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E-Book

Rußland im Zangengriff

Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam

AutorPeter Scholl-Latour
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl432 Seiten
ISBN9783843701716
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Seit der Implosion der Supermacht Sowjetunion haben sich die Gewichte der Welt nachhaltig verschoben. Zwar hat das russische Imperium unter Putin zu innerer Stabilität zurückgefunden, doch an seinen Außengrenzen brodelt es. Peter Scholl-Latour hat die russischen Grenzgebiete von Minsk bis Wladiwostok bereist. In gewohnt souveräner Manier schildert er seine Eindrücke und macht deutlich, wie sehr die Vorgänge in diesen Konfliktregionen uns unmittelbar betreffen. 

Peter Scholl-Latour, geboren 1924 in Bochum. Promotion an der Sorbonne in Paris in den Sciences Politiques, Diplom an der Libanesischen Universität in Beirut in Arabistik und Islamkunde. Er war in vielfältigen Funktionen als Journalist und Publizist tätig, unter anderem als ARD-Korrespondent in Afrika und Indochina, als ARD- und ZDF-Studioleiter in Paris, als Programmdirektor des WDR-Fernsehens, als Chefredakteur und Herausgeber des STERN und als Vorstandsmitglied von Gruner + Jahr. Seine TV-Sendungen erreichten höchste Einschaltquoten, seine Bücher haben ihn zu Deutschlands erfolgreichstem Sachbuchautor gemacht. Zuletzt erschienen bei Propyläen »Die Welt aus den Fugen« (2012) und 'Der Fluch der bösen Tat' (2014). Peter Scholl-Latour verstarb am 16. August 2014.

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Leseprobe

PRÉLUDE
Risse im Bündnis


Deutschland am Hindukusch


MAZAR-E-SCHARIF, IM AUGUST 2006


Die Auffahrt zum Salang-Paß ist durch dichten Nebel verhangen. Erst als wir jenseits des endlosen Tunnels in dreitausend Meter Höhe durch furchterregende Felsschluchten zur Steppenebene des Amu Daria absteigen, bricht die Sonne durch. Bis Mazar-e-Scharif, dem zentralen deutschen Stützpunkt in Nord-Afghanistan, sind es noch zweihundert Kilometer. Zwischen Kabul und Mazar beträgt die Fahrzeit ungefähr sieben Stunden. Hinter Scharikat, am Eingang des Pandschir-Tals, sind uns keine Patrouillen der NATO-Verbände und auch keine Soldaten der Afghanischen Nationalarmee mehr begegnet.

In unseren beiden Landrovern haben wir uns ohne jeden Schutz auf den Weg gemacht. Die Route gilt als relativ sicher, während die Verbindung nach Kundus – einem weiter östlich gelegenen »Stronghold« des deutschen ISAF-Kontingents – neuerdings häufigen Überfällen ausgesetzt ist. Kurz vor Erreichen des Flugplatzes, an den sich das deutsche Camp »Marmal« anlehnt, rollt ein Konvoi von zwei Dingos und zwei ungepanzerten Wolf in hohem Tempo an uns vorbei. An der schwer befestigten Einfahrt ruft die Ankunft unserer Zivilfahrzeuge Nervosität hervor. Wer kann schon garantieren, daß wir keinen Sprengstoff mit uns führen, und für unsere beiden afghanischen Fahrer würde selbst ich nicht die Hand ins Feuer legen. Die Lage beruhigt sich schnell beim Erscheinen des zuständigen Offiziers. Aber die erste Stimmung des Empfangs, die hastige Verstärkung der Abwehrwälle durch Sandsäcke und Betonmauern deuten darauf hin, daß die deutsche Militärpräsenz auf Verteidigung und zunehmend wohl auf Selbsterhaltung ausgerichtet ist.

Was haben Afghanistan und die Präsenz deutscher Truppen am Hindukusch mit der Einkreisung Rußlands zu tun, der dieses Buch gewidmet ist? Meine Erkundungsreisen zwischen Minsk und Peking habe ich in den Monaten Juli und August 2006 durch Expeditionen in die heißumkämpfte Stadt Kirkuk im Irak, einen Aufenthalt in der Islamischen Republik Iran und in Israel sowie durch diese Bestandsaufnahme in Afghanistan ergänzt. Dort überschneiden sich ja die Kraftlinien. In Kabul steht die ratlose Atlantische Allianz vor einem gordischen Knoten, und es ist kein Alexander in Sicht, der ihn mit seinem Schwert durchschlüge. Das der Bundeswehr zugewiesene Territorium erstreckt sich von dem schmalen Grenzstreifen mit der Volksrepublik China im östlichen Wakhan-Zipfel bis zur Provinz Herat, wo die Italiener Wache halten. Herat gilt kulturell als persisches Einflußgebiet.

