Kapitel 1
Wie man Skeptiker wird
Es war kein Ort, an den ich normalerweise gehen würde. Aber hier war ich nun, ein bekennender Christ, und saß im Besprechungszimmer in den Räumlichkeiten der Zeitschrift Skeptic, die sich in einem 3-Zimmer-Holzhaus in einem Wohngebiet am nördlichen Stadtrand von Los Angeles befanden.
Die Wände waren bedeckt von den gerahmten Titelseiten der bilderstürmerischen Zeitschrift. Auf einem aus Ziegeln gemauerten Kaminsims standen Büsten von Charles Darwin und Albert Einstein. Die Regale, die jeden freien Quadratzentimeter einnahmen, waren vollgestopft mit Büchern und spöttischem Krimskrams. Da lag ein Stück Seife mit der Aufschrift „Wasch dich rein von Sünden“, das versprach, die Sünde zu 98,9 Prozent abzuwaschen. Auf dem Etikett einer Bierflasche, die jemand in Utah erstanden hatte, stand: „Vielweiberbier: Warum schon nach einem aufhören?“
In gewissem Sinne war ich in der Anti-Kirche gelandet, einem Heiligtum der Wissenschaft und des Verstandes, das – zumindest nach Auffassung vieler Skeptiker – dem Glauben an Gott jede Berechtigung absprach.
Früher einmal hätte ich vielleicht für diese freidenkerische Zeitschrift schreiben können. Aber das ist schon Jahre her, als ich noch Atheist war und mir nichts mehr Freude machte, als mich über Christen lustig zu machen, die sich an die Lehren von ein paar Hirten aus dem Nahen Osten des ersten Jahrhunderts klammerten. Damals hätte ich eine Pilgerfahrt zu diesem Heiligtum des Skeptizismus genossen.
Heute bin ich überzeugt, dass Wissenschaft und Geschichte und sogar die Vernunft selbst die christliche Weltanschauung vielmehr unterstützen. Mein Atheismus war, wenn nicht auf übernatürliche Weise, so doch unerwartet und ganz entschieden auf den Kopf gestellt und von innen nach außen gekehrt worden.
Jetzt war ich in dieses Büro gekommen, um meinem exakten Gegenpart Auge in Auge gegenüberzutreten: Jemand, dessen Reise ihn vom Glauben zum Zweifel geführt und ihn von einem Evangelisten für Jesus zu einem Vertreter des Unglaubens gemacht hatte.
Kurz gesagt: Ein skeptischer Skeptiker.
Nachdem ich ein paar Minuten gewartet hatte, stürmt der 61-jährige Michael Shermer, klein und drahtig, herein. Er kommt direkt von seiner donnerstäglichen Fahrradtour mit zwei Dutzend seiner Freunde. An diesem Tag hatte er gerade 80 Kilometer auf seinem deutschen Rennrad hinter sich, das noch nicht einmal sieben Kilo wiegt, und das war erst der Anfang von über 300 Kilometern, die er jede Woche auf dem Fahrrad zurücklegt.
„Es hat einen gewissen Suchtfaktor“, gesteht er lächelnd.
Shermer setzt sich in seinem schwarzen T-Shirt, der schwarzen Hose und den Sandalen an den Füßen neben mich an den Konferenztisch und klappt sein Notebook auf. Er hat einen warmen Händedruck und ein ansteckendes Lächeln. Sein graues Haar lichtet sich, aber er steckt voller jugendlicher Energie und Begeisterung.
Shermer scheint alle Klischees eines typischen Kaliforniers zu erfüllen. Begeisterter Sportler? Ja, er hat sogar schon zwei Bücher über das Fahrradfahren geschrieben. Bewusste Ernährung? Ja, er isst nur einmal pro Woche Hühnerfleisch oder Fisch. „Fast nie Rindfleisch“, sagt er. Elektroauto? Natürlich: „Ich habe schon über ein Jahr keinen Sprit mehr getankt.“ Politisch betrachtet ist er, was gesellschaftspolitische Themen angeht, liberal, wenn es um Finanzen geht, dagegen konservativ.
Früher hat Shermer selbst in diesem 100-Quadratmeter-Haus gewohnt, das 1941 erbaut wurde und von einem hohen Holzzaun umgeben ist. Jetzt beherbergt es seine Zeitschrift Skeptic, die eine Auflage von 35 000 hat, und die Gesellschaft der Skeptiker – beides Non-Profit-Unternehmen, die er 1992 gegründet hat. Vier Angestellte arbeiten hier, die Garage dient als Poststelle. Zwei weitere Mitarbeiter leben in Kanada und geben die Kinder-Ausgabe der Zeitschrift heraus.
Shemers Büro ist schmal und mit den Plakaten seiner diversen öffentlichen Debatten tapeziert, darunter „Gibt es Gott?“ und „Können sich Wissenschaft und Religion versöhnen?“ Auf den Bildern an der Wand steht er lächelnd neben Richard Dawkins, einem Atheisten aus Oxford, und dem Biologen und Evolutionisten Stephen Jay Gould von Harvard.
Wir machen kurz ein Selfie, wie wir lächelnd nebeneinander stehen. Er postet es später auf Twitter, aber ich bezweifle, dass es an die Wand in seinem Büro kommt.
Seltsam und wahr zugleich?
