1 Moonlight
Kurz nach der Morgendämmerung stieg ich ein. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich den richtigen Anfang erwischt hatte, denn in diesen unteren Seillängen war ich schon seit zwei oder drei Jahren nicht mehr gewesen. Der Beginn der Route ist irgendwie unschön und unklar – Rampen, Quergänge und Handrisse, die nach rechts hinaufführen –, aber nicht so schwierig wie die oberen zwei Wanddrittel.
Trotzdem war ich aufgeregt, sogar etwas euphorisch. Am Vortag hatte es mehr oder weniger ununterbrochen geregnet, und nun war der Fels sandig, rutschig und viel feuchter, als ich gehofft hatte. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich noch einen Tag gewartet hätte. Aber ich war unglaublich motiviert. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, noch einen weiteren Tag in meinem Bus zu sitzen und immer wieder dieselben Gedanken durchzukauen, die mir in den letzten 48 Stunden durch den Kopf gegangen waren. Ich musste das Eisen schmieden, solange es heiß war.
Der »Moonlight Buttress« befindet sich an einem 370 Meter hohen, fast senkrechten Sandsteinfelsen im Zion-Nationalpark in Utah. Unter den Tausenden von Routen in Zion ist sie vielleicht die schönste – die reinste und klassischste. Weil sie durchgehend einen hohen Schwierigkeitsgrad aufweist, gehört sie auch zu den extremsten anhaltend schweren Rissklettereien der Welt.
Die erste Durchsteigung des »Moonlight Buttress« erfolgte im Oktober 1971 durch Jeff Lowe und Mike Weis, zwei Legenden der amerikanischen Kletterszene. Sie benötigten anderthalb Tage und biwakierten auf einem Band in der Wandmitte. Sowohl zur Fortbewegung als auch zum Ausruhen verwendeten sie eine Menge Schlaghaken und Bohrhaken, kletterten also technisch.
Fast 21 Jahre später, im April 1992, gelang Peter Croft und Johnny Woodward die erste freie Begehung. Sie verzichteten auf technische Hilfsmittel und fanden Bewegungssequenzen, die es ihnen ermöglichten zu klettern, ohne an Steighilfen zu hängen. Nachdem sie die Route in neun Seillängen durchklettert hatten, bewerteten sie die Schwierigkeit mit hart 5.13a (sie wurde später auf 5.12d herabgestuft). Das war 1992 nahe am oberen Limit des Freikletterns, weltweit – eine brillante Leistung von Croft und Woodward.
Peter Croft war schon damals einer meiner Helden, denn in den 1980er- und 1990er-Jahren hatte er die Grenzen des Free-Solo-Kletterns – des Kletterns ohne Seil und ganz ohne Hilfsmittel – ins nie Dagewesene verschoben. Viele der Routen, die er damals free solo begangen hatte, waren in den Jahrzehnten danach in diesem Stil nicht mehr wiederholt worden.
Aber meines Wissens hatte bisher niemand auch nur daran gedacht, den »Moonlight Buttress« free solo zu klettern. Und ebendas hoffte ich am 1. April 2008 zu schaffen.
In meinem Hinterkopf kreiste ein nagender Gedanke an die Felsstruktur mit dem Namen »Rocker Blocker«. Das ist ein relativ breites Band, etwa halb so breit wie ein französisches Bett, am Ende der dritten Seillänge. Da es nur lose am Fels anliegt, hat jemand es mit zwei Bohrhaken verankert, und so ist es zu einem guten Standplatz etwa 120 Meter über dem Boden geworden.
Was mir Angst machte, war nicht das Band selbst. Vom Rocker Blocker aus konnte man, auf den Zehenspitzen stehend, gerade noch einen Schlüsselgriff hoch oben erreichen, von dem aus ein Boulderproblem im Grad 5.12c zu lösen ist, genau über jenem Band. Man muss zwar nicht direkt springen, um den Zug zu machen, aber man muss doch ziemlich pressen, bis man eine schmale Leiste greifen kann. Als ich unten die leichten Seillängen kletterte, hatte ich Bammel wegen dieses Problems, das dort oben drohend auf mich wartete. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich mich auf dem Band würde halten können, falls ich herunterfiel, aber es würde mir sicher keinen Spaß machen, dies nachzuprüfen.
Am Vortag, als ich bei Regen in meinem Bus saß, hatte ich mir ganz bewusst alles vorgestellt, was mir beim Klettern passieren könnte. Auch dass ein Griff ausbrechen oder ich mich einfach nicht daran halten könnte und abstürzen würde. Ich sah vor mir, wie ich vom Band abprallte, hinunterflog bis ganz zum Boden, wie eine purzelnde Stoffpuppe, und mir dabei praktisch alle Knochen brach. Am Wandfuß würde ich wahrscheinlich verbluten.
Die Nacht zuvor hatte ich nicht sehr gut geschlafen. Daher war ich am Morgen früh dran, so wie ich es geplant hatte, in der Hoffnung, der Sonneneinstrahlung in der Wand zuvorzukommen und in der Route kühle Bedingungen vorzufinden. Um zum Fuß des Moonlight Buttress zu gelangen, muss man den Virgin River durchwaten. Anfang April ist der Fluss saukalt. Ich durchwatete ihn barfuß. Das reißende Wasser ging mir bis über die Knie. Meine Füße wurden rasch taub, und mein ganzer Körper geriet in einen leichten Schockzustand. Zudem musste ich auf mein Gleichgewicht achten, während ich die Füße vorsichtig in die Lücken zwischen den glatt geschliffenen Flusssteinen setzte.