Im Norden zieht der Amu Daria, der in seinem Oberlauf Pjantsch heißt, die Trennungslinie zwischen dem NATO-Territorium Afghanistans und den zentralasiatischen Republiken Usbekistan und Tadschikistan. Auf das Wohlwollen beider Regierungen ist die Präsenz der Bundeswehr angewiesen. Der Flugplatz Termes, unmittelbar nördlich des Stroms gelegen, ist die unentbehrliche Relais-Station für alle deutschen Transporte und Verstärkungen. Da sich die Beziehungen zwischen dem usbekischen Staatschef Karimow und den USA dramatisch verschlechtert haben, mußten behutsame Verhandlungen zwischen Taschkent und Berlin geführt, mußte die Pachtgebühr vermutlich wesentlich erhöht werden, um den Verbleib der Luftwaffe in Termes zu gewährleisten.

Anders verhält es sich mit Kundus, das durch eine vorzügliche Asphaltstraße – von Chinesen gebaut – mit dem Ufer des Pjantsch verbunden ist. Jenseits davon stehen die Grünmützen der tadschikischen Grenzwächter. Im extremen Ernstfall wäre die deutsche Garnison von Kundus vermutlich auf die Unterstützung der 201. russischen Infanteriedivision angewiesen, die weiterhin in der Hauptstadt Duschanbe dafür sorgt, daß Tadschikistan nicht in den grauenhaften Bürgerkrieg zurückfällt, an dem das Land in den neunziger Jahren zu zerbrechen drohte. Zu den Russen müßten sich die Deutschen dann allerdings durchschlagen.

Kundus hatte ich wie auch Faizabad, den äußersten Vorposten, der sich an China heranschiebt, im Herbst 2005 aufgesucht. In dem Stützpunkt Faizabad, der bei Regen und Schneewetter über Land kaum zu erreichen ist, konnte ich feststellen, daß im Falle eines wie auch immer gearteten massiven Aufstandes nicht die geringste Evakuierungschance bestünde, zumal im Winter, wenn eisige Temperaturen und Nebelschwaden den Entsatz aus der Luft verhindern. Was dann aus der Kommandozentrale Mazar-e-Scharif würde, läßt sich auf der Landkarte ablesen. Es bliebe nur der verzweifelte Durchbruch in Richtung Termes und zu jener Brücke über den Amu Daria, die General Gromow nach der Niederlage der sowjetischen Armee – das rote Banner wie eine Ikone auf den Armen tragend – als letzter Sowjetsoldat überquerte.

Alle Elemente, denen sich dieses Buch widmen will, sind hier also vereint: Das schwierige Nebeneinander von NATO und Rußland, die geheimnisvolle Nähe der neuen Weltmacht China, vor allem die Unwägbarkeiten der islamischen Revolution, der der amerikanische Präsident neuerdings das Etikett »islamischer Faschismus« anheftet und sie zusätzlich radikalisiert. Um es vorwegzunehmen: Die Irakisierung Afghanistans ist in vollem Gange.

*

Das Verteidigungsministerium in Berlin hatte dieses Mal alles versucht, um meine Reise nach Mazar-e-Scharif zu verhindern. Die bereits reservierten Plätze auf dem Luftwaffen-Airbus nach Termes wurden annulliert. Es erging die Weisung, daß ich an Patrouillen nicht teilnehmen und in keinem Fall ein Fahrzeug der Bundeswehr benutzen dürfe. Angeblich war man um meine Sicherheit besorgt, und von einem Staatssekretär, dessen Namen ich nicht nennen will, wurde mir zugemutet, ich solle mich bei den Amerikanern »embedden« lassen. Nun kommt die Praxis des »embedding« – das Wort spricht für sich – einer rigorosen Zensur der Berichterstattung gleich. Es hat den GIs im Irak, wo diese Einschränkung erstmalig angewendet wurde, keinerlei Vorteile, sondern gesteigertes Mißtrauen eingebracht. Man kann nur hoffen, daß diese Verschleierungsmethode in Berlin nicht Schule machen wird.

