Einführung: Verwegenes Wachstum
Im Frühling 2008 buchte ich für meine Frau ein Überraschungsgeschenk zum 25. Hochzeitstag: eine Trekkingtour bis zum Basislager am Mount Everest im Himalaja-Gebirge. Ich hatte die Reise für den Oktober gebucht. Drei Wochen vor unserem Abreisetermin erklärte sich Lehman Brothers, die viertgrößte Bank in den USA, für insolvent. Das löste eine weltweite Finanzkrise aus.
Damals war ich noch Chefvolkswirt in der Londoner Niederlassung von Goldman Sachs, einer anderen führenden amerikanischen Investmentbank. Ich war hin- und hergerissen. Sollte ich die Reise trotzdem unternehmen? Damit wäre ich nicht nur zwei Wochen nicht in meinem Büro, sondern auch praktisch nicht zu erreichen. Und dies vor dem Hintergrund, dass die Welt der Finanzen zu kollabieren schien. Nach reichlicher Überlegung entschloss ich mich für die Reise. Würde ich auf den Tag warten, an dem es auf der Welt keine Krise gäbe, könnte ich niemals Urlaub nehmen. Und ich brauchte diese Auszeit. In den Wochen zuvor hatte ich pausenlos gearbeitet, auch an den Wochenenden. Wenn ich im Büro bliebe, würde das die Krise auch nicht lösen. Aber die Reise würde mir Zeit geben, um weit weg von all dem Lärm nachdenken zu können.
Auf dem Weg zum Mount Everest verbrachten wir eine Nacht in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu und warteten auf den haarsträubenden Flug zum Tenzing-Hillary Airport in Lukla. Beim Abendessen waren wir die einzigen Gäste im Restaurant, und daher hatte der Oberkellner Zeit, mit uns zu plaudern. Irgendwann erwähnte er die weltweite »Kreditkrise«. Für uns Menschen aus dem Westen ging es bei dieser Krise darum, dass man plötzlich keine Kredite mehr bekam. Aber in Nepal, wo so viele Geschäfte durch Barzahlung oder im Tauschhandel abgewickelt werden, spielte dies keine Rolle. Was unserem gesprächigen Oberkellner Sorgen machte, war der unaufhörliche Anstieg der Energiepreise. Zahlungsausfälle bei minderwertigen Hypotheken interessierten in Kathmandu niemanden, aber die Benzinpreise waren definitiv ein Thema.
Als er so redete, dämmerte mir allmählich, dass seine Sorgen sicherlich auch die Sorgen der Menschen in China und Indien waren. Sollte der Ölpreis wieder auf sein früheres Niveau sinken, wäre diese Krise, die wir alle für »global« hielten, in keiner Weise global, sondern ausschließlich eine Angelegenheit der westlichen Länder. Für diese Einsicht schulde ich diesem Oberkellner einen großen Drink.
Auf dem Weg zum Basislager des Mount Everest erreichten wir eine kleine Stadt namens Namche Bazaar. Sie liegt am Rand einer Hochebene, etwa 3.800 Meter über Meereshöhe. Auf dem Markt dieser Stadt versorgen sich die vielen Bergsteiger, die den Everest bezwingen wollen, und auch alle ortsansässigen Händler. Tibetanische Kaufleute führen ihre Yaks und Esel über die hohen und bedrohlichen Gebirgspässe, um ihre Waren zum Markt zu bringen. Ich hatte schon viel über diese wagemutigen Händler gelesen, aber es fiel mir schwer, diese Geschichten zu glauben. Dann stellte ich jedoch fest, dass sie nicht nur den langen und beschwerlichen Weg nach Namche Bazaar auf sich nahmen, sondern auch Informationen über die Marktsituation austauschten – und zwar mit Mobiltelefonen. Das erstaunte mich. Diese Händler telefonierten hoch in den Bergen des Himalaja-Massivs über ein chinesisches Netz miteinander, während ich nicht einmal in vielen Teilen Großbritanniens ein Signal bekam.
In einem der letzten Zeitungsartikel, die ich vor meiner Abreise aus London gelesen hatte, wurde behauptet, die Globalisierung wäre nun vollendet. Aber hier, hoch im Himalaja, konnte ich beobachten, dass eines der großartigsten modernen Werkzeuge des Handels von Menschen verwendet wurde, die man auf den ersten Blick wohl als primitiv bezeichnet hätte. Das war ein sehr überzeugendes Beispiel dafür, dass die Globalisierung noch voll im Gang war. Damals wurde mir klar, wie engstirnig manche von uns sein können.
2001 schrieb ich für die Global-Economics-Reihe von Goldman Sachs eine Forschungsarbeit, in der es um das Verhältnis der führenden Volkswirtschaften der Welt zu einigen der größeren Volkswirtschaften aus den aufstrebenden Ländern ging.1
Ich dachte, die Weltwirtschaft würde in den kommenden Jahrzehnten durch das Wachstum von vier bevölkerungsreichen und wirtschaftlich ehrgeizigen Ländern beflügelt werden: Brasilien, Russland, Indien und China. Aus den Anfangsbuchstaben dieser Länder prägte ich das Akronym BRIC, um sie zu beschreiben.
Allein aufgrund dieser Bezeichnung hat sich meine Karriere seither stark verändert. Schon damals sah ich diese vier Volkswirtschaften nicht mehr als traditionelle »Emerging Markets«. Nun, zehn Jahre später, ist es mir sogar noch wichtiger, die Welt davon zu überzeugen, dass diese Länder, neben einigen anderen aufsteigenden Sternen, heute und in Zukunft die Wachstumsmaschinen der Weltwirtschaft sein werden.
