EINE DIAGNOSE UND DIE MACHT DER DÄMONEN IM KOPF
Die Diagnose war schon der Hammer! Es war im Herbst 1984, ich war 28 Jahre alt und wurde erst seit wenigen Wochen auf die Schüler eines Wiener Gymnasiums losgelassen, um ihnen Mathematik beizubringen.
Anfangs war ich eigentlich gar nicht so erschüttert, als ich die Worte meines Hausarztes hörte: „Diabetes – zuckerkrank!“ Zum einen wusste ich in diesem Moment recht wenig mit dieser Diagnose anzufangen, zum anderen war ich erleichtert, keine schlimmere hören zu müssen. Innerhalb von nur vier Tagen hatte sich mein Sehvermögen derart verschlechtert, dass ich mich nicht mehr ohne Führung zurechtfand. Nach einer Untersuchung erfuhr ich von meinem Hausarzt, dass nicht eine Erkrankung der Augen an meinem Zustand schuld war, sondern der extrem hohe Blutzuckerspiegel. Besser Diabetes als Blindheit, das war für mich klar!
Wenige Stunden später war ich im Krankenhaus, die nötigen Labortests wurden durchgeführt. Im Arztzimmer wurde die Erstdiagnose bestätigt und ich erfuhr mehr über meinen neuen Lebensbegleiter: Die folgenden Wochen sollte ich im Spital verbringen, mein ganzes Leben würde ich an der Nadel hängen, um das notwendige Insulin zu spritzen, mein Lebensstil und -rhythmus müssten sich radikal ändern. Nun, das alles klang nicht gerade verheißungsvoll, was mich aber wirklich „knickte“, war der Tonfall, in dem mir das alles mitgeteilt wurde. Der sicher gutgemeinte Versuch persönlicher Anteilnahme an meinem Schicksal durch Sätze wie „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie zu einem der wenigen Fälle gehören, die unter Diabetes Typ 1 leiden.“, warf mich total zurück. In meinem bisherigen Leben hatte ich nicht viel von Regelmäßigkeit gehalten, ich liebte die dauernde Abwechslung. Ich war sieben Monate durch die Welt getingelt, ohne dabei eine geplante Route verfolgt zu haben, die abenteuerlichste Zeit meines Lebens lag gerade einmal drei Wochen hinter mir. Nun sollte das alles vorbei sein?
Weiße Wände, weißes Bettzeug – die Sterilität des Krankenzimmers hatte mich endgültig gefangen genommen. Die ersten Tage waren ja noch recht abwechslungsreich gewesen. Da lag zwar diese unheilvolle Diagnose im Raum, aber sie war noch nicht wirklich in meinem Kopf angekommen. Zum Nachdenken blieb auch nicht viel Zeit, weil ich von Untersuchung zu Untersuchung geschickt wurde und dauernd Besuch bekam – da fiel es leicht, das „Andersgewordensein“ vor mir herzuschieben.
Nun hing ich aber seit einigen Stunden an dieser Dauerinfusion, die mich ans Bett fesselte und durch die mir Insulin ständig in winzigen Dosen zugeführt wurde. Auf diese Weise wollte man meinen Insulinbedarf herausfinden. Davonlaufen war nicht mehr möglich - auch nicht vor mir selbst! Drei Tage sollte diese Prozedur dauern. Ich wünschte mir, dass die Minuten schneller verrinnen würden, Schluss mit diesem Ruhighalten, aber die Zeiger der Uhr blieben ihrem Takt treu. Schäfchen zählen – das ging bis 30 gut, dann ließ ich es wieder bleiben. Ich konnte ja doch nicht schlafen, so mitten am Tag.
Das Warten brachte mich zum Grübeln. Ich verschränkte die Hände unter meinem Kopf, blickte hinauf zur Decke. Sie war weiß wie alles hier im Raum, weiß wie eine Leinwand. Da gab es noch diesen Film, der nur in meinem Kopf existierte, der erst vor wenigen Wochen entstanden war. Unscharf entstanden Bilder einer fremden Welt, nahmen vor meinen Augen Konturen an, reihten sich in einen logischen Ablauf – ein Film aus den Tagen der Freiheit:
Den ganzen Tag war ich von Bäumen, Moos und Wurzeln umgeben gewesen, bin durch knöcheltiefen Schlamm gewatet. Jetzt ist es licht über mir geworden, ein kleiner See liegt vor mir. Das Sonnenlicht des herannahenden Abends verwandelt die Wasseroberfläche in tanzende Goldplättchen. Im grünen Dickicht rund um den See erwachen die Urkräfte des Lebens. Vogelschreie durchbrechen die Stille. Die Lebendigkeit des Waldes umgibt mich nun und ich kann sie doch nicht sehen. Irgendwo brechen Äste – vielleicht ein Wildschwein oder ein Baumkänguru, das die Flucht ergreift. In der Luft mischt sich der stechende Geruch von Fäulnis mit jenem frisch erblühter Blumen.
Ich sauge die Idylle in mich auf, bleibe sitzen und verweile ein wenig. Der Zauber dieses Platzes ist verführerisch – und trügerisch. In weniger als einer Stunde wird sich dieses Paradies von seiner düsteren, geheimnisvollen Seite zeigen.