Ich erzählte Shermer, dass ich aus zwei Gründen zu ihm gekommen war. Zunächst einmal, weil ich seinen Ruf schätzte, jemand zu sein, der zwar der Religion misstrauisch gegenüberstand, aber nicht in jenen spöttischen Ton verfiel, den einige der radikaleren Antitheisten an den Tag legten. Und damit meinte ich auch seinen guten Freund Dawkins, der andere Atheisten einmal aufforderte, allen religiösen Überzeugungen und Sakramenten gegenüber „Hohn und Verachtung“ zu zeigen.1
Im Gegensatz zu ihnen bevorzugt Shermer den Ansatz des holländischen Philosophen Baruch Spinoza, der 1667 einmal sagte: „Es ist mein ständiges Bestreben, menschliches Handeln nicht zu verspotten, zu beklagen oder zu verachten, sondern es zu verstehen.“2
Außerdem suchte ich jemanden, der mich mit den besten Argumenten gegen Wunder konfrontieren konnte, und zwar frei von Emotionen und durch Studien und vernünftige Argumente belegt. „Legen Sie sich ins Zeug“, sagte ich.
Als ich gerade mit dem Interview anfangen wollte, warf ich einen kurzen Blick über meine Schulter und sah ein paar Boxhandschuhe an einem Nagel hängen. Das ist ein gutes Zeichen, dachte ich, denn ich wollte tatsächlich, dass er mir seine stärksten Einwände gegen Wunder um die Ohren schlug.
Ich sagte ihm klar und deutlich, dass ich nicht mit ihm streiten wollte. Ich war nicht für eine Auseinandersetzung den weiten Weg nach Kalifornien geflogen. Ich wollte zuhören und lernen, wollte ein echtes Gespräch führen und mit ihm diskutieren. Für mich gab es keinen Grund, warum Gläubige und Ungläubige nicht vernünftig miteinander reden konnten, selbst wenn es um ein Thema geht, das den Verstand übersteigt. Außerdem wollte ich seine Geschichte von ihm persönlich hören. Was konnte ich von jemandem lernen, der genau den umgekehrten Weg gegangen ist wie ich?
Auf jeden Fall konnte ich keinen besseren Skeptiker finden als Michael Brant Shermer, dessen Lebenslauf beinahe 30 Seiten umfasst. Er machte seinen Bachelor in Psychologie und Biologie an der christlichen Pepperdine University, dann den Master in experimenteller Psychologie an der staatlichen Universität Kalifornien und seinen Doktor in Geschichte der Wissenschaft an der Claremont Graduate University. Seine Doktorarbeit schrieb er über Alfred Russel Wallace, den britischen Evolutionstheoretiker des 19. Jahrhunderts, der 1861 von sich selbst behauptete „ein absolut Ungläubiger in Bezug auf beinahe alle heiligen Wahrheiten“ zu sein.3
Shermer schreibt für die Kolumne „Skeptic: Viewing the World with a Rational Eye“ (Skeptiker: Die Welt mit rationalen Augen sehen) des Scientific American. An der Chapman University im kalifornischen Orange hält Shermer einen Kurs über kritisches Denken, der sehr passend „Skeptizismus 101“ heißt. Er hat über ein Dutzend Bücher geschrieben.
Er wurde schon von über einhundert Colleges und Universitäten als Gastredner eingeladen, unter anderem von Harvard (dreimal), Yale und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT). Viele seiner Artikel werden in populärwissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht. Er war schon in zahlreichen Fernsehsendungen zu Gast und hat die Sendung „Exploring the Unknown“ (Das Unbekannte entdecken) beim Sender Fox Family Channel produziert. Zu seinen TED Talks gehört einer mit dem Titel „Why People Believe Strange Things“ (Warum die Menschen seltsame Dinge glauben).
Ich musste lachen, als ich den Titel dieses Vortrags las. Es gibt sicher kaum etwas, was für einen Skeptiker seltsamer klingt als die Vorstellung von einem Schöpfergott, der in den Alltag der Menschen eingreift.
Die Frage ist aber, ob es nicht nur seltsam, sondern auch wahr ist.4
Interview mit Dr. Michael B. Shermer
Genau in dem Moment, als der Oberstufenschüler Michael Shermer Johannes 3,16 las – „Denn Gott hat die Menschen so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie hergab. Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zugrunde gehen, sondern das ewige Leben haben“ – und an Jesus als seinen Herrn und Retter zu glauben begann, heulte draußen irgendwo ein Kojote.
„Wir fragten uns, ob das ein Zeichen war“, erzählte Shermer mir mit einem leichten Lächeln. „Vielleicht trauerte Satan, weil er wieder eine Seele verloren hatte.“
Es war an einem Samstagabend 1971, als Shermers Freund George, ein überzeugter Christ, ihn in einem Haus in den San Gabriel Mountains in Südkalifornien zum Glauben führte. Vielleicht waren Shermers Motive zu diesem Zeitpunkt nicht völlig rein. Er dachte, durch seine Bekehrung hätte er bessere Chancen, bei Georges Schwester Joyce zu landen. Aber aus seiner Sicht reichte es und dieser Glaubensschritt festigte sich mit der Zeit immer mehr.
Shermer berichtete von seinem geistlichen Werdegang. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und schwelgte in Erinnerungen, als sei es erst gestern gewesen. Ich dagegen saß gespannt auf der Stuhlkante und wägte jedes Wort ab, während er sprach. Er hatte sich von einem begeisterten...