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»ICH BIN IHR SKLAVE«
WER SIND DIE IRANER?
EIN VIELVÖLKERSTAAT MIT EINER
URALTEN NATIONALKULTUR
Als die iranischen Revolutionsgarden im Frühjahr 2007 eine Gruppe britischer Marine-Soldaten im Schatt-el-Arab entführen, hält die Welt den Atem an: Die internationale Sorge um die Gefangenen ist groß. Schmoren die Briten jetzt in den Kerkern der Mullahs? Werden sie misshandelt, gar gefoltert? Tagelang weiß niemand, wo die Geiseln abgeblieben sind. Dann tauchen im iranischen Staatsfernsehen merkwürdige Videos auf: Eine britische Soldatin, die ihr blondes Haar unter einem schwarzen Kopftuch versteckt hat, überlegt, ob ihr Boot vielleicht aus Versehen in iranisches Gewässer eingedrungen sei. Weitere Aufnahmen zeigen die Soldaten beim Essen des iranischen Nationalgerichts Chelo-Kebab oder beim Tischtennis spielen...
Und während man im Westen noch rätselt, was das alles soll, bereiten die Machthaber im Gottesstaat hinter den Kulissen bereits die nächste Überraschung vor. Nach einer Pressekonferenz erklärt Präsident Mahmud Ahmadinedschad plötzlich, er würde die Seeleute »als Geschenk« an das britische Volk übergeben. Schon schwenken die Kameras auf die 15 »Gäste« der Islamischen Republik, denen man eigens für den Anlass fesche neue Anzüge verpasst hat. Der Staatschef schüttelt ihnen die Hand, erkundigt sich nach ihrer Gesundheit, scherzt noch ein wenig über ihren »Zwangsurlaub« und wünscht ihnen dann eine gute Heimreise. Ein Küsschen zum Abschied hätte gerade noch gefehlt.
Was soll dieses seltsame Gebaren? Was ist das für eine Nation, die sich so sonderbar gegenüber dem Westen verhält? Ein Land, das unberechenbar ist? Ein Volk von Irren gar? Nein. Aber ein Volk, das außerhalb der Zeit lebt, die auf dem Rest des Globus Gültigkeit besitzt.
Die Iraner leben in der Realität einer von ihnen selbst erfundenen Epoche. Nirgendwo sonst auf der Welt gilt das Teheraner Datum. Ihre Jahreszählung setzt beim Auszug des Propheten Mohammed aus Mekka an. Na gut, mag man einwenden, das ist auch in vielen arabischen Ländern der Fall. Aber die Iraner zählen die Jahre nicht, wie bei anderen Muslimen üblich, in Mondjahren, sondern legen das Sonnenjahr zugrunde. Es beginnt mit dem Frühling am 21. März. Und sie haben, um noch eine Eigenheit oben drauf zu setzen, ihre Monate nach den Engeln der Religion Zarathustras benannt. Fast scheint es, als wollten sie mit aller Gewalt ihre Originalität unter Beweis stellen.
Als ob es derer tatsächlich Beweise bedürfte! Seit drei Jahrzehnten schaut die Weltöffentlichkeit mit einer Mischung aus Faszination und Horror auf den islamischen Gottesstaat. Und noch immer können sich die Europäer nicht an den Gedanken gewöhnen, dass das einzigartige politisch-religiöse Staatssystem des Iran mitsamt all seinen Absurditäten und Absonderlichkeiten länger als ein Wimpernschlag der Geschichte Bestand hat.
Dabei ist die Islamische Revolution längst ihren Kinderschuhen entwachsen. Mittlerweile gehören zwei Drittel der iranischen Bevölkerung zu denjenigen, die nie eine andere Wirklichkeit als die des Gottesstaates kennengelernt haben. Und während die Europäer immer noch verständnislos den Kopf schütteln, vergessen sie oft, dass die Iraner auch schon vor der Revolution von 1979 ein eigenartiges und vor allem eigensinniges Volk waren. 2500 Jahre Geschichte haben ihre kulturelle, politische und religiöse Individualität geprägt.
Wer sind die Iraner? »Arier« sagen sie selbst, ohne mit der Wimper zu zucken. Denn nichts anderes als »Land der Arier« bedeutet der alte Name des Landes. Und auch wenn diese Selbstdefinition in deutschen Ohren sonderbar anmutet, ist die von Reza Schah 1935 angeordnete Umbenennung des Landes von »Persien« in »Iran« als eine integrative Geste zu verstehen. Denn während sich der kolonial-geprägte Landesname Persien explizit nur auf die Volksgruppe der Perser bezog, umfasst die uralte Bezeichnung »Iran« alle Volksgruppen. Auch die Kurden oder die arabischen Bewohner der Provinz Khusestan definieren sich als »Iraner«. Zwar pocht jede Volksgruppe auf ihre kulturellen Eigenheiten wie die lokale Sprache oder regionale Traditionen. Generell aber lässt sich sagen, dass die Iraner – trotz ihrer ethnischen Vielfalt – mehr verbindet als trennt. Allen Volksgruppen werden in der Verfassung zudem dieselben Rechte garantiert: »Alle Menschen des Iran, egal welcher ethnischen Gruppe oder welchem Stamm sie angehören, genießen dieselben Rechte«, heißt es in Artikel 19 unmissverständlich.
