Münchner Scharaden
(1945–1969)
Neuorientierung in Kriegsgefangenschaft
Heinz Felfe wurde von der 1. Kanadischen Armee gefangen genommen und ging als SS-Obersturmführer automatisch in Kriegsgefangenschaft. Er wurde von der Insel nach Groningen gebracht, wo er bis zum 27. Juni 1945 in Gewahrsam blieb. Nach seinen Aussagen erlitt er in den ersten Tagen seiner Gefangenschaft schwere körperliche Misshandlungen durch die Kanadier. Zudem wurden ihm seine letzten Habseligkeiten, wie sein Trauring und seine Uhr, abgenommen.
In dieser für ihn dunklen Zeit, während seiner insgesamt knapp eineinhalbjährigen Kriegsgefangenschaft, schloss Felfe ebenfalls Bekanntschaften, die ihm in den nächsten Jahren noch nützlich sein sollten. So teilte er sich eine Zelle mit Dr. Wilhelm Bodens, der für das Amt Ausland/Abwehr an der »Operation Nordpol«, bei der Falschinformationen an die Briten übermittelt wurden, mitgewirkt hatte. Bodens sollte später kulturpolitischer Referent für die westlichen Grenzgebiete im Ministerium für gesamtdeutsche Fragen (BMG) werden und mit Felfe bis zu dessen Verhaftung freundschaftlich verbunden bleiben.
Nach knapp zwei Wochen wurde Felfe am 12. Juli 1945 in das Gefängnis Noordsingel nach Rotterdam verlegt. Hier wurde der nach wie vor bekennende Nationalsozialist von dem kanadischen Captain R. T. Robinson vom »Interrogation Pool« befragt und so charakterisiert: »Felfe ist ein sehr intelligenter junger Mann, der einen recht positiven Eindruck macht. Er ist in allen seinen Antworten geradeaus und aufrichtig und vermittelt nicht den Eindruck, irgendetwas zu verheimlichen. Er gab offen zu, dass er ein begeisterter Nazi gewesen ist und große Hoffnungen in die Partei hatte, etwas für Deutschland zu erreichen. Er ist überzeugt, dass einer der entscheidenden Faktoren für den Niedergang Deutschlands die Überorganisierung von allem gewesen sei. Er spricht vollkommen frei und offen über seine eigene Arbeit und schiebt die Verantwortung dafür auf niemanden für irgendetwas.« Ausführlich berichtete Felfe über das RSHA, das er nun als »parasitäre Organisation« bezeichnete. Er gab umfangreich Auskunft über seine Dienststelle in den Niederlanden, über deren Personal und über die Agentennetze. Als er zum »Fall Otto« befragt wurde, schob Felfe die Verantwortung an dessen Ermordung dem Einsatzkommando Enschede zu, belastete darüber hinaus Hinrich Ahrens und negierte die eigene Schuld. In Rotterdam traf er ehemalige SD-Kameraden wieder, beispielsweise Helmut Proebsting, zu dem er nach dem Krieg freundschaftlichen Kontakt halten sollte. Zu Felfes Mitgefangenen zählte auch der labile Hinrich Ahrens, der einen weiteren Selbstmordversuch unternommen hatte.[1]
Nach rund einem Monat wurde Felfe in das 190 Kilometer entfernte Utrecht verlegt. Am Freitag, dem 23. November 1945, kam er zusammen mit zehn Offizieren und Unteroffizieren der Abwehr und der Sicherheitspolizei in das britische Lager der »Combined Services Detailed Interrogation Center« (CSDIC) in dem alten Fort Blauwkapel. Dort wurden gezielt Mitarbeiter der Nachrichtendienste untergebracht. Hier traf er beispielsweise Hermann J. Giskes, früher Abwehroffizier in Paris und in den besetzten Niederlanden, der von 1953 bis 1964 ebenfalls Mitarbeiter der Organisation Gehlen und des BND werden sollte. Zu Felfes flüchtigen Bekanntschaften zählte der niederländische Nationalsozialist und SS-Mann Willem Sassen, der im Dezember aus dem Lager entfloh und später als Interviewer von Adolf Eichmann in Argentinien für Schlagzeilen sorgen sollte.[2]
In der ersten Dezemberhälfte gingen die Befragungen intensiver als zuvor weiter. Diesmal durchgeführt vom CSDIC. Felfe wurde täglich von dem gebürtigen Niederländer J. »Hannibal« Hezmans verhört, der von ihm verlangte, zu bestimmten Themen Berichte abzufassen. Zunächst erklärte Felfe, wegen seiner Gedächtnisstörungen aufgrund der Kriegsstrapazen und erlittenen Misshandlungen keine detaillierten Angaben machen zu können. Als Gedächtnisstütze benötigte er unbedingt sein Notizbuch, welches sich bei seinen Wertsachen befand. In Erwartung umfassender Aussagen stimmten die Briten zu, wodurch Felfe seine Aufzeichnungen wie auch seinen Ehering zurückerhielt. Felfe zeigte sich nun kooperativ. Er gab von Beginn an umfänglich über Organisation und Personal des RSHA Auskunft. Dabei verstand er es psychologisch geschickt, durch ein offenes und selbstkritisches Auftreten Sympathiepunkte bei seinem Befrager zu gewinnen und die eigene Verantwortung auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Als in den Fünfzigerjahren bei BND-internen Befragungen seine niederländische Haftzeit zur Sprache kam, versuchte Felfe sich als bedächtig agierende Persönlichkeit darzustellen, der bei Verhören die Fäden in der Hand behalten und niemals Kameraden verraten habe. Aber das entsprach nicht der Wahrheit, denn er verriet nicht nur alle ihm bekannten »Kameraden«, sondern gab auch die Agenten preis, von denen er wusste, dass sie für den SD in der Schweiz, in den Niederlanden und woanders tätig gewesen waren. Die alliierten Geheimdienste werden sich über diese Informationen gefreut und Maßnahmen gegen die Nazispitzel eingeleitet haben. Der Lohn für seine Beredsamkeit war, dass ihm später die Briten bescheinigten, kein Kriegsverbrecher und besonders geeignet für eine Verwendung bei der neu aufzustellenden deutschen Polizei zu sein. Mit ihm zusammen inhaftierte SD-Leute lehnten dagegen Felfes Verhalten ab, widersprach es doch ihrem Korpsgeist. Felfe und Helmut Proebsting galten als »Kameradenschweine«, und zwar so sehr, dass der Verdacht aufkam, dass die beiden alles, was im Lager vorging, unverzüglich den Briten meldeten.[3]
Während Heinz Felfe das Weihnachtsfest 1945 in Gefangenschaft verbrachte, sorgte sich seine Familie in Dresden um ihn, besaß sie doch keinerlei Informationen darüber, wie er das Kriegsende erlebt hatte und was danach mit ihm geschehen war. Auch Felfe wusste nicht, wie es um seine Liebsten stand. Er hatte keine Ahnung, dass sein von ihm zeitlebens verehrter Vater am 21. Dezember verstorben war.
