3 Diagnose und Förderung im Mathematikunterricht
In diesem Kapitel wird zunächst kurz vorgestellt, welche Sichtweise auf Mathematik heutzutage weit verbreitet ist und aus der Sicht der Fachdidaktik häufig eingenommen wird. Anschließend wird kurz erläutert, welche mathematischen Aspekte zu welchen Diagnosezeitpunkten bei einer Diagnose berücksichtigt werden und welche Verfahren dafür existieren. Mathematikdidaktische Hintergründe zu einzelnen Unterrichtsthemen, deren Verbindung zur sonderpädagogischen Perspektive sowie deren Konkretisierung auf Unterrichtsebene finden sich in Kapitel 4.
3.1 Die Rolle der Mathematikdidaktik
So wie es für den diagnostischen Prozess im Bereich der emotional-sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wichtig ist, Diagnose und Förderung immer miteinander zu denken, gilt diese Verbindung idealerweise ebenso für die unterrichtsbezogene, also die mathematikspezifische Diagnose und Förderung.
Diagnose und Förderung miteinander denken
Denn erst, wenn die Diagnose zu einer Förderung führt, können SchülerInnen davon wirklich profitieren. So benennen Hußmann et al., dass diagnostische Kompetenz dadurch erweitert werden kann, dass
„Schülerleistungen, -vorstellungen und -kompetenzen möglichst sensibel und vielschichtig […] [verstanden werden] und dieses Wissens [sic] zur Basis eines adaptiven Unterrichts […] [gemacht wird]“ (Hußmann et al. 2007, 1).
Inhalte durch Eigenaktivität erarbeiten und verstehen
Dieses Zitat weist schon darauf hin, dass Mathematikunterricht heute nicht daraus besteht, bloßes Rechnen von der Lehrkraft nachzumachen. Vielmehr konzentriert sich Mathematikunterricht darauf, dass mathematische Inhalte durch Eigenaktivität erarbeitet und verstanden werden. Diese konstruktivistische Sicht auf das Mathematiklernen, heute bekannt als aktiv-entdeckendes Lernen, ist ein grundlegendes mathematikdidaktisches Prinzip, das auch in den Lehrplänen verankert ist (Wittmann 1990).
Damit also die Diagnostik als Planungsgrundlage für einen aktiv-entdeckenden Mathematikunterricht dienen kann, muss mehr als ein Rechenergebnis am Ende einer Aufgabe erfasst werden.
prozess- und kompetenzorientierte Diagnostik
Wartha / Schulz (2014) betonen in diesem Zusammenhang die weit verbreitete prozess- und kompetenzorientierte Diagnose. Bei der prozessorientierten Diagnose werden eben nicht nur die Ergebnisse (produktorientierte Diagnose) berücksichtigt, sondern vorrangig die Bearbeitungswege der Lernenden.
„[Denn] [d]er zentrale Vorteil der prozessbezogenen Sichtweise ist, dass die Bearbeitungsprozesse deutlich mehr konkrete Hinweise auf Förderschwerpunkte geben als die Anzahl richtiger Lösungen“ (Wartha / Schulz 2014, 20).
Damit die Lehrperson zudem nicht nur die Herausforderungen ihrer SchülerInnen kennt (defizitorientierte Diagnose), sondern auch weiß, auf welchen Fähigkeiten sie aufbauen kann, sind ebenfalls die Kompetenzen der SchülerInnen zu diagnostizieren (kompetenzorientierte Sichtweise).
„Wünschenswert ist ein Zusammenspiel von defizitorientierter Sichtweise zur Identifikation von Förderschwerpunkten und kompetenzorientierter Perspektive zur Ermittlung des Lernstandes und der Anknüpfungspunkte von Förderung bzw. Unterricht“ (Wartha / Schulz 2014, 21).
Eine kompetenz-, defizit- und prozessorientierte Sichtweise auf Diagnose ist demnach wichtig, um SchülerInnen anschließend auch fördern zu können.
Die Aspekte, die bei dieser Diagnose genauer beobachtet werden, sind in der Mathematik sehr vielfältig. Hußmann et al. (2007, 3) geben einen Überblick über mögliche Aspekte. Hierbei unterscheiden sie zwischen mathematikspezifischen und überfachlichen Aspekten. Zentral ist dabei, dass in der Mathematik vielfältige Aspekte vorkommen. So lernen SchülerInnen unter anderem
■ Vorstellungen zu einzelnen Inhalten wie beispielsweise den Operationen,
■ das regelgeleitete Vorgehen, beispielsweise beim schriftlichen Rechnen (genannt: Verfahren),
■ prozessbezogene Kompetenzen fürs Mathematik treiben (Kap. 4.4.1) wie beispielsweise das Problemlösen
■ oder Zusammenhänge und Beziehungen zwischen Zahlen und geometrischen Objekten, wie beispielsweise das Gesetz der Konstanz der Summekennen und verstehen.
Die Aufgabe 54-31=23 könnte somit der Ausgangspunkt sein, um mehrere Aspekte zu diagnostizieren, beispielsweise:
■ wie Kinder die Lösung ermitteln (Verfahren), indem man die Kinder bittet, zu verbalisieren oder zu notieren, wie man solche Aufgaben löst,
■ was sie sich unter der Subtraktion vorstellen (inhaltliche Vorstellungen), indem man die Kinder bittet, eine Rechengeschichte zu der Aufgabe zu erfinden,
■ über welche Lösungsstrategien sie verfügen (Problemlösen), indem man sie bittet herauszufinden, wie viele Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 30 das gleiche Ergebnis haben.