Bei der Truppe selbst, in Mazar-e-Scharif, finden wir – wie ich das stets erlebt habe – kameradschaftliche Aufnahme. An der von General Kneip angeordneten Patrouille nehmen wir dann eben nicht in einem gepanzerten Fahrzeug teil, sondern stolpern zu Fuß über die Ackerfurchen, die bei vierzig Grad Hitze steinhart gebacken sind. Der Kommandeur hat mich nach ausführlichem Gespräch eingeladen, am Abend vor der Truppe zu sprechen – es sind mindestens dreihundert Zuhörer zugegen –, und ich fühle mich in dieser freundschaftlichen Gemeinschaft mit jungen Männern, die meine Enkel sein könnten, außerordentlich wohl.

Der Oberleutnant, der die kleine bewaffnete Patrouille befehligt, interessiert sich in einem ärmlichen Dorf vor allem für die Sicherheit und den Zustand der Schule, die mit deutscher Hilfe für Knaben und Mädchen gebaut wurde. Dem alten Tadschiken, der dort als Wächter fungiert, ist kein Heldenmut zuzutrauen. Wir haben nebenbei erfahren, daß in den vergangenen Monaten in Afghanistan 240 Lehranstalten durch die Taleban vernichtet wurden und daß außerhalb Kabuls die Mädchen sich längst nicht mehr trauen, am Unterricht teilzunehmen. An der Außenmauer der besichtigten Schule klebt ein Plakat mit der Abbildung eines Skeletts. »Wenn ihr den Opiumanbau nicht vernichtet«, steht darauf, »wird das Opium euch vernichten!« Doch niemand – selbst nicht die amerikanischen Special Forces – hat es gewagt, gegen die ausgedehnte Kultur von Mohnblumen, die sich auch im deutschen Sektor von Badaghschan ungehemmt ausgeweitet hat, energische Maßnahmen zu ergreifen. Im vergangenen Jahr ist die Opiumernte um vierzig Prozent auf 4500 Tonnen angestiegen. Wer dagegen mit militärischen Mitteln vorginge, würde sich auf einen aussichtslosen Kampf mit den lokalen Warlords und der allmächtigen Drogen-Mafia einlassen. Sein Schicksal wäre besiegelt. Das sind die realen Kräfteverhältnisse am Hindukusch.

Gemessen an den Provinzen des Südens und des Ostens ist die den Deutschen zugewiesene Nordregion von ernsthaften Kampfhandlungen bisher verschont geblieben. In Kandahar, Paktia und Kunar sieht das ganz anders aus. Da stehen Briten, Kanadier und Holländer straff organisierten Aufstandsgruppen gegenüber, die man oberflächlich mit dem Sammelbegriff »Taleban« bezeichnet. Der derzeitige NATO-Befehlshaber für ganz Afghanistan, der britische Generalleutnant David Richards, der die Rebellen am Hindukusch in seltsamer Verblendung mit den Mitteln bekämpfen wollte, die sich in den fünfziger Jahren bei der Niederwerfung des kommunistischen Aufstandes in Malaya bewährten, hat inzwischen eingestanden, daß seine Paratroopers in der Provinz Helmand in die härtesten Kämpfe seit Korea und sogar seit dem Zweiten Weltkrieg verwickelt wurden. Die US Special Forces, die in den Schluchten von Nuristan dem Islamisten-Führer Gulbuddin Hekmatyar nachstellen und immer noch davon träumen, Osama bin Laden zu fangen – »dead or alive« –, fühlen sich in Afghanistan größeren Belastungen ausgesetzt als im irakischen Flachland Mesopotamiens.

Die Bevorzugung der Deutschen, die Sympathie, die den »arischen Brüdern« von den Afghanen entgegengebracht wird, dürfte nicht ewig andauern. Das Gebiet, in dem die Bundeswehr sich aufhält, wird überwiegend von Tadschiken bewohnt, und die hatten bei der Operation »Enduring Freedom«, die zur Vertreibung der Taleban führte, mehrheitlich auf seiten der »Nord-Allianz«, das heißt der Amerikaner, gekämpft. Bei meinem Gespräch mit Mohammed Atta, dem Gouverneur der Provinz Balq, deren Hauptstadt...

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