Erleben Sie die Welt in Farbe
Einführung
Freya Klier
Wann spürten wir die ersten Risse im System? Spürten sie, ohne das nahende Ende auch nur zu ahnen?
Im Mai 1986 scheidet der Stellvertreter Erich Mielkes, Generaloberst Markus Wolf, plötzlich aus der Staatssicherheit aus, als wäre das irgendein Durchschnittsbetrieb. Wolf wird Privatperson und versucht sich als Schriftsteller. Zu tieferem Nachdenken über diesen in einer Diktatur undenkbaren Schritt komme ich nicht, denn ich belagere seit Tagen meinen Bekanntenkreis, um Unterschriften für einen Tschernobyl-Appell zu sammeln, den eine befreundete Gruppe unserer Friedensbewegung ausgearbeitet hat.
Zur Erinnerung: In Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl kam es in der Nacht vom 25. zum 26. April 1986 zu einer bis dahin nicht vorstellbaren Kernschmelze.
Doch nur in den Westmedien wird die verheerende Reaktorkatastrophe auch eine Katastrophe genannt. Die DDR-Regierung versucht, den GAU auszusitzen, und unabhängige Medien gibt es im Land nicht. So fordern wir nun eine öffentliche Diskussion über die Gefahren der Atomenergie. Ein Jahr später wird ein befreundeter Wissenschaftler aus dem Institut für Strahlenschutz streng konspirativ Informationen an Stephan Krawczyk übergeben: So sei in der Gegend um Cottbus der Boden derart kontaminiert gewesen, dass man das Trinken von Milch komplett hätte verbieten müssen. Denn Milchproben weisen noch Wochen nach der Reaktorkatastrophe eine Radioaktivität auf, die bis zu 700 Prozent über dem Grenzwert für Säuglinge liegt. Kontaminierter Regen ergießt sich auch über Landstriche von Sachsen-Anhalt und Thüringen. Das Sammeln von Pilzen müsste sofort im ganzen Land untersagt werden, vermutlich über Jahre. Doch nichts geschieht.
Im Westen werden Spielplätze geschlossen, Jodtabletten kursieren, man meidet frisches Gemüse und greift auf Tiefkühlkost zurück.
Im Osten wird beruhigt, beschönigt, belogen. Eine kleine Meldung auf Seite 5 im »Neuen Deutschland« informiert die DDR-Bevölkerung drei Tage nach der Kernschmelze über eine »Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl«, bei der ein Reaktor »beschädigt« worden sei. Kein Wort von dem, was an radioaktivem Regen noch immer über Europa hernieder kommt. Kein Wort von kontaminierten Kühen und Kopfsalaten.
Im Gegenteil: In Ost-Berlin – stets besser versorgt als die DDR-Provinz – bricht der Wohlstand über Betriebskantinen und Kaufhallen herein: Spargel, Pilze, Erdbeeren, Salat und Gurken in großen Mengen – DDR-Produkte, die der Westen jetzt nicht abnimmt. Auch die Berliner reagieren nun skeptisch, so verteilt die DDR-Führung das Obst und Gemüse in Schulen und Kindergärten …
Als ich mit Stephan Krawczyk im Juni 1986 an einer Autobahnraststätte die überschaubare Speisekarte aufschlage, trauen wir unseren Augen nicht: Es gibt nicht nur wie in allen DDR-Gaststätten Gulasch, Schnitzel und Soljanka. Angeboten werden plötzlich auch Elchkeule und Elchsteak! So etwas Tolles haben wir noch nie gelesen. Wir starren wie auf Hieroglyphen, dann begreifen wir, dass wir gerade das angeboten kriegen, was die Schweden nach einem langen kontaminierten Regendurchzug jetzt nicht mehr verkaufen können. Die DDR hat zugegriffen, für fast umsonst.
Ich laufe also hochmotiviert mit dem Tschernobyl-Appell durch die Gegend, belagere meinen Freundes- und Bekanntenkreis. Die Forderung an die Regierung der DDR: Eine sofortige öffentliche Diskussion über die Gefahren der Atomkraft!
Meine Unterschriftensammlung gerät zum Fiasko: Gern unterschreiben all jene das »staatsfeindliche« Papier, die einen Ausreiseantrag laufen haben und hoffen, dieser Minuspunkt helfe ihnen noch schneller aus dem Land. Und es unterschreiben einzelne, mutige Personen. Doch bei den meisten ist die Bereitschaft, sich gegen existenzielle Bedrohungen zu engagieren, aufs Unerträgliche gesunken, wenn dafür auch nur kleine Unannehmlichkeiten drohen. Alle sind von der Katastrophe in Tschernobyl betroffen. Jedoch nicht tief genug, um die eigene Feigheit zu überwinden. Man schiebt Gründe vor, um nicht unterschreiben zu müssen … Gründe, die in einer Diktatur nachvollziehbar sind: Die eine will eine Boutique aufmachen und braucht eine Genehmigung, der andere hat eine Westreise in Aussicht und die Dritten halten ganz still, damit ihr Kind einen Studienplatz bekommt … Ein Professor aus Halle sagt mir unumwunden, dass sich in diesem beschissenen Staat sowieso nichts ändern wird, er aber auch nicht vorhabe, in den Westen zu gehen. Also gibt es für ihn nur noch zwei Kriterien, auf die er sich konzentriert: Seine Kinder sollen Abitur machen dürfen, und er selbst möchte einmal pro Jahr ins nichtsozialistische Ausland reisen.
