Die Geisteshaltung
Ich erinnere mich noch lebhaft an den Moment, als ich mich in die Fotografie verliebte. Es war im Boys Club von Hollywood, zu dem meine Brüder und ich regelmäßig hingingen. Ich schaute auf das Fotopapier, das ich gerade in die Fotoschale mit dem Entwickler getaucht hatte. Dann schob ich die Schale hin und her und erzeugte dadurch Wellen, die über das noch weiße Fotopapier flossen. In der Dunkelkammer war es ganz still, nur das Schwappen der Fotochemie in den Schalen war zu vernehmen. Ganz langsam, aus dem Nichts, erschien auf dem Fotopapier ein Bild. Zunächst nur ein paar graue Sprenkel, doch innerhalb weniger Minuten erkannte ich das Motiv, das ich wenige Stunden zuvor erst fotografiert hatte. So etwas Zauberhaftes hatte ich noch nie gesehen.
Während ich die restlichen Verarbeitungsschritte in der Dunkelkammer vollzog, war ich von Begeisterung und Freude erfüllt. Diesen Stolz, den ich verspürte, als ich meinen ersten eigenen Abzug in den Händen hielt, war für mich eine völlig neue Erfahrung. Ich hatte ihn selbst erschaffen und er war schön.
In diesem Moment fühlte ich mich innerlich gestärkt, wie ich es bis dahin selten erlebt hatte. Ich war ein dicklicher Junge, der auch noch schlimm stotterte und ständig in Angst lebte, beim Sport zu versagen oder im Klassenzimmer als Idiot dazustehen. Meine Strategie war, mich möglichst bedeckt zu halten, um mich so nicht lächerlich machen zu können und nicht den Hänseleien meiner Klassenkameraden auszusetzen. Je weniger ich auffiel, desto besser.
Was mir damals allerdings nicht klar war: Auf diese Weise beraubte ich mich vieler Vergnügen, die man in diesem Alter üblicherweise auslebt. Durch mein Abtauchen schloss ich nicht nur negative Erfahrungen aus, sondern auch alle Freuden, die man beim Erkunden von Unbekanntem, beim Eingehen von Risiken und der Entdeckung von Neuem sowohl in der Welt als auch in einem selbst verspürt.
Und solch einen Moment hatte ich nun in dieser Dunkelkammer erlebt. Es war ein Gefühl, dem ich seither in all diesen Jahren nachjage.
Bestimmt haben Sie zur persönlichen Entdeckung Ihrer Freude an der Fotografie eine eigene Geschichte. Sie mag meiner ähneln oder auch nicht. Doch was die Geschichten ganz gewiss gemein haben, sind die Gefühle von Begeisterung, von Entdeckung, von Staunen, die aus dem Ausdruck Ihrer persönlichen Sichtweise resultieren und sich vor Ihren Augen in einem Foto manifestiert haben. Solche tiefe Gefühle entstehen nicht durch die simple Dokumentation dessen, was wir vorgefunden haben, sondern vielmehr durch den Stolz und die Befriedigung über ein Bild, das etwas von uns persönlich an den Betrachter vermittelt. Mit einem Foto können wir etwas kommunizieren, das sich, wenn überhaupt, nur schwer in Worte fassen lässt.
Doch trotz dieser tiefen und starken Gefühle, die wir mit der Fotografie verbinden, stehen diesen Empfindungen oft viele Dinge im Weg. Manches mag zwar auf mangelndem Verständnis der Technik beruhen, doch in den allermeisten Fällen liegen die Probleme ganz woanders. Unsere kreative Seite der Persönlichkeit wird oft durch Unsicherheiten oder Versagensängste blockiert. Und bei dem Versuch, unter derartigen Umständen dennoch beständig gute Foto abzuliefern, nimmt unser Frust nur noch weiter zu. Fehlversuche sind an der Tagesordnung, und wenn uns dann doch einmal ein gutes Bild gelingt, verstehen wir nicht ganz, wie wir das geschafft haben. Die anfängliche Begeisterung, die uns einst so gepackt hat, scheint jetzt schwerer entzündbar.
Glücklicherweise habe ich für mich Mittel und Wege gefunden, solche kreativen Blockaden zu überwinden. Mein Ansatz, den ich Ihnen in den folgenden Kapiteln näherbringen will, wird Ihnen helfen, mehr Freude an Ihrer Leidenschaft zu haben und das Maximum aus der Zeit herauszuholen, die Sie Ihrer Fotografie zu widmen in der Lage sind.
Hohe Ansprüche – realistische Perspektiven
Ich sehe mich als Perfektionisten – und als solcher weiß ich von allerlei überzogenen Erwartungen zu berichten. Schon oft habe ich mein fotografisches Talent anhand der Anzahl außergewöhnlicher Bilder bemessen, die ich innerhalb einer Fotosession produziert hatte. Kam ich mit einem halben Dutzend hervorragender Bilder nach Hause, war ich der Held. Gelang mir kein Einziges, war ich ein Totalversager. Dazwischen gab es für mich nichts.
Zwischen diesen beiden Extremen war mir allerdings das Wesentliche an der Kreativität entgangen. Sie besteht nämlich nicht nur in den erfolgreichen Ergebnissen, sondern lebt auch in allen Irrtümern, Fehlern und Abweichungen. Bei der Kreativität geht es mindestens genauso um Momente der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit wie um die Augenblicke von Selbstbewusstsein und Klarheit. Für die Fotografie bedeutet dies, dass sie sich sowohl auf den Fotos gründet, die unseren Ansprüchen nicht genügen, als auch auf denen, bei denen wir ins Schwarze getroffen haben.