Bei seinen Befragungen im Januar 1946 konnte Felfe weitere Punkte machen. Nach den Kanadiern hielten ihn auch die Briten für sehr intelligent, gebildet und bereit, mit den westlichen Alliierten umfänglich zu kooperieren. Zudem wurde angemerkt, dass er seine Informationen freiwillig gegeben habe. Für ihn habe kein Grund mehr bestanden, etwas zurückzuhalten, da schließlich der Krieg beendet sei. Dieser sich an den herrschenden Autoritäten orientierende pragmatische Opportunismus war charakteristisch für ihn. Vermerkt wurde auch, dass Felfes größte Angst sei, in die sowjetische Besatzungszone (SBZ) geschickt zu werden. Eine Meinung, die der seinerzeit überzeugte Antikommunist wenige Jahre später ändern sollte. Aufgrund von Felfes kooperativem Verhalten empfahl »Hannibal«, ihn in ein anderes Internierungslager zu überstellen. Er war überzeugt, dass die Briten Felfe zu einem späteren Zeitpunkt in Deutschland nachrichtendienstlich nutzen könnten, wenn dieser dazu bereit sei. Und Felfe, ebenso Helmut Proebsting, war bereit und bejahte rückhaltlos eine Zusammenarbeit mit dem britischen Geheimdienst. Zwischen Felfe und Proebsting entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis.
Im Frühjahr 1946 endete die Befragung durch die Briten. Das Lager Blauwkapel wurde an die Niederländer übergeben. Felfe hatte es nun mit Max Wessel zu tun, einem Niederländer mit indonesischen Vorfahren. Wessel war ein ausgewiesener Deutschlandhasser sowie Kommunist und drohte den ehemaligen SS-Offizieren Felfe und Proebsting sogleich, dass nach ihrer Entlassung sich der sowjetische Geheimdienst um sie kümmern werde. Als Ausweg schlug er ihnen vor, für die Sowjets zu arbeiten. Doch der Antikommunist Felfe ging darauf nicht ein, vielmehr zeigte er den Vorgang angeblich bei der Gefängnisleitung an, was aber ohne Folgen blieb. Übrigens sollte Wessel dieses Angebot Felfe knapp zwei Jahre später in Bonn ein weiteres Mal unterbreiten.[4]
Im Sommer 1946 wurde Felfe abermals verlegt. Als erste Zwischenstation kam er am 12. Juli 1946 in das 60 Kilometer entfernte Kamp de Beer bei Rotterdam. Knapp zwei Wochen später wurde er zusammen mit Proebsting in ein Gefängnis bei Scheveningen verbracht, in das Bewaringsen Verblijfskamp Duindorp. Wie es seine Angewohnheit war, hielt Felfe die Kontaktdaten von Personen, die er kennenlernte, akribisch in seinem Notizbuch fest – Daten, die er zu gegebener Zeit zu nutzen wusste. Das schriftliche Gedächtnis von Heinz Felfe war langfristig ausgerichtet.
Von Scheveningen aus wurden Kriegsgefangenentransporte in die britische Besatzungszone (BBZ) abgefertigt, genauer in das 250 Kilometer entfernte Internierungs- bzw. Entlassungslager Münster in Westfalen. Felfe erhielt nun über das Internationale Rote Kreuz (IRK) erstmals Nachricht von seiner Familie. Seiner in Dresden gebliebenen Ehefrau Ingeborg berichtete er von seiner baldigen Entlassung. In ihrer Antwort von Mitte September 1946 riet sie ihm dringend, nicht in die SBZ zu kommen, und nannte ihm die Anschrift ihrer einzigen in Westdeutschland lebenden Freundin Gisela Hering in Honnef als Anlaufstation nach seiner Entlassung.
Aus der Erfahrung seiner zahlreichen Verlegungen wusste Felfe, wie man sich einen Vorteil verschaffen konnte. So gab er bei den mitunter vom Wachpersonal oberflächlich zusammengestellten Transportlisten nicht seinen Dienstgrad SS-Obersturmführer an, sondern den vergleichbaren militärischen Dienstgrad Oberleutnant. Durch diese...