Einleitung
Weinend reichte mir meine beste Freundin Mara ihr Handy. Ich schaute aufs Display und sah ein Selfie ihres zehn Jahre alten Sohnes Mirko: Er lag auf ihrer weißen Couch, neben ihm auf dem Sofa ein Teller mit einem krümeligen Schoko-Nougat-Creme-Toast und ein Glas Cola. »Guck mal, was ich gerade mache!«, hatte er unter das Bild geschrieben. Erstaunt las ich weiter. »Du weißt genau, dass du da nicht essen sollst und schon gar nicht Schokolade!«, hatte seine Mutter erbost zurückgeschrieben. Mirkos Antwort war knallhart: »Und was willst du jetzt dagegen machen? Von der Arbeit nach Hause kommen, weil ich einen Toast esse?« Die nächste SMS seiner Mutter war erst zehn Minuten später abgeschickt worden. Offenbar hatte Mara eine Weile mit sich gerungen: »Warte nur, wenn ich das dem Papa erzähle!« – »Na und? Soll mir das Angst machen?«
»Ich muss Mirko irgendwie bestrafen«, stellte Mara bitter fest. »Hilf mir mal, etwas zu finden. Soll ich ihm für eine Woche das Handy wegnehmen? Oder soll ich das WLAN zu Hause abschalten? Hausarrest? Ich weiß nicht, ob ich das noch durchsetzen kann. Ich fürchte, dafür ist er schon zu groß geworden. Ich habe nicht die Kraft, ihn davon abzuhalten, einfach aus der Tür zu gehen. Eigentlich macht er nur noch, was er will. Ich hasse das. Mein kleiner, süßer Sohn ist mir so fremd geworden.« Sie fing an zu weinen und ich umarmte sie sanft, einen dicken Kloß im Hals.
Während es sie leise in meinen Armen schüttelte, schweiften meine Gedanken zurück zu der Zeit, als der heutige Zehnjährige fünf war. Damals saßen wir im Café und schauten mit liebevollen Augen dem bildhübschen Vorschulkind zu, das gewissenhaft und mit Zunge im Mundwinkel ein kompliziertes Feenbild malte. Auf meinen Kommentar, wie toll ihr Junge sei und dass sie wirklich stolz auf ihn sein könne, hatte sie damals nachdenklich gesagt: »Ja, Mirko ist toll. Aber weißt du, manchmal habe ich Angst, was passieren könnte, wenn ich nachlasse.« Ich verstand nicht, was sie meinte, und hakte nach. »Ach, ich finde es einfach so anstrengend, ihn immer in der Spur zu halten … ihn zu erziehen«, präzisierte sie. »Es fühlt sich an wie ein ewiger Kampf. Aber was, wenn ich nicht mehr so streng mit ihm bin? Ich möchte nicht, dass er mal auf die schiefe Bahn gerät, weißt du? Also darf ich nicht nachlassen.«
Meine Gedanken kamen zurück in die Gegenwart. Nun, die »schiefe Bahn« war der Schoko-Creme-Toast auf der weißen Couch vielleicht nicht, und doch begann die Situation gerade, unangenehm zu eskalieren. Dem Jungen das Handy wegzunehmen oder das WLAN auszuschalten, würde wahrscheinlich zu noch mehr Krieg führen. Meine Freundin schaute mich traurig an. »Er ist uns gegenüber so gehässig geworden. Du hast ja seine SMS gelesen – es ist, als wolle er uns irgendwas heimzahlen. Er entfernt sich immer weiter von mir. Muss das so sein? Ist der Sinn des Großwerdens, seine Eltern besonders stark zu verletzen, damit man selbst unabhängig wird? Das ist doch scheiße so. Das muss doch irgendwie anders gehen! Ich will mein Baby zurück.«
Wir sind fest davon überzeugt, dass es anders geht. Dass Kinder, die erwachsen werden und sich von ihren Eltern lösen wollen, dies auch ohne Gehässigkeit tun können, wenn – ja, wenn – sie nicht selbst im Laufe der Jahre immer wieder verletzt wurden. Denn viele der herkömmlichen Erziehungswege produzieren bei den Kindern Unmut und Wut über ihr Ausgeliefertsein den Eltern gegenüber und eine Sehnsucht nach eigener Macht, die entweder Schwächeren gegenüber ausgelebt wird, zum Beispiel durch Mobbing an der Schule, oder eben gegenüber den Eltern, wenn die Kinder ihnen in Größe und Kraft ebenbürtiger werden.
In diesem Buch wollen wir einen Weg aufzeigen, der ohne Verletzungen der Integrität der Kinder auskommt und trotzdem nicht die Eltern zu willfährigen Dienern ihrer Söhne und Töchter macht. Ein Weg, der auf die Bedürfnisse aller achtet. Der Lebensabschnitt zwischen dem fünften und zehnten Geburtstag ist ideal, um unseren Kindern wichtige soziale und gesellschaftliche Regeln zu vermitteln. Die Voraussetzungen dafür sind in diesem Alter bereits im Gehirn angelegt: die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, Impulskontrolle, Empathie, Selbstberuhigungskompetenzen und ein schon gut arbeitsfähiger präfrontaler Cortex.