Gleichwohl ist es gut und richtig, sich selber hohe Ziele zu setzen, einen hohen Standard erreichen zu wollen, was auf vielfältige Weise herausfordert. Die mit dem Erreichen dieser Ziele verbundenen Anstrengungen, die Sie auf sich nehmen, lassen Sie wertvolle Erfahrungen sammeln. Doch all dies sollte in dem Bewusstsein geschehen, dass es auf dem Weg dorthin viele Fehltritte geben wird, was für Fotografen jede Menge schlechter Fotos bedeutet. Da dies aber ein wichtiger Teil des kreativen Prozesses ist, geht das völlig in Ordnung.
Als ich einmal in San Francisco fotografierte, hatte ich mir eine einzige Sache zum Ziel gesetzt: ein Foto in dieser Stadt, das ich so noch nie gemacht hatte. Ich wollte keine schlichte Neuauflage eines Fotos, das ich bis dato in irgendeiner Stadt aufgenommen hatte. Ich wollte mich dahingehend herausfordern, diesmal ein wenig anders zu sehen, und mich selber überraschen.
Als ich schließlich das Schaufenster auf dem Bild erblickte, das diesem Kapitel vorangestellt ist, war ich davon fasziniert, wie das Licht auf die hellen Beine der Schaufensterpuppe fiel, die auffällig rote hochhackige Schuhe trug. Während ich die gesamte Szenerie so betrachtete, sah ich zur Linken einen roten Imbisswagen und direkt unter dem Schaufenster einen dreieckigen Schatten. Mir war schnell klar, dass diese Elemente eine gute Bildkomposition abgeben würden, doch gleichzeitig wusste ich, dass noch etwas fehlte. Ich brauchte noch eine menschliche Gestalt, die das Bild zu einem Ganzen formte.
Die nächsten zwanzig Minuten verbrachte ich damit, vorbeilaufende Leute zu fotografieren, wobei ich meine Position ständig veränderte, um die Symmetrie und das Gleichgewicht im Bild zu wahren. Die meisten Aufnahmen waren Fehlschüsse, da es entweder nicht die richtige Person war oder mein Timing nicht stimmte. So langsam spürte ich Frust aufkommen, doch ich blieb dran und vertraute auf meine Intuition, die mich an diesen Ort geführt hatte.
Als schließlich eine Frau in einem violetten Mantel und schwarzen Stiefeln vorbeikam, passte ich genau den Moment ab, als ihre Beinstellung der der Schaufensterpuppe entsprach. Damit hatte ich aus meiner Sicht ein Foto, das mehr zeigte als nur jemand, der die Straße entlangläuft: ein Foto, das meinem zunehmenden Gespür für unabhängige Bildelemente entsprungen war, die nur in Form fotografischer Bildgestaltung in einen Zusammenhang gebracht werden können.
Sie dürfen nicht vergessen, dass ein Meisterfotograf oft auch deshalb als solcher von anderen angesehen wird, weil er nur seine besten Werke zeigt. Die zahllosen mittelmäßigen und schlechten Bilder, aus denen die wenigen überragenden hervorgegangen sind, bleiben im Verborgenen.
Da Sie als Fotograf alles vor Augen haben, was Sie produziert haben, ist die Selbstwahrnehmung von Ihnen und Ihrer Fotografie reichlich verzerrt. Machen Sie sich deshalb immer wieder klar, dass jedes einzelne Foto einen winzigen Schritt auf diesem Weg bedeutet. Doch ohne diese vielen Schritte gelangen Sie nie an Ihr Ziel.
Selbstfindung durch persönliche Notizen
Für mich bedeutet das Fotografieren weit mehr als nur die Arbeit mit der Kamera. Für mich ist es ebenso eine Art Zurückfinden von den zahlreichen Ablenkungen in meinem Leben. Wenn ich mit der Kamera unterwegs bin, fühle ich mich in meinem Leben und meiner Existenz völlig präsent, was ich in meiner täglichen Routine nur selten verspüre. Ich bezeichne die Fotografie daher oft als eine Art meditative Tätigkeit, die die vielen Stimmen in meinem Kopf zum Schweigen bringt. Ich genieße dann, mich dem hinzugeben, was ich im jeweiligen Augenblick sehe. Dabei bin ich für alles und jeden offen. In dieser Geisteshaltung treffe ich auf Motive und Begleitumstände, die ich niemals erahnen konnte, als ich mit der Kamera in der Hand das Haus verließ.
Allerdings stellen sich diese Erlebnisse auch nach all den Jahren nicht immer leicht ein. Es kommt vor, dass sowohl Verstand als auch Gefühl von der Sorge belastet sind, ob ich ein gutes Foto hervorbringen werde oder nicht. Das sind dann die angstvollen Momente, in denen ich meinen ganzen Mut zusammennehmen muss, um auf einen Fremden zuzugehen und ein Porträt von ihm zu machen. Oder ich bin völlig niedergeschlagen, wenn ich mich und meine Arbeit mit anderen Fotografen verglichen habe und mir nun ganz klein vorkomme. Das sind die Momente, in denen mich die negativen Gefühle übermannen. Von der ursprünglichen Freude, zur Kamera zu greifen, ist...