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E-Book

Mutter. Sein.

Von der Last eines Ideals und dem Glück des eigenen Wegs

AutorSusanne Mierau
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl271 Seiten
ISBN9783407865939
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Viele Frauen mit Kindern begleitet das Gefühl, keine gute Mutter zu sein. Susanne Mierau identifiziert vier große Konfliktzonen, die Müttern das Leben heute so schwer machen und bietet entlastende Unterstützung, um den eigenen, glücklich machenden Weg als Mutter zu finden. Sie thematisiert: 1. ein überholtes Mutterbild und die Anforderungen einer bindungsorientierten Erziehung, 2. die aus der eigenen Kindheit resultierende Unsicherheit, 3. der Druck durch andere Eltern und 4. ein negatives Frauenbild sowie gesellschaftliche Erwartungen wie Karriere und Lifestyle, die mit den Bedürfnissen von Kindern in Konflikt geraten. Persönlich, leidenschaftlich und auf der Grundlage von Studien, Umfragen und Erfahrungsberichten vieler Frauen entwirft Susanne Mierau Kriterien, um ein individuelles Selbstverständnis als Mutter zu entwickeln, das zur eigenen Situation passt, entlastet und zufrieden macht. Weil es DIE gute Mutter gar nicht gibt

Susanne Mierau ist Kleinkindpädagogin und Familienbegleiterin. Sie arbeitete an der FU Berlin in Forschung und Lehre, bevor sie sich 2011 selbständig machte im Bereich der bedürfnisorientierten Elternberatung. Susanne Mierau bloggt auf geborgen-wachsen.de, gibt Workshops für Eltern und Fachpersonal und spricht auf Konferenzen und Tagungen über Elternberatung und kindliche Entwicklung. Sie ist Mutter von 3 Kindern und zog 2020 mit ihrer Familie von Berlin in ein kleines Dorf in Brandenburg. www.geborgen-wachsen.de

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Leseprobe

2

Die Steinzeitmutter: Geschichte falsch interpretiert


Was Virginia Woolf schon 1938 anmahnte, findet sich durch neuere Studien bestätigt: »Wissenschaft, so scheint es, ist nicht geschlechtslos; sie ist ein Mann, ein Vater und auch infiziert.«1 Sie meinte damit, dass Wissenschaft nicht unbedingt objektiv ist, sondern beeinflusst von den Forschenden, die eben lange Zeit vorwiegend Männer waren und aus einem männlichen Weltverständnis ihrer Zeit Funde und Ergebnisse interpretiert haben. Wie sehr das auch auf das Mutterbild zutrifft, werden wir in diesem Kapitel sehen.

Die These, die wir immer wieder vernehmen, lautet: Als Mütter verfügen wir über einen angeborenen Mutterinstinkt, der uns nicht nur befähigt, individuell richtig auf das Baby zu reagieren, sondern der ein allgemeines mütterliches Umsorgen auslöst, eine bedingungslose Hingabe an das Kind. Wie wir schon gesehen haben, unterscheidet sich mütterliches und väterliches Verhalten aber nicht besonders voneinander. Dazu kommt außerdem, dass wir über die Kulturen hinweg kein typisches, allgemeines Mutterverhalten sehen: Wir lecken unsere Babys nicht nach der Geburt ab, verspeisen nicht instinktiv die Plazenta oder zeigen ein anderes über alle Kulturen gleiches Pflegeverhalten. Im Gegenteil: Wir sind individuell, manche freuen sich, manche sind ekstatisch, andere zurückhaltend, und einige brauchen wirklich Zeit, um in ihrem neuen Leben anzukommen und eine Beziehung zu dem kleinen neuen Menschen aufzubauen.