Die ethnischen Perser machen rund die Hälfte der Bevölkerung aus. Sie sind in den Provinzen Teheran, Fars, Isfahan und Khorasan beheimatet. Aserbaidschanische Azaris und Türken bilden die zweitstärkste Gruppe. Sie bevölkern den Norden des Landes und stellen rund ein Viertel der Einwohner Irans. Die Kurden haben einen Anteil von etwa acht Prozent an der Gesamtbevölkerung. Zu den zahlenmäßig schwächeren Gruppen gehören Belutschen, Luren, Gilaker, Mazandaraner, Turkmenen, Araber, Sistanis, Bakhtiaris, Brahuis, Armenier, Assyrer und Juden.
In gewisser Weise lässt sich der iranische Vielvölker-Mix mit der Situation in den Vereinigten Staaten vergleichen. Jeder Iraner kann sofort sagen, welcher Volksgruppe die eigenen Eltern oder Großeltern angehören. »Ich bin halb Kurde, halb Lure«, heißt es dann beispielsweise, denn Heiraten zwischen den verschiedenen Volksgruppen sind eine Selbstverständlichkeit. Auch ein gewisser Stolz mag aus den Worten heraus klingen. Aber selbst wenn zu Hause noch Kurdisch oder Lurisch gesprochen wird, stellt deswegen niemand seine Identität als »Iraner« in Zweifel. Viele iranische Staatsbürger beherrschen eine oder mehrere lokale Sprachen und natürlich »Farsi«, die lingua franca, die das gesamte öffentliche Leben beherrscht: In der Politik, allen Amtsstuben und den staatlichen Medien wird das Persische verwendet. Auch im Schulunterricht sowie in der universitären Ausbildung. Selbst in entlegenen Winkeln Irans versteht man diese gemeinsame Sprache. Allerdings senden die regionalen Rundfunkanstalten, beispielsweise in Kurdistan oder Aserbaidschan, auch tagtäglich mehrstündige Programme in den lokalen Sprachen Irans. »Der Gebrauch lokaler ethnischer Sprachen in der Presse und den Massenmedien ist gestattet«, heißt es in Artikel 15 der Verfassung. »Das Unterrichten von ethnischer Literatur im Zusammenhang mit dem Persisch-Unterricht ist ebenfalls erlaubt.«
Das Neben- und Miteinander der verschiedenen Volksgruppen hat eine lange Tradition im Iran. Nicht von ungefähr kommt der Monarchen-Titel »König der Könige«. Die Könige von Isfahan oder Persepolis regierten das Land mit Hilfe vieler regionaler Könige, die in den von ihnen verwalteten Regionen relativ autonom herrschten. Oft gab sich der Souverän damit zufrieden, Steuern von den Königen niederen Ranges einzusammeln, behielt aber keine längerfristige militärische Kontrolle über die entfernten Provinzen. De facto bestand das Perser-Reich bis zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aus einer Föderation vieler regionaler Imperien mit einem »Chef-Monarchen« an der Spitze.
Erst durch die Verfassung von 1906 wurde das Land zu einem »Nationalstaat« mit einer zentralisierten politischen Struktur. Die Pahlavi-Dynastie förderte den Nationalgedanken nach Kräften. Mittels Propaganda, aber auch mit Gewalt: Reza Schah verschloss die Augen vor der linguistischen Vielfalt Irans, indem er andere Sprachen als das Persische als »lokale Dialekte« abtat. Die nomadische Lebensweise vieler Stämme unterdrückte Reza Schah brutal. Jeden Widerstand ließ er militärisch niederschlagen. Auch Schulen und Massenmedien wurden in den Dienst der von ihm gewünschten »Iranisierung« gestellt. Parallel zu den drakonischen Maßnahmen trieb der lokale und ethnisch definierte Nationalismus in dieser Zeit erste Blüten, insbesondere in Aserbaidschan und in Kurdistan.
Vereinzelte Ressentiments gegen die Zentralregierung resultieren noch heute aus dieser Erfahrung. Und obwohl sich die Machthaber in Teheran ethnische Toleranz auf die Fahnen geschrieben haben, gibt es gelegentlich Konflikte zwischen der Hauptstadt und den Provinzen. Beispielsweise als die Teheraner Zeitung »Iran« im Frühjahr 2006 einen Witz veröffentlichte, in dem die Aserbaidschaner als Tölpel dargestellt wurden. Tausende von Provinz-Bewohnern fühlten sich dadurch düpiert. Empört gingen sie auf die Straßen, um gegen den »persischen Chauvinismus« zu demonstrieren. Die Staatsführung nimmt solche Warnungen allerdings sehr ernst. Nichts erscheint den Politikern in Teheran so gefährlich wie die Perspektive, das friedliche Miteinander der iranischen Volksgruppen aufs Spiel zu setzen. Kurzerhand verbot man die fragliche Zeitung.
Zu sporadischen Unruhen kommt es trotzdem. Etwa in den Provinzen Belutschistan und Khusestan, die Heimat der iranischen Araber. Allerdings liegt der Ursprung dieser Konflikte weniger in einer handfesten ethnischen Diskriminierung...