Vergangenheitspolitischer Kontext
in Österreich nach 1945
Die Entnazifizierung
Das Jahr 1945 stand unter dem Zeichen des demokratischen Neuanfangs. Am 27. April 1945 – noch vor der Befreiung des KZ Mauthausen am 5. Mai und dem offiziellen Kriegsende am 8. Mai 1945 – gab die provisorische Regierung unter Staatskanzler Karl Renner die Unabhängigkeit Österreichs und die Gründung der Zweiten Republik bekannt. Das Selbstverständnis der Zweiten Republik basierte auf jenem Passus der Moskauer Deklaration von 1943, demzufolge Österreich im völkerrechtlichen Sinn als okkupierter Staat galt und somit als »erstes Opfer Hitlers« betrachtet wurde.[1] Ungeachtet der historischen Fakten wurden der originäre österreichische Beitrag zum Nationalsozialismus und die politischen und gesellschaftlichen Facetten der Mittäterschaft ausgeblendet. Der »Anschluss« von 1938 wurde als gewaltsame und erzwungene Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich gesehen und der Nationalsozialismus auf »die Deutschen« verlagert und somit externalisiert. Da die Selbstdarstellung als Opfer auch von den Alliierten unterstützt wurde, griff die österreichische politische Elite, aber auch die breite Bevölkerung, nur allzu gerne zu dieser politisch günstigen und moralisch entlastenden Formel. Somit konnte sich die sogenannte Opferthese hegemonial durchsetzen und wurde zum staatstragenden master narrativ der Zweiten Republik, das tief im kollektiven Gedächtnis verankert und über Jahrzehnte wirksam war.[2]
Das neue Österreich war als bewusste Antithese zur politischen Polarisierung der Ersten Republik und zum Nationalsozialismus gedacht. Die Abgrenzung vom Nationalsozialismus und das Bekenntnis zu Österreich und einer demokratischen Staatsordnung gehörten zu den Grundpfeilern der Zweiten Republik. Die ehemals verfeindeten politischen Gegner aus der Zeit vor 1938, von denen einige in NS-Konzentrationslagern gewesen waren, sollten über alle politischen Gräben hinweg (»Lagerstraßenmythos«) den demokratischen Wiederaufbau in Angriff nehmen. Demzufolge waren in der ersten provisorischen Regierung unter Führung des Sozialdemokraten Karl Renner Vertreter aller Parteien sowie drei Parteilose vertreten. Bei den ersten freien Wahlen am 25. November 1945 erhielt die ÖVP 85 Mandate, die SPÖ 75 Mandate und die KPÖ entgegen ihrer hohen Erwartungen nur vier Mandate. Es kam zur Bildung einer Konzentrationsregierung der drei Gründungsparteien, die bis zum Austritt der KPÖ 1947 bestand. Mit der darauffolgenden Großen Koalition war der Grundstein für eine jahrzehntelang gültige, auf Konsens und Zusammenarbeit ausgerichtete Politik der Zweiten Republik gelegt. Neben der Bewältigung von unmittelbar anfallenden innenpolitischen Problemen ging es der Regierung vor allem darum, sich gegenüber den vier Besatzungsmächten zu behaupten und möglichst vorteilhafte Ausgangspositionen für die Staatsvertragsverhandlungen der nächsten zehn Jahre zu schaffen.[3]
Wie nach jedem Ende einer politischen Diktatur, stellte sich 1945 auch in Österreich die Frage, wie mit den ehemaligen Machthabern und (Mit-)Tätern zu verfahren sei. Schon in den ersten Wochen der provisorischen Regierungstätigkeit wurden die gesetzlichen Grundlagen zur Entnazifizierung geschaffen: Das Verbotsgesetz vom 8. Mai 1945 (StGBl. Nr. 13/1945) sah die sofortige Auflösung der NSDAP, die Aufhebung aller NS-Gesetze, das Verbot künftiger NS-Propaganda und NS-Aktivitäten sowie die Entfernung der politischen NS-Eliten aus wichtigen Positionen in Staat und Wirtschaft vor. Das Kriegsverbrechergesetz (KVG) vom 26. Juni 1945 (StGBl. Nr. 32/1945) diente als Basis zur strafrechtlichen Ahndung von NS-Verbrechen.
Die Entnazifizierung in Österreich war kein einheitlicher Prozess, sondern es wurden in verschiedenen zeitlichen Phasen und verschiedenen Regionen (Besatzungszonen) unterschiedliche Prioritäten gesetzt.[4] Unmittelbar nach Kriegsende lag die Entnazifizierung noch hauptsächlich im Verantwortungsbereich der alliierten Siegermächte, die trotz unterschiedlicher Praxis ein einheitliches Ziel verfolgten: die Säuberung der wichtigen Positionen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Anders als in Deutschland übertrugen die Alliierten die Entnazifizierung bereits Anfang 1946 der österreichischen Regierung und zogen sich auf eine Kontrollfunktion zurück. Die Durchführung der Entnazifizierung lag damit weitgehend in österreichischen Händen, bedurfte aber immer der Zustimmung der Alliierten.
