Vorwort
Zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, 26 bis 36n.Chr., gliederte sich das Römische Reich in 34 Provinzen, jeweils verwaltet von einem Statthalter. Als Präfekt von Judäa war Pontius Pilatus einer von ihnen, ein hoher Verwaltungsbeamter mit weitreichenden Vollmachten, handelnd an des Kaisers Statt, unzweifelhaft den obersten Rängen der Hierarchie des Reiches zugehörig.
Dennoch – und obwohl er, im Gegensatz zu vielen seiner Amtskollegen, immerhin Lokalgeschichte gemacht hat – wäre er nie aus dem sanften Dämmerlicht der wissenschaftlichen Fachpublizistik herausgetreten, hätte ihn nicht die Kreuzigung des Jesus von Nazareth hineingerückt in einen welt- und heilsgeschichtlichen Zusammenhang, der den, sagen wir es offen, mittelmäßigen Beamten geraden Weges in die Unsterblichkeit beförderte.
Aber selbst seine entscheidende Rolle bei der Passion Christi hätte ihm vielleicht nicht mehr als die bloße Aufnahme ins Credo eingebracht, wären nicht zwei Problemkreise mit seiner Person verknüpft, ein religionsgeschichtlicher und ein psychologischer, die seit 2000 Jahren nicht aufgehört haben, die abendländische Menschheit zu beschäftigen.
Beginnen wir mit dem religionsgeschichtlichen, der Frage, wer denn eigentlich schuld sei an Jesu Tod. Heute hat ihre Beantwortung rein akademischen Charakter, in den vergangenen Jahrhunderten freilich, die mit stupender Regelmäßigkeit die Schuld den Juden zuschoben, lieferte sie die wohlfeile Begründung für manchen Pogrom. Schließlich, so die Darstellung in den Evangelien, waren es die Juden, die Jesus verhafteten, anklagten und dem sich sträubenden Pilatus das Todesurteil gleichsam abzwangen.
Diese Sicht der Dinge ist öfter kritisiert worden. Man hat darauf hingewiesen, dass so, wie die Evangelien den Ablauf der Ereignisse schildern, er keinesfalls gewesen sein könne: Weder entspreche der Prozess vor dem Hohen Rat jüdischen Rechtsvorschriften, noch sei es denkbar, dass es eine Amnestieregelung gegeben habe, wie sie Pilatus auf Jesus anwenden wollte. Weiter sei es unwahrscheinlich, dass der römische Statthalter sich eines jüdischen Rituals, der Handwaschung, bedient habe, um sich symbolisch von der Schuld am Tode Jesu zu entlasten. Wahrhaft lächerlich aber sei es, sich vorzustellen, dass der Vertreter des Kaisers mit Ecce-homo-Rufen das Volk um Begnadigung des Angeklagten gebeten habe.
Sicher ist, dass die synoptischen Evangelien, gegen Ende des 1. Jahrhunderts abgefasst, durchaus mit antijüdischer Tendenz geschrieben sind. Sie entstanden in einer Phase, in der sich jüdische Synagoge und christliche Gemeinde in einem ausgesprochenen Konkurrenzverhältnis befanden. Nahmen die einen in dieser Zeit die Verfluchung der Christen in das Achtzehnbittengebet auf, so waren die anderen davon überzeugt, das neue Gottesvolk zu sein. Die Juden jedenfalls hätten versagt, zuletzt bei der Hinrichtung Jesu, und die Zerstörung ihres berühmten Tempels durch den römischen Feldherrn Titus im Jahre 70 sei der sichtbare Ausdruck des göttlichen Zorns gewesen.
Angesichts dieser Befangenheit der Evangelien hat es nicht wenige Versuche gegeben, die Alleinschuld am Tode Jesu den Römern aufzubürden. Der zu diesem Zweck aufgewandte Scharfsinn krankt indes daran, dass er zwar ein Bild davon übermittelt, wie es gewesen sein soll, aber nicht den Beweis antritt, dass es wirklich so gewesen ist. Aufgrund der dürftigen Quellenlage ist das auch nicht möglich.