Ich kann ihn so gut verstehen – und könnte es noch besser, wäre da nicht meine geheime Jugendbefragung: Unwirsch beschreiben die jungen Leute die zunehmende Anpassung ihrer Eltern; sie fühlen sich dem Erziehungsapparat mittlerweile ohne elterliche Unterstützung ausgeliefert.
Überhaupt, das Reisen: Jene von uns, die sich mit Unterschriftenlisten an Staatskünstler und zugelassene Schriftsteller wenden, sind deprimiert: Die scheinen völlig eingesackt, seit sie die ersten Reiseprivilegien genießen. Das mag wohl auch der Grund dafür sein, dass einige Theaterkollegen schon von weitem die Straßenseite wechseln, wenn sie mich, die Dissidentin, erspähen, obwohl sie mich vor kurzem noch herzlich begrüßten: Man will nicht mehr mit mir gesehen werden, es könnte die beantragte Westreise kosten. In keinem Jahr zuvor vergab die DDR für Anpassung oder wenigstens schweigende Zurückhaltung so viele Reisepässe wie 1986.
Stephan Krawczyk und ich, seit 1985 beide mit Berufsverbot belegt, können nur noch in den Kirchen einiger mutiger Pfarrer auftreten. Gerade bereiten wir einen Farcen-Abend vor, den wir nun zielgerichtet »Pässe, Parolen« nennen.
Zornig schreibe ich eine Farce unter dem Titel:
»Erleben Sie die Welt in Farbe«
(unter Verwendung von Goethes »Abendsonne«)
Die Frau. Am Fensterkreuz ein Drachen. Aus einem Kassettendeck dringen Hörspielgeräusche – es sind ausnahmslos Geräusche abfahrender Verkehrsmittel –, denen die Frau, im Drachen verschanzt, hingebungsvoll nachspürt.
Frau:
Betrachte, wie in Abendsonne-Glut
Die grünumgebenen Hütten schimmern.
Die Sonne rückt und weicht, der Tag ist überlebt,
Dort eilt sie hin und fördert neues Leben.
O dass kein Flügel mich vom Boden hebt,
Ihr nach und immer nachzustreben!
Ich säh im ewigen Abendstrahl
Die stille Welt zu meinen Füßen …
Den Silberbach in goldne Ströme fließen …
Den wilden Berg mit allen seinen Schluchten.
Schon tut das Meer sich mit erwärmten Buchten
Vor den erstaunten Augen auf –
Der Mann kommt, schleppend.
Frau:
Hast du die Pässe?
Mann:
Sie haben sie uns wieder abgelehnt.
Frau:
… uns wieder … abgelehnt …
Mann: (nickt).
Beide stehen betroffen.
Frau:
Und die Begründung?
Mann:
Keine Begründung.
Frau:
Aber … irgendeine Begründung müssen sie doch gegeben haben?
Mann: (brüllt)
Nein, sie haben keine gegeben! Sie haben abgelehnt und fertig!!
Beide stehen betroffen.
Frau:
Aber … wir sind zwei Stunden früher aufgestanden als vor vier Jahren!?
Mann: (fiebernd)
Wahrscheinlich war das immer noch zu spät. Der Wagener und seine Frau, die waren pünktlich sieben Uhr und dreißig an der Urne: die durften fahren … Vermutlich dürfen die nur, die vor acht da warn …, die ihre Treue gleich bei Tagesanbruch stolz bekundet – im Laufschritt noch, die Schnitte in der Hand …
Frau:
Ich wünschte mir, das Tempo wäre deins am Wahlsonntag gewesen, statt nach dem Frühstück eine halbe Stunde auszutreten!
Mann:
Was kann denn ich für meinen Darm?
Frau:
Wenn du dir nichts verkneifst, dann schaffen wir es nie!
Die Frau springt auf den Fenstersims und verschanzt sich im Drachen.
Doch ist es jedem eingeboren.
Dass sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt;
Wenn über uns, im blauen Raum verloren,
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt –
Mann: (hysterisch)
Das ist es! Eben das! Du hast ihn rausgehängt wie eine Fahne! … Das nehmen sie uns übel – die denken doch, wir wolln sie provoziern mit diesem Ding! Das sieht ja aus, als wollten wir die Heimat ganz verlassen, statt einmal übern Grenzwall nur zu spähen …
Frau:
Was bist Du blöd, Mann. Der Vogel dort, das ist von unserm Kind der Drachen – der hängt dort schon drei Herbste lang und keiner hat bisher sich dran gestoßen. Es ist ein buntes Stück Papier!
Mann:
Ein buntes Stück Papier ist noch kein Pass!
Wenn ich dir’s sag, die deuten das als Fluchttrieb … Das wirkt symbolisch, riecht nach grünem Widerstand …
Drum hol ihn rein!
Frau:
Ich kann das nicht, das ist von...