Und dennoch denken wir bei Mutterschaft an Steinzeitfrauen, die mit ihren Babys in Höhlen leben, während ihre Männer auf die Jagd gehen, als wären diese Rollen schon immer vorgegeben. Wir alle kennen die Höhlenszenen in Museen oder Büchern, in denen Frauen mit Kindern um das Feuer sitzen. Nicht zuletzt im Millionen-Bestseller Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken von Allan und Barbara Pease werden die männlichen und weiblichen Rollen an unseren Steinzeitvorbildern festgemacht. Verschiedene Ausstellungen und wissenschaftliche Veröffentlichungen2 haben aber mittlerweile belegt, dass es in der Steinzeit weder feste Rollenzuschreibungen gab, noch dass Frauen mit Kindern von der Jagd und anderen körperlichen Tätigkeiten ausgeschlossen waren. Selbst die lange nur Männern zugeschriebenen Höhlenmalereien wurden von beiden Geschlechtern und sogar vor allem von Frauen3 angefertigt. Erst kürzlich stellte sich heraus, dass es sich bei der Grabstätte eines berühmten Wikinger-Kriegers nicht um das Grab eines Mannes handelte, sondern um das einer mit Schwertern, Pfeilspitzen und geopferten Pferden beigesetzten Kriegerin.4 Auch ein Blick auf jene Naturvölker, die heute noch unter frühzeitlichen Bedingungen leben, gibt uns Aufschluss: Mütter sind von Jagd und Nahrungssuche nicht ausgeschlossen, sondern nehmen oft ganz selbstverständlich daran teil.

Das Umsorgen von Kindern in verschiedenen Kulturen


Anthropologische Vergleiche zeigen: Es gibt nicht die ursprüngliche Form der Kinderversorgung, sondern die Umsorgung von Kindern steht immer im Zusammenhang mit der Kultur, den Anforderungen des Gemeinschaftslebens und den konkreten Herausforderungen der Umwelt. Die Anthropologin Sarah Blaffer-Hrdy umschreibt dies folgendermaßen: »Es gibt vermutlich kein Säugetier, bei dem sich die mütterliche Hingabe nicht Schritt für Schritt und in Abhängigkeit von äußeren Impulsen herausbildet. Die Aufzucht eines Babys muss aus der Mutter herausgekritzelt, bekräftigt und aufrechterhalten werden. Das Hegen und Pflegen bedarf selbst der Pflege.«5 Mutterschaft und das Kümmern um Kinder – wie auch das Ausmaß dieses Kümmerns – sind unterschiedlich und abhängig von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter anderem der Unterstützung durch andere. Kinder wachsen in einer Gemeinschaft und werden von ihr umsorgt, sowohl um schlicht zu überleben, als auch um eine Aufgabe der Gemeinschaft zu erfüllen.

So kommt es, dass selbst in Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften, die in der bindungsorientierten Elternschaftscommunity so oft als Vorbild bezeichnet werden, ursprünglich eine Bandbreite an Betreuungspraktiken zu finden ist – wobei sich Bindung hier nicht zwangsweise auf eine oder wenige Bindungspersonen bezieht, sondern oft auch in multiplen Netzwerken gelebt wird. Während sich beispielsweise die Mütter der !Kung San in der afrikanischen Kalahari Wüste in den ersten drei bis vier Jahren fast ausschließlich um die Kinder kümmern und Kinder dort erst nach dieser Zeit von anderen Stammesmitgliedern umsorgt werden, wie auch die Ache-Kinder im Osten Paraguays in den ersten Lebensjahren fast ausschließlich von den Müttern betreut werden, unterscheiden sich die Betreuungspraktiken bei den Aka in Kongo-Brazaville je nach Jahreszeit und Örtlichkeit. Während der Jagd sind die Kinder am Körper der Mutter, im Camp werden sie jedoch vor allem von anderen umsorgt. Bei den Efe in Zaire werden bereits die Neugeborenen von anderen Frauen gestillt, und erst im zweiten Lebenshalbjahr übernimmt die Mutter eine besondere Stellung im Betreuungssystem. Auch die Bindungsbeziehungen zu Geschwistern werden in anderen Kulturen anders gelebt, und kleinere Kinder werden von größeren Geschwistern und anderen Kindern der Gemeinschaft mit umsorgt. In einigen Kulturen sind sie sogar Hauptbezugspersonen – ein ganz anderes Konzept des Zusammenlebens als bei uns. Ist es deswegen schlechter oder weniger umsorgend für Kinder? Die Entwicklungspsychologin Heidi Keller6 lässt uns in ihrem Buch Mythos Bindungstheorie einen anderen Blick auf die Unterschiede im Aufwachsen werfen und legt dar, dass das uns bekannte Konzept der Bindung (nach Bowlby, siehe unten) ein Modell der industrialisierten, städtischen Mittelschichtfamilien ist, dem weltweit aber nur ein geringer Prozentsatz der Menschheit angehört. In anderen Kulturen wachsen Kinder ganz anders auf.