Diagnosezeitpunkte
Neben der Frage, was diagnostiziert werden kann, ist es zudem wichtig, den Zeitpunkt der Diagnose zu berücksichtigen. So ist die Klassenarbeit am Ende einer Unterrichtseinheit nur ein mögliches Diagnoseverfahren zu einem möglichen Zeitpunkt.
Hußmann et al. (2007) unterscheiden die folgenden drei Diagnosezeitpunkte: Lernausgangs-, Lernprozess- und Lernergebnisdiagnose.
Neben der weit verbreiteten Diagnose am Ende eines Lernprozesses, beispielsweise durch eine Klassenarbeit, werden hier zwei weitere Zeitpunkte genannt. Unter der Berücksichtigung, dass Diagnose die Grundlage zur anschließenden Förderung sein soll, sind gerade die Diagnoseverfahren zu Beginn (Lernausgangsdiagnose) und während eines Lernprozesses (Lernprozessdiagnose) besonders relevant. Aus diesem Grund werden in den folgenden Unterkapiteln vorrangig ausgewählte Diagnosebeispiele für die ersten beiden Zeitpunkte vorgestellt.
3.2 Die Testverfahren DEMAT und EMBI
Aktuell existiert eine Vielzahl an Testverfahren (zum Weiterlesen s. Hasselhorn et al. 2005). Im Folgenden werden nur zwei Testverfahren exemplarisch vorgestellt.
DEMAT
Der Deutsche Mathematiktest (DEMAT) ist ein Testinstrument, das für mehrere Klassenstufen existiert. Krajewski et al. (2002) beschreiben, dass der Test auf der Grundlage aller deutschen Lehrpläne konzipiert wurde und dadurch lehrplanvalide ist. Der DEMAT 1+ ist beispielsweise zum Einsatz am Ende der ersten Klasse und / oder zu Beginn der zweiten Klasse konzipiert. Mit diesem werden in neun Subtests die Bereiche Mengen-Zahlen, Zahlenraum, Addition und Subtraktion, Zahlenzerlegung und Zahlenergänzung, Teil-Ganzes-Schema, Kettenaufgaben, Ungleichungen und Sachaufgaben getestet.
Dabei ist der Test so angelegt, dass er zeitökonomisch eingesetzt werden kann, so dass die Durchführung mit der gesamten Klasse in einer Schulstunde möglich ist. Zudem wird die Auswertung durch ein Auswertungsprogramm oder Auswertungsschablonen unterstützt.
Der DEMAT ermöglicht der Lehrkraft, einen Überblick über die Leistungen ihrer Lerngruppe zu erhalten und Kinder mit möglichen Rechenschwierigkeiten sowie besonderen Stärken zu identifizieren. Die Ergebnisse der Klasse und der einzelnen SchülerInnen können zudem mit Normwerten abgeglichen werden, so dass eine Bewertung über die eigene Klasse hinaus ermöglicht wird.
Um eine solch umfassend wirkende Diagnose in so kurzer Zeit zu ermöglichen, ist das Testinstrument stark normiert. So ist der Test so konzipiert, dass er von einer stufenweisen mathematischen Entwicklung ausgeht und diese Stufen in den Subtests abgebildet werden. (Krajewski et al. 2002)
EMBI
Ebenfalls stark normiert, aber stärker differenziert und weniger zeitökonomisch ist das Testinstrument EMBI, „Das elementarmathematische Basisinterview ”, für den Bereich Zahlen und Operationen von Peter-Koop et al. (2013).
Der EMBI wurde für den Bereich Zahlen und Operationen, Größen und Messen sowie Raum und Form konzipiert. Peter-Koop et al. (2007) beschreiben, dass das Testinstrument in einem Einzelinterview mit nur einem Kind erste Inhalte in diesen Bereichen diagnostiziert. Dabei ist es für den wiederholten Einsatz vom vorschulischen Bereich bis zur zweiten Klasse konzipiert. Zudem kann das Interview für Kinder mit Rechenschwierigkeiten auch länger genutzt werden. Auch dieses Testinstrument geht von einer stufenweisen Entwicklung der Kinder aus, erfasst diese aber in den Teilbereichen differenzierter und graduell abgestuft. Der Test zu den Zahlen und Operationen berücksichtigt beispielsweise die vier Teilbereiche Zählen, Stellenwerte, Strategien bei Addition und Subtraktion und Strategien bei Multiplikation und Division.
Zur Durchführung erhält die / der InterviewerIn (häufig also die Lehrkraft) einen detaillierten Interviewleitfaden, der neben der genauen Reihenfolge der Aufgaben auch die Aktivitäten und das Ende des Interviews vorgibt. Dabei wird das Ende über festgelegte Abbruchkriterien definiert. Abhängig davon, ob ein Kind eine Aufgabe erfolgreich bearbeitet hat, wird entschieden, welche Aufgabe als nächstes bearbeitet werden soll. Dadurch wird vermieden, dass SchülerInnen gegebenenfalls eine...