Das Verbotsgesetz sah die Registrierung aller eingeschriebenen NSDAP-Mitglieder vor, wobei insgesamt über eine halbe Million Menschen unter die Registrierungspflicht fielen und somit von der Entnazifizierung betroffen waren.[5] Allerdings bestand nach § 27 des Verbotsgesetzes die Möglichkeit, um Ausnahmen anzusuchen, von der auch ausgiebig Gebrauch gemacht wurde und die mithilfe von bereitwillig ausgestellten »Persilscheinen« der Parteien meist auch erfolgreich waren.[6] Diese Ausnahmeregelung und die Frage, wer sie bestimmte und für wen sie galt, war von Anfang an eine Kernfrage der Entnazifizierung. Als harten Kern des Nationalsozialismus in Österreich betrachtete man zunächst die »Illegalen«, d. h. all jene, die bereits vor 1938 der NSDAP oder einem ihrer Wehrverbände (SS, SA, NSKK, NSFK) angehört hatten. Diese rund 100.000 Personen hatten sich nach dem Verbotsgesetz des »Hochverrats« schuldig gemacht und sollten daher besonders hart bestraft werden. Den erst nach dem »Anschluss« 1938 beigetretenen Parteimitgliedern wurde zugebilligt, nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern aus Opportunismus oder Angst gehandelt zu haben. Dass die Realität wesentlich komplexer aussah, liegt auf der Hand.
Als Entnazifizierungsmaßnahmen waren unter anderem gestaffelte finanzielle Sühneabgaben, Entlassungen und Berufsverbote vorgesehen, deren Ausmaß von den eigens dafür geschaffenen »Volksgerichten« festgelegt wurde. Eine folgenreiche Maßnahme war die Entziehung des aktiven und passiven Wahlrechts, die vor den ersten Wahlen im November 1945 heftig diskutiert wurde. Während SPÖ und KPÖ für die (befristete) Entziehung des Wahlrechts von allen registrierten ehemaligen Nationalsozialisten eintraten, wollte die ÖVP zunächst nur die »großen Nazis« von der Wahl ausschließen. Da eine derartige Unterscheidung in so kurzer Zeit nicht möglich war, stimmte die Volkspartei letztendlich zu.[7] Bei den Novemberwahlen 1945 war somit rund eine halbe Million ehemaliger Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten vom demokratischen Mitbestimmungsrecht ausgeschlossen.
Die sogenannte »Nazifrage« dominierte den öffentlichen und politischen Diskurs der ersten Nachkriegsjahre. Unmittelbar nach der Befreiung war man sich einig, dass die führenden NS-Funktionsträger und NS-Täter zur Rechenschaft gezogen und hart bestraft werden müssten. Weniger Einigkeit herrschte darüber, wer nun ein »wirklicher« Nationalsozialist gewesen war und wer nur als »Mitläufer« zu gelten hatte. Bundeskanzler Renner brachte das Grunddilemma der Entnazifizierung im Oktober 1945 folgendermaßen auf den Punkt: »Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, die wirklich innerlichen Nationalsozialisten von denen zu unterschieden, die durch Widrigkeiten und Umstände des Lebens in diese Bewegung hineingeschlittert sind. Ja wenn es einen Röntgenapparat für Gesinnungen gäbe, dann wäre die Feststellung, wer ein wirklich überzeugter Nationalsozialist und wer ein wirklicher Gegner der Demokratie ist, leicht.«[8]
Der Begriff des »Mitläufers«, der nicht nur in Österreich als Entlastungsbegriff der Entnazifizierung schlechthin fungierte, wurde zunehmend ausgeweitet und meist entlastend mit dem Topos von Zwang und Verführung in Verbindung gebracht. Die zentrale Streitfrage der Entnazifizierung war, wie man mit der großen Masse dieser vermeintlichen »Mitläufer« umgehen sollte. Trotz gewisser Nuancen im Detail versuchten sich alle Parteien als Verfechter einer baldigen Reintegration der »kleinen Nazis« zu profilieren. Am offensivsten agierte in dieser Hinsicht die ÖVP, die schon im Oktober 1945 für eine bedingungslose Amnestie all jener eintrat, »die unter Zwang und Terror der NSDAP als Mitglied beigetreten waren, ohne sich jemals nationalsozialistisches Gedankengut angeeignet zu haben.«[9] Diese nachsichtige Haltung brachte der ÖVP den Ruf ein, eine »Reinwaschungsanstalt« für ehemalige Nationalsozialisten zu sein.
Die Position der SPÖ in dieser Frage war etwas differenzierter und reichte von einer sehr unnachgiebigen bis hin zu einer gemäßigten, auf »Versöhnung« ausgerichteten Linie.[10] Ein Beispiel für eine sehr radikale Haltung, die vor allem im linken Parteiflügel der SPÖ anzutreffen war, stellte das sogenannte »Sibirien-Plakat« dar. Auf diesem umstrittenen Wahlplakat von 1945 wurde der Austausch von ehemaligen Nationalsozialisten mit österreichischen Kriegsgefangenen in sowjetischen Lagern in Sibirien gefordert, wobei sich die Partei aber später von dieser Forderung distanzierte.[11] Dieses Plakat nahm man den Sozialdemokraten in »Ehemaligen«-Kreisen sehr übel und wärmte es bei späteren Wahlkämpfen wieder auf.[12] Grundsätzlich verstand die SPÖ die Entnazifizierung als eine Art »Umerziehung« zur Demokratie nach der Prämisse: »Jeder, der der nationalsozialistischen Propaganda erlegen ist, hat politisch versagt und muß umlernen.«[13]
Am kompromisslosesten trat die KPÖ für eine umfassende Entnazifizierung ein...