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E-Book

Zeit des Umbruchs

Wenn Christen ihre evangelikale Heimat verlassen

AutorMarkus Till
VerlagSCM R.Brockhaus im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783417229462
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Wie Kirche sich ändern muss, wenn Christen ihre evangelikale Heimat verlassen! Die 'Worthaus'-Mediathek, Torsten Hebels 'Freischwimmer' oder der Audio-Podcast 'Hossa Talk' haben für viel Gesprächsstoff unter Christen gesorgt. Die Akteure stellen starke Anfragen an die klassisch evangelikal geprägte Kirche und Gemeinde - von manchen werden sie daher als 'postevangelikal' bezeichnet. Markus Till, ein konservativ-evangelikaler Christ aus Überzeugung, leidet unter dieser Spannung und möchte Verständnis füreinander entwickeln. Insbesondere stellt er Fragen wie: 'Worüber wird eigentlich im Kern gestritten?', 'Kann man nicht trotz aller Differenzen gemeinsam den Glauben leben?' und 'Wie sehen Schritte aus der Krise aus?'

Dr. Markus Till (Jahrgang 1970) ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und wohnt in Weil im SChönbuch. Er hat Biologie studiert und arbeitet beim Universitätsklinikum Tübingen. Bekannt wurde er durch seine Lobpreislieder, durch den Glaubenskurs 'Aufatmen in Gottes Gegenwart' sowie den gleichnamigen Blog (www.blog.aigg.de).

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Leseprobe

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1. EIN RISS DURCH DIE EVANGELIKALE BEWEGUNG?


1, 2 oder 3 – du musst dich entscheiden … Springt in Ihrem Kopf auch eine Melodie an bei diesen Worten? Dann gehören Sie zu der Generation, die so wie ich vom beliebten TV-Kinderquiz mit Michael Schanze begeistert war. Die Eröffnungsmusik war ein Ohrwurm. Und sie erinnert mich an eine Zeit, in der es noch übersichtlich zuging in unserem Land. Im Fernsehen gab es ganze drei Sender: ARD, ZDF und eines der regionalen dritten Programme. Und bei den Wahlen gab es im Wesentlichen drei Parteien zur Auswahl: Die konservative CDU, die SPD als die Arbeiterpartei und dazu die unternehmerfreundlichen »Liberalen«. Wie überschaubar die Welt damals doch noch war!

Über Jahrzehnte konnte man auch die evangelische christliche Welt in Deutschland im Wesentlichen in drei Blöcke aufteilen:

Die sogenannten Liberalen (mehr zu diesem Begriff in Kapitel vier), die insgesamt der universitären Theologie folgten.

Die theologisch konservativen Strömungen (Pietisten und weitere konservative Bewegungen in den Landeskirchen, Baptisten, Brüdergemeinden und andere Freikirchen), die oft als Bibeltreue bezeichnet wurden.

Die Pfingstkirchen und Charismatiker, ebenfalls Bibeltreue, die aber sehr konkret mit dem übernatürlichen Wirken des Heiligen Geistes rechneten.

Seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts vermischten sich die theologisch konservativen Strömungen immer mehr. Sie hatten zunehmend ein gemeinsames Liedgut, gemeinsame Veranstaltungen, gemeinsame Verlage und Medien, gemeinsame Praktiken und weitgehend eine gemeinsame Theologie und verschmolzen miteinander zu den »Evangelikalen«. Nach und nach kamen in den letzten Jahren auch die Pfingstkirchen und Charismatiker dazu, sodass mittlerweile die konservativen und charismatischen Strömungen gemeinsam als Evangelikale bezeichnet werden. So wird der Begriff auch in diesem Buch verwendet.

Verantwortlich für die Teilung zwischen den Liberalen und den Evangelikalen war vor allem die liberale Theologie, die durch Theologen wie Friedrich Schleiermacher, Ernst Troeltsch oder Adolf von Harnack großen Einfluss an den universitären theologischen Fakultäten erlangte. Sie begünstigten die Verbreitung theologischer Thesen, die mit bibeltreuen Standpunkten absolut unvereinbar waren: Jesus ist nicht körperlich auferstanden. Die Wunder sind nicht wirklich geschehen. An die Stelle von persönlicher Erlösung von Sündenschuld traten Themen wie die Befreiung von sozialen Missständen oder der Kampf für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Alle diese Themen sind mir auch bei meiner Beschäftigung mit Postevangelikalen begegnet. Davon möchte ich auf den folgenden Seiten berichten.