Als im September 2008 die Kreditkrise ausbrach, prognostizierten viele, die BRIC-Story wäre vorbei. Es gab Situationen, in denen ich mir ähnliche Sorgen machte. Unmittelbar nach der Krise fielen die Aktienmärkte der BRIC-Staaten stärker als die der etablierten Industriestaaten, und es sah so aus, als könnte der weltweite Handel auf Dauer beschädigt werden. Diese Befürchtungen erwiesen sich natürlich als vollkommen unbegründet. In gewisser Hinsicht wurde die BRIC-These damals wirklich erwachsen. Sie widerstand den Erschütterungen der Fundamente der Weltwirtschaft und ging stärker denn je aus ihnen hervor.
Meine Studie sorgte bei ihrem Erscheinen nicht für sofortiges Aufsehen, und meine wichtigsten Argumente hielt man damals nicht für allzu tiefschürfend. Auf der Basis meiner Analyse der weltweiten Bruttoinlandsprodukte schrieb ich, dass Brasilien, Russland, China und Indien, auf die damals 8 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung entfielen, im folgenden Jahrzehnt einen weitaus höheren Anteil erreichen würden. Ich bemerkte, dass China bereits ein höheres Bruttoinlandsprodukt (BIP) erreicht hatte als Italien – ein unumstrittenes Mitglied der G7-Gruppe der wirtschaftlichen Supermächte, und dass China im Lauf des Jahrzehnts auch noch eine Reihe anderer G7-Staaten überholen würde. Ich prognostizierte, dass in den kommenden zehn Jahren der Anteil der BRIC-Staaten – vor allem Chinas – am weltweiten BIP markant steigen würde. Die Welt würde darauf achten müssen.
Ich prognostizierte, dass Brasilien – unter höchst vorteilhaften, damals aber auch äußerst unwahrscheinlichen Umständen – sein BIP bis 2011 auf ein Niveau »nicht weit hinter Italien« steigern könnte. Das BIP Brasiliens überstieg das BIP Italiens im Jahr 2010. Brasilien wurde zur siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt und erreichte ein BIP von etwa 2,1 Billionen US-Dollar.
Die drei anderen BRIC-Staaten verzeichneten ähnlich beeindruckende Fortschritte. Ein Beispiel: In den ersten beiden Monaten des Jahres 2011 erfuhren wir, dass China Japan als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt überholt hatte. IndiGO, eine kaum bekannte indische Niedrigpreis-Fluggesellschaft, hatte 180 Flugzeuge vom Typ A320 bestellt. Damit erreichte sie zwei Drittel der Größe der in Europa seit Langem etablierten Fluggesellschaft easyJet. Und Russland wurde zum größten Automarkt Europas.
Alle vier BRIC-Länder haben die Erwartungen übertroffen, die ich 2001 in sie gesetzt hatte. Im Rückblick sehen diese frühesten Prognosen, obwohl sie damals viele Leute geschockt haben, heute ziemlich konservativ aus. Die BIPs der BRIC-Länder haben sich seit 2001 fast vervierfacht, von etwa 3 auf 11 bis 12 Billionen US-Dollar. Das weltweite Wirtschaftswachstum hat sich seit 2001 verdoppelt, und ein Drittel dieses Wachstums kam aus den BRIC-Staaten. Ihre kombinierten BIPs wuchsen mehr als doppelt so stark wie das BIP der USA. Das war so, als wären in einem einzigen Jahrzehnt ein neues Japan und ein neues Deutschland oder fünf Vereinigte Königreiche geschaffen worden.
Manche Beobachter sagen, die Auswirkungen der BRIC-Staaten auf die Weltwirtschaft wären übertrieben dargestellt worden, weil ihr Wachstum hauptsächlich durch Exporte in die etablierten Industrieländer und durch steigende Rohstoffpreise verursacht worden wäre. Für China spielten die Exporte natürlich eine bedeutende Rolle, aber seit der Kreditkrise 2008 und dem darauf folgenden Rückgang der Nachfrage in den USA und in anderen Ländern ist dies nicht mehr der Fall. In Indien war die Binnennachfrage im vergangenen Jahrzehnt der bedeutendste Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung. Die wesentlichen Wachstumsfaktoren in den BRIC-Ländern sind immer mehr die inländischen Konsumenten sowie der Anstieg der Ausgaben für Infrastruktur. Das durch Kredite angeheizte Wachstum der Nachfrage in den USA spielte für den Aufstieg der BRIC-Volkswirtschaften mit Sicherheit eine Rolle. Aber sogar seit 2008, und trotz der anhaltenden Probleme in den USA, sind die BRIC-Volkswirtschaften weiter gewachsen.
Man kann die Daten interpretieren, wie man will: Die Bedeutung der BRIC-Staaten für die Weltwirtschaft ist unbestritten. Der persönliche Konsum in den BRIC-Staaten ist in die Höhe geschossen. Zwischen 2001 und 2010 sind die inländischen Ausgaben in China um etwa 1,5 Billionen US-Dollar gestiegen. Das entspricht ungefähr der Wirtschaftsleistung des Vereinigten Königreichs. In den drei anderen Ländern war das Wachstum ähnlich, vielleicht sogar noch ein wenig höher. Auf die BRIC-Länder entfallen mittlerweile etwa 20 Prozent des Welthandels, während es 2001 noch weniger als 10 Prozent waren. Der Handel zwischen den BRIC-Staaten...