|9|1 Wenn Daten sprechen könnten: Einladung zu einer hermeneutischen Reise durch Statistiken und Studien
Der griechische Philosoph Pythagoras (570–480 v. Chr.) hielt Zahlen für das Wesen der Welt. Wenn man sich ansieht, welche Rolle Zahlen heute als Begründung für Entscheidungen in der Politik und in unserem Alltagsleben spielen, sind wir wohl alle praktizierende Pythagoräer.
„Hermeneutik“ ist übrigens die Lehre vom Verstehen und Auslegen und darum geht diese „Reise“ letztlich: um ein besseres Verstehen von statistischen Zahlen. Und weil wir in einer Gesellschaft leben, in der Geld erstens wichtig und zweitens knapp ist – Letzteres zumindest in den öffentlichen Kassen –, schauen wir besonders aufmerksam auf Finanzzahlen. Im Gesundheitswesen ist das nicht anders, das Gesundheitswesen kostet schließlich viel Geld, sehr viel Geld. Im Jahr 2016 waren es in Deutschland etwa 357 Mrd. Euro, wie Tabelle 1-1 zeigt. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt des gesamten Saarlandes betrug im gleichen Jahr nur ca. 34 Mrd. Euro, das Bruttoinlandsprodukt Hessens ca. 269 Mrd. Euro.
Der Verdacht, dass das Geld im Gesundheitswesen nicht immer sinnvoll ausgegeben wird, treibt daher die Gesundheitspolitik genauso um wie den Steuer- und Beitragszahler. Ein Beispiel: Infektionskrankheiten verursachen in Deutschland nur noch 5 % aller Sterbefälle – vor allem durch Grippe und Lungenentzündung. In den Gesundheitsämtern entfällt jedoch etwa ein Drittel der Personalkosten auf den Infektionsschutz, wobei es hier sogar nur um die meldepflichtigen Erkrankungen geht, deren Anteil an den Sterbefällen bei etwa 1 % liegt. Das scheint auf eine schlechte Kosten-Nutzen-Relation hinzudeuten: viel Geld für (fast) nichts. Gleichzeitig kann man in allen Zeitungen lesen, dass Übergewicht die Epidemie des 21. Jahrhunderts ist. In Deutschland gelten den Schuleingangsuntersuchungen zu|10|folge je nach Bundesland 8–12 % der Einschulungskinder als übergewichtig, bei den Erwachsenen sind es nach der DEGS-Studie des Robert Koch-Instituts 67 % der Männer und 53 % der Frauen (Mensink, Schienkiewitz, Haftenberger, Lampert, Ziese & Scheidt-Nave, 2013). Auch die Zukunft ist düster. In den USA liegen die Zahlen noch viel höher und das wird gelegentlich als Prognose für Deutschland gehandelt.
| Jahr 2014 | Jahr 2015 | Jahr 2016 |
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öffentliche Haushalte | 14 812 | 15 230 | 16 391 |
gesetzliche Krankenversicherung | 191 767 | 200 032 | 207 181 |
soziale Pflegeversicherung | 25 452 | 27 995 | 29 445 |
gesetzliche Rentenversicherung | 4 363 | 4 439 | 4 527 |
gesetzliche Unfallversicherung | 5 213 | 5 366 | 5 577 |
private Krankenversicherung | 29 084 | 30 536 | 31 016 |
Arbeitgeber | 13 818 | 14 464 | 15 015 |
private Haushalte und private Organisationen ohne Erwerbscharakter | 44 688 | 46 091 | 47 384 |
insgesamt | 329 198 | 344 153 | 356 537 |
Starkes Übergewicht, Fachleute sprechen von Adipositas, ist eine der wichtigsten Ursachen für lebensstilassoziierte Erkrankungen, bis hin zu vielen vorzeitigen Sterbefällen bei den Herz-Kreislauf-Krankheiten. Für die Prävention von Übergewicht geben die Gesundheitsämter aber so gut wie kein Geld aus.
Was also liegt näher, als die Mittel der Gesundheitsämter umzuschichten: beim Infektionsschutz sparen, bei der Prävention von Übergewicht mehr ausgeben. Die Daten sprechen jedenfalls dafür, oder? Aber wäre ein solcher gesundheitspolitischer Eingriff wirklich durch die Daten gedeckt, „evidence-based“, wie man heute sagt? Könnte es nicht sein, dass so wenig Menschen an Infektionskrankheiten sterben, weil der Infektionsschutz so gut ist? Dann wären die Zahl der an Infektionskrankheiten Gestorbenen und die Ausgaben für den Infektionsschutz sozusagen „kommunizierende Röhren“. Gibt man weniger aus, sterben mehr, gibt man mehr aus, sterben weniger. Das Umschichten von Ressourcen würde sich dann nur lohnen, wenn ein zusätzlich ausgegebener Euro im |11|Infektionsschutz weniger bringt als ein zusätzlich ausgegebener Euro in der Prävention von Übergewicht. Weiter wäre zu fragen, ob es überhaupt effektive Strategien zur Prävention von Übergewicht gibt. Und wenn ja, ist der Return on Investment nur anhand von Sterbefällen zu berechnen oder auch anhand von Erkrankungen oder schon am Rückgang der Übergewichtigen – was also sind unsere Outcome-Größen?
Ganz so einfach scheinen die Dinge also nicht zu liegen. Die Daten selbst sprechen eben nicht (und wenn sie es könnten, würden sie sicher manchmal schreien müssen, damit man sie nicht missversteht). Was die Daten scheinbar sagen, hat viel mit unseren Annahmen, unseren Theorien über die Sachverhalte hinter den Daten zu tun. Genauer formuliert: Daten sind erst vor dem Hintergrund von Annahmen und Theorien zu einem Gegenstandsbereich verständlich. Das ist übrigens eine der wichtigsten Erkenntnisse der Wissenschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts.
Daten und Wissen
In der Philosophie gibt es eine Tradition, die man „Empirismus“ nennt. Wichtige Vertreter dieser Tradition waren John Locke (1632–1704), David Hume (1711–1776) und John Stuart Mill (1806–1873). Auch im „Wiener Kreis“, einer bis heute einflussreichen philosophischen Gruppe Anfang des 20. Jahrhunderts, waren empiristische ...