Blitzlichter aus der postevangelikalen Welt


Ich möchte zuerst etwas vorausschicken, bevor ich meine Eindrücke aus meinen ersten Begegnungen mit der postevangelikalen Bewegung schildere: Meine Eindrücke sind natürlich subjektiv! Sie sind gefärbt von den Empfindungen eines Evangelikalen, der sich aus seiner evangelikalen Blase herausbegibt. Sie liefern also keine objektive Langzeitbeobachtung der postevangelikalen Bewegung, sondern subjektiv ausgewählte Blitzlichter von Begebenheiten, die mir durch meine evangelikale Brille hindurch besonders ins Auge gestochen sind und die ich hier und in den folgenden beiden Kapiteln auch noch nicht näher bewerten möchte.

Meine Beschreibung arbeitet ganz bewusst mit vielen Zitaten. Zitate haben den Vorteil, dass man sie bestimmten Menschen mit bestimmten individuellen Meinungen zuordnen kann. So kann ich hoffentlich das Missverständnis vermeiden, dass hier die Sichtweise aller Postevangelikalen wiedergegeben würde. Das wäre auch kaum möglich. Denn eine allgemeine, allseits akzeptierte Definition für postevangelikale Theologie gibt es nicht. Erst in den späteren Kapiteln dieses Buches werde ich versuchen, die verschiedenen postevangelikalen Fragestellungen, Sichtweisen und Themen ein wenig zu sortieren und zu bewerten.

Das postcharismatische Syndrom


Meine erste Begegnung mit Postevangelikalen hatte ich im charismatischen Umfeld. Wer länger in diesen Kreisen unterwegs ist, erlebt dort manchmal auch ziemlich wilde Begebenheiten. Lebhaft habe ich noch vor Augen, wie die Ausläufer der sogenannten »Toronto-Welle« nach Deutschland schwappten. In der Vineyard-Gemeinde in der kanadischen Hauptstadt waren ekstatische Phänomene aufgetreten: Menschen zuckten, schrien, heulten, lachten, brüllten und »ruhten« in der Kraft des Heiligen Geistes – so interpretierten es zumindest die dortigen Leiter. Das löste einen regelrechten Pilgerstrom aus der ganzen Welt nach Toronto aus. Die Rückkehrer brachten nicht nur die Toronto-Phänomene nach Deutschland, sondern in der Folge auch viele Gemeindespaltungen. Von der Toronto-Welle ist heute nicht mehr viel übrig geblieben. Aber zerbrochene Gemeinden, Gemeinschaften und Christen gibt es immer noch. Als ich mit solchen Christen ins Gespräch kam, machten sie sich regelrecht lustig über skurrile charismatische Gebräuche: Gebetszeiten, in denen Traubensaft über Landkarten ausgeschüttet wird, um ganze Regionen im Blut Jesu zu waschen. Sanftes Ziehen an den Beinen, um ungleich lange Beine im Gebet auf die gleiche Länge zu trimmen. Kräftiges Drücken auf die Stirn beim Segnungsgebet, damit die Gesegneten möglichst spektakulär nach hinten fallen. Manches davon habe ich selbst erlebt – aber als befremdliche Randphänomene, nicht als prägende Elemente der charismatischen Bewegung. Deshalb war das auch kein Grund für mich, mit der charismatischen Bewegung insgesamt zu brechen.

Bei diesen enttäuschten und irritierten Menschen war das anders. Man spürte ihnen ihre Verletztheit ab. Das gaben sie auch offen zu. Sie redeten selbst davon, unter einem Syndrom zu leiden: dem post-charismatischen Syndrom, PCS. Mir erschien die Zahl der Betroffenen damals ziemlich überschaubar. Ich ahnte noch nicht, dass ich zum ersten Mal auf die Bewegung gestoßen war, die man heute mit dem Begriff »Postevangelikale« umschreibt und zu der sich zahlreiche Christen zählen, die sich aus dem charismatischen oder dem konservativen Lager herausgelöst haben.

