1 Einleitung: Unbegleitete Minderjährige als Zielgruppe von Mentoringprogrammen
(1) Die Vertragsstaaten stimmen darin überein, dass die Bildung des Kindes darauf gerichtet sein muss, die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen; (…) dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen kulturellen Werten, den nationalen Werten des Landes, in dem es lebt und gegebenenfalls des Landes, aus dem es stammt, sowie vor anderen Kulturen als der eigenen zu vermitteln; das Kind auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft im Geist der Verständigung, des Friedens, der Toleranz, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Freundschaft zwischen allen Völkern und ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen sowie zu Ureinwohnern vorzubereiten;(…)
(Aus Artikel 29 der Konvention über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen vom 20.11.1989)
Die Flüchtlingsbewegung der letzten Jahre, die oftmals auch als Flüchtlingskrise bezeichnet wird, stellt die westlichen Länder, einschließlich Deutschland, vor große Herausforderungen. Spätestens seit deren Höhepunkt 2015 birgt sie die Gefahr, politische wie soziale Keile in die deutsche Gesellschaft zu treiben. Denn Deutschland hat in Relation zu seiner Größe eine sehr große Zahl von Geflohenen aufgenommen, die 2015 mit geschätzt über einer Million Menschen einen Höchststand erreichte. Dies scheint umso erstaunlicher, da Deutschland in seinem Selbstverständnis kein »klassisches« Einwanderungsland ist (Gesley, 2017). Dabei wird hier von »Geflohenen« oder in synonymer Verwendung von »Flüchtlingen« gesprochen1, wenn diese in Angst um ihr Leben vor Verfolgung oder bewaffneten Konflikten fliehen.
Im vorliegenden Manual geht es jedoch nicht um eine gesellschaftspolitische oder psychologische Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Dies ist anderen Texten vorbehalten (vgl. Kals & Redlich, 2018). Vielmehr geht es darum, sich unbegleiteten Minderjährigen als einer besonders schützenswerten Gruppe anzunehmen, die ungeachtet politischer Diskussionen unser Land bereits erreicht hat, hier lebt und deren Schutz entsprechend der Konventionen über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen eine völkerrechtliche Verpflichtung ist. Darüber hinaus gibt es unseres Erachtens auch eine menschliche (»moralische«) Verpflichtung, diesen Kindern und Jugendlichen zu helfen. Diese besteht nicht nur angesichts der Tatsache, dass die Hälfte der Flüchtlinge von 2015/16 die Volljährigkeit noch nicht erreicht hatten (Die Bundesregierung, 2016), sondern sie zeigt sich auch darin, dass es sich überwiegend um männliche Jugendliche gehandelt hat, die demnächst in ihrem Land militärpflichtig geworden wären und für die die Vermeidung ihres Kriegseinsatzes eines der Fluchtmotive gewesen ist. Die Integration dieser Kinder und Jugendlichen in unsere Gesellschaft dient den Betroffenen wie der Gesellschaft gleichermaßen. Während sich unbegleitete Minderjährige in unserer demokratischen und freien Gesellschaft eine selbstgestaltete und sichere Zukunft aufbauen können, bereichern sie einerseits die Vielfalt der deutschen Kultur und Gesellschaft durch den offenen Austausch miteinander, andererseits können sie bei gelungener Integration durch ihre Fähigkeiten und berufliche Tätigkeit über viele Jahrzehnte Teil des deutschen Arbeitsmarktes und damit der Volkswirtschaft sein.
Diese Integrationsaufgabe stellt eine große Herausforderung dar, bei der unseres Erachtens, die bestmögliche Unterstützung und Hilfe herangezogen werden muss. »Mentoring« ist ein solch kraftvolles Instrument, das aus psychologischer Sicht das Potenzial birgt, Kinder und Jugendliche, die zum Teil ohne jegliche familiäre Unterstützung in einem Land mit anderer Kultur und Sprache stranden, zu integrieren (Cole & Blythe, 2010; Gravelmann, 2017).
Wir sprechen dabei bewusst von »unbegleiteten Minderjährigen«. Als unbegleiteter Minderjähriger gilt dabei, wer noch nicht volljährig ist und ohne Sorgeberechtigte in ein fremdes Land flieht oder dort zurückgelassen wird (Diakonie Deutschland, 2016). Die in Deutschland am häufigsten verwendeten Abkürzungen für diese Gruppe umfassen uM (unbegleitete Minderjährige), UMA (unbegleitete minderjährige ausländische Kinder und Jugendliche) und umF (unbegleitete minderjährige Flüchtlinge). In Anlehnung an Zeller (2015) verzichten wir jedoch auf die Verwendung einer Abkürzung, denn »den Namen einer Behörde kann man kürzeln, aber hier geht es um Menschen« (S. 33).