Bereits in dem 1975 erschienenen Buch Auf der Suche nach dem verlorenen Glück von Jean Liedloff, das nicht nur in der antiautoritären Erziehung der siebziger Jahre Anklang fand, sondern auch mit den Grundstein für die später aufkommende Attachment-Parenting-Bewegung legte und ein Klassiker der populären bedürfnisorientierten Elternliteratur ist, beschreibt die spätere Psychotherapeutin Liedloff immer wieder, dass die Bedürfnisse von Babys unabhängig vom Geschlecht oder Alter einer Person erfüllt werden können: »Die Mutterrolle, die einzige Rolle, die zu einem Säugling in den ersten Monaten eine Beziehung herstellen kann, wird instinktiv von Vätern, anderen Kindern und auch sonst von jedem gespielt, der sich, und sei es nur für einen Augenblick, um das Kind kümmert. Zwischen Geschlechtern oder Altersgruppen zu unterscheiden ist nicht Sache eines Babys. Die Bedeutungslosigkeit männlicher oder weiblicher Eigenschaften für die Mutter- bzw. Vaterrolle ist […] erwiesen worden.«7 Wie wir noch sehen werden, wurde die Rolle der Frau als Mutter trotz dieser eindeutigen Hinweise in dem auf Liedloffs Beobachtungen bei den Yaquena-Indianern aufbauendem Attachment Parenting umgedeutet. Zunächst lässt sich jedoch festhalten: Es gibt in ursprünglich lebenden Kulturen keinen Hinweis darauf, dass Mutterschaft mit vorrangiger oder gar ausschließlicher Kinderbetreuung verbunden sein muss. Im Gegenteil: Bei jenen Lebewesen, die sich so langsam entwickeln wie unsere Menschenkinder, ist zu beobachten, dass die Aufzucht der Nachkommen kooperativ stattfindet: Wir werden von sogenannten »Alloeltern« unterstützt: von Partnern, Verwandten (insbesondere nach deren Menopause) und anderen Bezugspersonen. Das bedeutet nicht, dass Mütter nicht auch dort mit den Kindern spielen und kuscheln, aber es lässt unseren Blick darauf, dass Mutterschaft heute oft als eigentlicher Zweck des Frauendaseins betrachtet wird und wir als Mütter ganz auf den Nachwuchs konzentriert sein sollen, aufweichen. Es zeigt uns: Liebe und Fürsorge gab und gibt es, auch von Müttern. Aber Liebe und Fürsorge ist in anderen Kulturen nicht das, was wir hier als »Mutterliebe« definiert bekommen.

Dass dieses Konzept auch in unserer Kultur und Gegenwart möglich ist, zeigt das Beispiel von Sabrina. Die Pastorin, die sich mit ihrem Mann eine Stelle teilt, ist mit ihrer Familie in ein soziales Netz eingebunden, sodass sich nicht nur sie und ihr Mann um das gemeinsame Kind kümmern, sondern die ganze Gemeinde:

»Unsere Gemeinde hat sich unheimlich...

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