Liberale Thesen mitten im evangelikalen Lager


Ein wichtiges Merkmal der postevangelikalen Bewegung ist die offene und positive Beschäftigung mit den Themen und Thesen, die in der universitären Theologie eigentlich schon seit Langem hin und her gewälzt werden. Der postevangelikale Blogautor Christoph Schmieding schreibt dazu:

»Letztlich bewegen post-evangelikale Christen dieselben Fragen, die auch die aufkeimende liberale Theologie zu ihrer Zeit diskutiert hat. Es geht um die tradierte Vorstellung von Endgericht und ihrer Topik von Himmel und Hölle. Es geht um die Theodizee-Frage und wie man einen allmächtigen Gott im Angesicht des Leids dieser Welt noch denken kann. Es geht um die Frage der Ökumene, und ob man heute einen Exklusiv-Gedanken die eigene Religion betreffend noch formulieren kann oder überhaupt will. Es geht um Fragen der Lebensführung, wie etwa auch der Sexualmoral, und inwieweit Religion und biblische Vorstellungen hier heute noch als moralische Referenz angeführt werden können. Ja, nicht zuletzt steht auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Bibel und das zunehmende Bejahen einer historisch-kritischen Perspektive auf die religiösen Texte im Mittelpunkt des Diskurses.«18

Diese Sichtweise wird auch von Gottfried Müller bestätigt. Er berichtet, wie er in seiner Jugendzeit den Konflikt zwischen liberalen und evangelikal-konservativen Christen erlebt hat, und kommentiert: »Die einen haben sich mehr um das Soziale, Politische gekümmert und wollten eine Öffnung in theologischer Hinsicht haben, während wir Konservativen eben ganz stark das Geistliche betont haben und gesagt haben: Alles andere ist sekundär … Das heißt, die Streitfragen sind nicht neu. Die Streitfragen sind ganz alt. Was neu ist, ist, dass der Streit plötzlich in die größeren Lager reingeht.«19

Dass die Konflikte, die ursprünglich zwischen Evangelikalen und Liberalen ausgetragen wurden, nun plötzlich mitten unter den Evangelikalen selbst diskutiert werden, zeigte sich vor einigen Jahren schon an einem außergewöhnlichen Bucherfolg. Im Jahr 2015 machte das Buch »Freischwimmer« des ehemaligen Evangelisten Torsten Hebel Furore. Vielen Evangelikalen war Torsten Hebel noch bekannt von seinen feurigen Predigten bei »Jesus-House«, der Jugendausgabe von ProChrist. Nun schrieb dieser Mann: »Mein ganzes Konstrukt ›Glaube‹, das ich mir lange schöngeredet habe, ergibt für mich einfach keinen Sinn mehr.«20 Für Christen, die sich bei Hebels Predigten bekehrt hatten, muss das wohl ein Schock gewesen sein. Auch mir fiel das nicht leicht. Ich hatte Hebels Dienst selbst schon erlebt als einen begeisternden Mix aus leidenschaftlicher Ansprache und einem in der christlichen Szene wohl einzigartigen kabarettistischen Talent, das mich buchstäblich Tränen lachen ließ. Es fühlt sich eigenartig an, wenn einem Menschen, der einem einst Glaubensgewissheiten vermittelt hat, plötzlich selbst alle Glaubensgewissheiten weggebrochen sind.

Das Ende des Buchs klingt zunächst versöhnlich. Torsten Hebel schildert, dass er den Glauben an Gott durch ein persönliches »Erweckungserlebnis« wieder neu gefunden hat. Allerdings: Der Inhalt seines neuen Glaubens liest sich doch gänzlich unevangelikal. Gott ist für Hebel keine Person mehr. Gott ist vielmehr uneingeschränkt bei jedem Menschen vom ersten bis zum letzten Atemzug. Eine durch Sünde bewirkte...

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