Lage, seine Familie zu ernähren. Es wird sogar über einen Zusatzverdienst durch Spionieren für den fabelhaften Caspar Anton von Belderbusch, Premierminister des Erzbischofs von Köln und Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches Maximilian Friedrich, gemunkelt. Jeans Bemühungen, nach dem Tod des Vaters dessen Stelle als Hofkapellmeister zu übernehmen, scheiterten allerdings. Offenbar war auch das ererbte Weindepot als Handelsgut irgendwann ausgeschöpft. Danach muss seine eigene Trinkerei einiges gekostet haben. Die eine Flasche, die ihm seine Frau großzügig genehmigte, wenn er seinen Verdienst nach Hause brachte und ihn ihr, sozusagen als Wirtschaftsgeld, in die Schürze...

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