Das vorliegende Manual Mentoring unbegleiteter Minderjähriger richtet sich an Programmverantwortliche und -koordinatorInnen von Mentoringprogrammen für diese besonders schützenswerte Gruppe sowie weitere an dieser Thematik interessierte Personen.
Wie ist die politische, soziale und psychologische Situation der unbegleiteten Minderjährigen?
Unbegleitete Minderjährige sind spätestens seit dem Sommer 2015 in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt, als ihre Ankunftszahlen ein zuvor nicht gesehenes Ausmaß annahmen. Offiziellen Zahlen zufolge waren es 2014 knapp 4.400 Kinder und Jugendliche, die ohne Erziehungsberechtigte in Deutschland Schutz vor Krieg, Verfolgung oder Gewalt suchten. Ein Jahr später stieg deren Zahl auf über 22.000, 2016 sogar auf beinahe 36.000 (Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode, 2017; Federal Office for Migration and Refugees, 2017). Daraus resultierte die Überlegung, diese besonders schützenswerte Gruppe gezielt durch ehrenamtliche MentorInnen zu fördern und zu begleiten. Diesem Anspruch stand jedoch ein Fehlen von klaren Leitlinien oder Handreichungen für die Planung und Umsetzung von Mentoringprogrammen für unbegleitete Minderjährige gegenüber.
In Deutschland wird Mentoring seit einigen wenigen Jahrzehnten für die Förderung von Kindern und Jugendlichen eingesetzt. Die Übertragbarkeit auf die gezielte Unterstützung unbegleiteter Minderjähriger ist jedoch nicht Eins-zu-Eins gegeben. So sind Kinder- und Jugend-Mentoringprogramme meist rein bildungsspezifisch ausgerichtet oder beinhalten den Kontakt zu den Eltern als essentiellen Aspekt des Mentorats ( Kap. 12). Zudem erleben die unbegleiteten Minderjährigen eine besondere Situation, die durch ihre Fluchterfahrungen, das Fehlen der eigenen Familie und weiteren externen und internen Faktoren bedingt ist. In den USA werden Mentoringprogramme bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts als Fördermaßnahme für Kinder und Jugendliche eingesetzt (Kanchewa, Schwartz & Rhodes, 2017; Merrick, 2017). Dadurch bedingt gibt es eine Vielzahl an Organisationen und wissenschaftlichen Untersuchungen (DuBois, Neville, Parra & Pugh-Lilly, 2002), die sich mit der Ausrichtung von Mentoringprogrammen für (Flüchtlings-)Kinder und Jugendliche befassen. Die Generalisierbarkeit ist jedoch auch hier limitiert, z. B. durch unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen hinsichtlich des ehrenamtlichen Engagements (Birnkraut, 2003; Krimphove, 2005; Strachwitz, 2009). Hiesige Mentoringprogramme, die auf das kontinuierliche Engagement der ehrenamtlichen MentorInnen angewiesen sind, müssen somit in besonderer Weise deren Motivation (Kap. 4.5) berücksichtigen. Auch gegenüber dem Einsatz in der Personalentwicklung, dem klassischen Anwendungsgebiet von Mentoring, ist die Übertragbarkeit auf Mentoring von unbegleiteten Minderjährigen nicht in allen Teilen anzunehmen. Die Unterschiede sind vielfältig. So differieren die spezifischen Zielsetzungen der Programme, die konkreten Inhalte der Förderung und die Hierarchien zwischen den Beteiligten (Beller & Hoffmeister-Schönfelder, 2016). Aufgrund dieser Diversität findet sich in der Literatur keine einheitliche und allgemeingültige Definition von Mentoring. Um jedoch ein gemeinsames Verständnis für die anschließenden Ausführungen zu ermöglichen, verwenden wir folgende Definition von Mentoring:
Mentoring ist eine zeitlich relativ stabile dyadische Beziehung zwischen einem/einer erfahrenen MentorIn und seinem/r/ihrem/r weniger erfahrenen Mentee. Sie ist durch gegenseitiges Vertrauen und Wohlwollen geprägt, ihr Ziel ist die Förderung des Lernens und der Entwicklung sowie das Vorankommen des/der Mentees. (Ziegler, 2009, S. 11)
Das vorliegende Manual stellt einen ersten Ansatz dar, die Lücke zwischen den Ansprüchen der Praxis (der Wunsch, unbegleitete Minderjährige durch Mentoringprogramme gezielt und effektiv zu fördern) und den realen Gegebenheiten (dem Fehlen von Leitlinien für deren Durchführung)...