Doch jetzt müssen diese Fähigkeiten angewendet und ausgebaut werden. Das passiert nicht nur innerhalb der Kernfamilie, sondern auch in anderen sozialen Beziehungen. Kein Wunder also, dass Kinder zwischen fünf und zehn Jahren zunehmend den Drang haben, mehr Zeit mit ihren Freunden zu verbringen als mit uns. Sie haben ein gutes Bauchgefühl dafür, was sie brauchen. In der Regel gehen diese Freunde nämlich sehr viel nachsichtiger mit Verstößen gegen soziale Regeln um als wir Erwachsenen. Wir Großen haben bereits ein sehr starres Gerüst in unserem Kopf, was »man darf« oder »nicht darf«, was peinlich ist oder schlichtweg inakzeptabel. Wir wissen auch, was ein antisoziales Verhalten für die Zukunft unseres Kindes bedeuten könnte, und wollen ihm deshalb aus Sorge um Tochter oder Sohn möglichst schnell entgegenwirken. Ein ganzer Rattenschwanz aus Gedanken und Gefühlen hängt an unseren Reaktionen, wenn unser Kind etwas tut, das wir moralisch oder gesellschaftlich grenzwertig finden.
Unsere inneren Ängste bleiben Kindern aller Altersstufen nicht verborgen. Sie sind Meister darin, unsere unbewusste Mimik und Gestik zu interpretieren und zu erkennen, dass wir denken, mit ihnen stimme etwas nicht. Dieses fremde Bild von ihnen verankert sich möglicherweise in ihrem Inneren – es wird unter Umständen sogar zu ihrem Selbstbild. Andere Kinder hingegen haben keinen solchen Rattenschwanz an Gedanken, wenn sie mit unseren Kindern spielen, weil sie noch nicht erwachsen denken. Sie reagieren nur darauf, was das Verhalten unserer Kinder mit ihnen macht. Wenn es sie ärgert, sind sie ärgerlich. Wenn es sie freut, freuen sie sich. Selbstverständlich gibt es unter Kindern heftige Streits und manchmal sogar Beziehungsabbrüche, Manipulationsversuche und emotionale Erpressung. Wer hat nicht schon mal ein Kind gehört, das sagte: »Wenn du das machst, bin ich nicht mehr deine Freundin«? Doch bei all diesen Konflikten bleibt eins wunderbar unangetastet: das Selbstbild des Kindes. Es lernt die Kausalität seines Verhaltens (»Wenn ich immer herumkommandiere, spielen die anderen nicht mit mir.«) ohne das tonnenschwere Gefühl von Schuld, welches von uns Erwachsenen oft unbeabsichtigt eingepflanzt wird (»Was stimmt denn nicht mit mir, dass ich andere immer so herumkommandiere, statt freundlich zu bitten?«).
Dieses Buch will Eltern zurückführen zum bedingungslosen, sorgenfreien Annehmen ihrer Kinder. Wir werden zeigen, dass vermeintliches antisoziales oder sogar tyrannisches Verhalten mit der großen Lernaufgabe dieses Altersabschnitts zu tun hat und gar nicht so besorgniserregend ist, wie wir Erwachsenen denken und wie in einigen Ratgebern behauptet wird. Wir werden erklären, warum unsere Kinder manchmal nicht auf uns hören oder uns sogar absichtlich provozieren und was wir ändern können, damit das besser wird. Wir werden darstellen, was bedürfnis- und beziehungsorientierte Elternschaft bedeutet und dass, gerade im Hinblick auf die nicht mehr weit entfernte Pubertät, die Jahre fünf bis zehn ein immens wichtiger Entwicklungsabschnitt sind, dessen Bedeutung leider noch zu oft übersehen wird. Es ist verwunderlich, wie wenig Literatur es für dieses mittlere Alter gibt, obwohl doch gerade hier die Grundlagen für das soziale Miteinander in Familie und Gesellschaft gelegt werden.
In Teil 1 möchten wir Ihnen schildern, was eine beziehungs- und bedürfnisorientierte Elternschaft von fünf- bis zehnjährigen Kindern im Alltag bedeutet. In Teil 2 erläutern wir die wichtigsten Bedürfnisse von Kindern in diesem Alter sowie hilfreiche bzw. nicht so hilfreiche Strategien zu ihrer Erfüllung, und wir stellen Ihnen unsere Überlegungen vor, wie dieser Erziehungsstil sich bei den zentralen Themen in den mittleren Jahren der Kindheit, nämlich selbstständig werden, Freunde und Schule umsetzen lässt. Der 3. und 4. Teil widmen sich der kindlichen Selbstbestimmung und ihren Grenzen – Themen, die uns Eltern in diesen Jahren immer wieder beschäftigen. Der Themenkreis neue Medien hat hier genauso seinen Platz wie die (manchmal etwas beunruhigende) Einzigartigkeit unserer Kinder wie auch immer wiederkehrende Konflikte rund ums Essen, um die Eigenverantwortung bei den Hausaufgaben, bei der Mithilfe im Haushalt oder beim Zusammensein mit Freunden und vielem anderen mehr. Teil 5 behandelt die Frage, wie wir als Eltern reagieren können, wenn wir unsere Kinder nicht bestrafen wollen, und in Teil 6 geht es...