Wir haben noch keinen Rastplatz für die Nacht gefunden. Nicht der leiseste Hinweis auf menschliche Existenz – seit Stunden. Da war nur dieser schmale Pfad, dem wir den ganzen Tag lang gefolgt sind. Ich habe ihn kaum erkennen können. Nur meine einheimischen Begleiter konnten ihn lesen – die geknickten Äste, die Spuren eines Machetenschlages. Und dieser Pfad gibt Hoffnung, dass es hier im Wald doch noch andere Menschen gibt. Irgendwo! Irgendwo entlang dieses verwachsenen Weges!
Andere Menschen, eine urzeitliche Kulturinsel inmitten dieser wilden, alles dominierenden Natur, das Flackern eines Feuers, einige Süßkartoffeln, die darin garen, das Gewirr von Stimmen – das ist die Geborgenheit, nach der ich mich jetzt sehne.
Einer meiner Begleiter wiederholt immer wieder, dass es nicht mehr weit sein kann, dass wir bald die Hütten seiner Verwandten erreichen müssten. Er vermutet es nur, denn er kennt diesen Teil des Waldes nicht. Ahnungslos und zielstrebig folgen wir dem kaum sichtbaren Faden menschlicher Spuren, der sich durch den unbekannten Wald am Laiagam-Fluss zieht.
Angst hat meine drei Freunde auf diesen verwachsenen Pfad in die Berge, hoch über allen Tälern und Dörfern, getrieben. Sie sind Schüler einer von österreichischen Entwicklungshelfern geleiteten Holzverarbeitungsschule in Wanepap, einem winzigen Dorf im einem wenig erforschten Teil Papua-Neuguineas. Dort habe ich sie kennengelernt. Ein Todesfall in der Familie hat sie gezwungen, in ihr Dorf südlich des großen Laiagam-Dschungels zurückzukehren. Auf den Hauptwegen tobt seit Monaten ein erbitterter Stammeskrieg, der jeden das Leben kostet, der sich von den über das gesamte Gebiet versprengten Kämpfertrupps erwischen lässt. Nur der kaum begangene Weg über die mehr als 3000 Meter hohen Berge erschien den jungen Burschen sicher – für mich die Chance mich anzuhängen, einzutauchen in die Unwirklichkeit einer den Menschen gnadenlos trotzenden Natur. Der Zauber, die Härte, die Fremdartigkeit dieses Waldes passen vollkommen zum Wesen dieser Insel, auf der mir immer mehr das Bewusstsein verloren geht, mich noch in der realen Welt zu befinden.
Selbst die Angst hat in dieser fremdartigen Umgebung etwas schattenhaft Unwirkliches an sich. Wie ein Geisterwesen greift sie aus dem Nichts nach mir, stoppt mich – für Augenblicke. Ich kann hier selbst die Angst nicht mehr als wirklich begreifen, gehe durch sie hindurch wie durch ein Trugbild. Die grasbewachsene Hochfläche, der immer gleiche Trott im knöcheltiefen Schlamm – und dann dieser Einschnitt, wie mit einem riesigen Messer in die gleichförmige Landschaft hineingezogen. Sie ist 15, vielleicht 20 Meter tief – die schmale Schlucht des Laiagam. Ein einziger Baumstamm führt über diesen Abgrund – nicht behauen, rund und nass, Teil einer Realität, die für mich längst zum Spiel geworden ist. Einen Augenblick nur halte ich inne, ich bleibe nicht stehen, gehe weiter, nehme den schlammigen Pfad auf der anderen Seite der Schlucht wieder auf – ohne zurückzublicken. Kein Erschaudern, kein Durchatmen, kein Begreifen!
Und nun gab es aber noch diese Ängste, die nahe bei meinem Krankenbett lauerten. Sie waren anders, nicht laut, nicht erschreckend. Sie gaben mir Zeit, mich mit ihnen zu beschäftigen. Ruhig umlagerten sie mich und drangen in meine Gedankenwelt ein. Zukunftsängste – entstanden durch den Katalog an Geboten und Verboten, der mir mit der Diagnose anvertraut wurde, verstärkt durch die mitleidvolle und erschütterte Anteilnahme meines Umfeldes.
Konnte ich durch diese Ängste hindurchgehen, wie damals an der Schlucht des Laiagam? Solange ich noch im Krankenhaus bleiben musste, würde ich da und doch nicht da sein, würde auf meiner fernen Insel bleiben und die Vergangenheit genießen, die ja doch viel schöner war als das Hier und Jetzt in jenen Tagen.
Ich vermisste sie, die Spontaneität dieser Tage und Wochen im Busch, als nur der Aufgang der Sonne und ihr Untergang mir Grenzen gesetzt hatten. Niemand im Krankenhaus wollte mir diese Spontaneität wiedergeben. Regelmäßige Mahlzeiten, einheitliche Rationen, pünktliches Verabreichen der Insulinspritze – das alles lernte ich dort in Kursen: Tage, die so regelmäßig sein werden, dass sie in ihrer Gleichförmigkeit ihr Antlitz verlieren, sich zum Verwechseln ähnlich werden – ja, mit solchen Tagen „darf“ ich alt werden.
Vom Diabetes hat vermutlich schon jeder gehört, nur wenige wissen aber, was dabei im Körper abläuft und mit welchen Gefahren diese Krankheit verbunden sein...