Als ich zu der Stelle kam, wo ich den Einstieg der Route vermutete, versteckte ich meine Zustiegsschuhe und meinen Rucksack. Ich hatte beschlossen, zum Klettern nichts mitzunehmen, weder etwas zu essen noch Wasser, noch Reservekleidung. Ich hängte mir den Magnesiabeutel um und schnürte meine Kletterschuhe zu. Meine Füße waren immer noch kalt, aber nicht wirklich taub, ich konnte meine Zehen durchaus spüren. Ich trug nur Shorts und ein T-Shirt. Im letzten Moment steckte ich mir die Kopfhörer in die Ohren und schaltete meinen iPod an. Ich klapperte meine persönliche Top-25-Liste ab – vorwiegend Punk und modernen Rock.
Es mag lächerlich klingen, aber ich hatte keine Uhr, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass ich einen Speed-Rekord für den »Moonlight Buttress« aufstellen würde. Ich verwendete meinen iPod, um die genaue Anzahl Minuten zu messen, die ich brauchen würde. Musik trägt außerdem dazu bei, fokussiert zu bleiben – obwohl ich es inzwischen vorziehe, ohne iPod zu klettern, weil ich ihn als eine Art Krücke empfinde.
In meinen Augen hängt bei einer Free-Solo-Begehung eines Bigwalls alles von der Vorbereitung ab. Tatsächlich hatte ich die harte Arbeit im »Moonlight Buttress« an den Tagen vor der Durchsteigung geleistet. Als ich dann unterwegs war, kam es nur noch auf das Ausführen an.
Ich war die gesamte Route vorher nur einmal geklettert, mit Bill Ramsey. Er war Mitte vierzig, kletterte aber noch richtig gut und war bereits im »Moonlight Buttress« gewesen, um für eine freie Begehung zu trainieren. Er hatte mich als Partner für seine freie Durchsteigung angefragt, und wir wechselten uns im Vorstieg ab. Es war ein großer Tag für uns, als wir beide die Route frei und ohne Sturz ins Seil kletterten.
Aber das war zwei oder drei Jahre zuvor gewesen. An den Tagen vor meinem Free-Solo-Versuch hatte ich mich auf die oberen 250 Meter der Route konzentriert. Der Normalweg zum Gipfel des Pfeilers ist eine gemütliche Wanderung auf einem Trampelpfad, und so schleppte ich 200 Meter Seil hinauf, seilte mich ab und übte die Bewegungen toprope – von oben gesichert – ein. Zur Selbstsicherung verwendete ich ein Sicherungsgerät, das man »Mini Traxion« nennt. Bei Zugbelastung nach unten verklemmt es sich am Seil, während es mühelos nach oben gleitet, solange man klettert. Wäre ich gestürzt oder hätte ich auch nur gerastet, hätte das Mini Traxion mich gehalten.
Ich kletterte die oberen 200 Meter des »Moonlight Buttress« zweimal im Toprope. Die Schlüsselstelle der ganzen Route – die schwierigste Einzelstelle, die entscheidende Passage der Begehung – besteht aus einer verblüffend sauber geschnittenen, sechzig eter langen Verschneidung. Sie ist die vierte der neun Seillängen und der Grund für die Bewertung mit 5.12d: anhaltend und wirklich anstrengend, sodass die Arme ziemlich gepumpt sind, wenn man oben ankommt.
Für beide Toprope-Generalproben dieser oberen 200 Meter hatte ich jeweils nur etwa eine Stunde gebraucht. Ich fühlte mich absolut sicher, hatte die Route im Griff. An keiner einzigen Stelle war ich gestürzt oder hatte auch nur ein ungutes Gefühl gehabt.
Aber dann fiel mir auf, dass das 200 Meter lange Seil nicht bis zu einer entscheidenden Rechtsquerung in der dritten Seillänge reichte, die mit 5.11c bewertet ist. Also kam ich am folgenden Tag mit 250 Meter Seil wieder zum Gipfel, seilte mich nochmals ab und übte die Kletterzüge des Quergangs so lange ein, bis ich auch sie im Repertoire hatte.
Bei meinen Probeläufen begegnete ich ein paar Kletterern. Ich rettete sogar eine Techno-Kletterin, die nicht recht wusste, was sie tat, und im Vorstieg nicht mehr weiterkam. Ich schrie: »Hey, schnapp dieses Seil!« und warf ihr das Ende meines Fixseils zu, damit sie sich aus ihrer Falle befreien konnte. Sie war mir ganz schön dankbar. In einer Route wie dieser kommt nicht jeden Tag jemand aus heiterem Himmel heruntergeseilt.
Dann folgten zwei Regentage. Ich saß auf einem Autokinoparkplatz in Springdale in meinem Bus, starrte zur Windschutzscheibe hinaus und dachte nach. Ich war ins Kino gefahren, um mir die Zeit zu vertreiben, aber den Rest des Tages bis in den Abend hinein und fast den ganzen nächsten Tag saß ich im Bus und machte nichts anderes als grübeln. Nicht dass ich etwas zu erledigen gehabt hätte – ich hatte nichts anderes zu tun, als eben nachzudenken. Über die Route.
Ich saß da und malte mir alles aus, Stunde um Stunde. Stellte mir jede Bewegung vor, alles, was mir passieren könnte. Das ganze Denken spinnt sich um eine solche Herausforderung, wie ich sie mir vorgenommen hatte.
Das meine ich mit Vorbereitung. Nun würde ich herausfinden, ob ich...