Es ist auch nicht nötig, denn wenn der jüdisch-christliche Dialog wirklich dieser Entlastung bedürfte, wäre es schlecht um ihn bestellt. Der Leser wird es bemerkt haben: Ich halte die Frage nach der Schuld am Tode Jesu in der Tat für überholt und überflüssig.
Ganz anders verhält es sich mit dem zweiten Problemkreis, dem psychologischen. Was die Verfasser der Evangelien mit der Person des Pilatus geschaffen haben, ist nichts weniger als eine paradigmatische Figur von zeitloser Aktualität: ein Mensch, dem die Dinge außer Kontrolle geraten, der zu spontan reagiert, mühsam improvisiert, es mit einem System von Aushilfen versucht, der aber, verstrickt in seine selbstgeschaffenen Abhängigkeiten, scheitert.
War das der historische Pilatus? Handelte so ein römischer Politiker, der durch die hohe Schule der Legionen gegangen war und Durchsetzungskraft und Härte doch wohl verinnerlicht haben musste? Die Frage stellte sich erst später. Der urchristlichen Gemeinde war der Sachverhalt klar. Der Statthalter wurde schließlich nicht mit irgendwem, sondern mit Gottes Sohn konfrontiert. Wie hätte ihn das unbeeindruckt lassen sollen?
Jeder, der die Passionsgeschichte in den Evangelien nachliest, leidet unter der nämlichen Schwierigkeit: Man erfährt, was sich ereignet, weiß aber nicht, warum. Nur in seltenen Fällen bemühen sich die Verfasser um die psychologischen und sachlichen Erklärungen, deren es zum Verständnis der geschilderten Vorgänge bedürfte, und oft erscheinen die Handlungen des Pilatus so widersinnig, dass man vollends geneigt ist, das ganze Geschehen außerhalb der Gesetze der Logik anzusiedeln.
Ich behaupte: Es gibt eine innere Übereinstimmung aller vier Evangelien – trotz ihrer unterschiedlichen Entstehungszeit – in der Frage des Charakters des Pilatus. Dementsprechend lassen sich die im Matthäus-, Markus-, Lukas- und Johannesevangelium überlieferten Pilatusstellen ordnen. Die Aufgabe besteht darin, eine Charakterdisposition zu entwickeln, die fähig ist, dem Ablauf der Ereignisse psychologisch und sachlich Sinn zu geben.
Das Ergebnis meiner Bemühungen ist der zweite Teil dieses Buches, der »Richter«. Gemäß der subjektiven Vorgehensweise ist er in der Form eines inneren Monologs des Pilatus abgefasst. Die Handlungszeit ist auf einen Tag zusammengedrängt, eben jenen, an dem sich die Passion Christi zutrug.
Dem »Richter« vorangestellt und damit der erste Teil des Buches ist der »Römer und Ritter«. In ihm werden Pilatus und sein historisches Umfeld vorgeführt. Rom, der Kaiserhof des Tiberius, sein Stand, dann seine Rolle als »Lokalpolitiker«, wie ihn uns Flavius Josephus, der Historiker, und Philo von Alexandrien, der Philosoph, geschildert haben. Diese bedeutendsten jüdischen Schriftsteller des 1. Jahrhunderts sind die Einzigen, die die Amtszeit des Pilatus ausführlich abhandeln. Bezeichnenderweise hat ihn die römische Geschichtsschreibung, sieht man von einem einzigen Satz bei Tacitus ab (Tac., Ann. XV44), vollständig ignoriert.
Flavius Josephus, der im jüdischen Aufstand die galiläische Festung Jotapata gegen die Römer verteidigte und sich 67 Vespasian ergab, hat uns in den Jüdischen Altertümern und im Jüdischen Krieg ein genaues Bild Judäas im 1. Jahrhundert vermittelt. Interessanterweise wird weder bei ihm noch in anderen jüdischen Quellen der gegen Jesus geführte Prozess erwähnt (der als Gegenbeweis seit dem 4. Jahrhundert zitierte Abschnitt in den Jüdischen Altertümern XVIII, 3,3 das sogenannte Testimonium Flavianum, wurde von einem christlichen Redakteur nachträglich eingefügt, zumindest aber stark überarbeitet). Die Schlussfolgerung, dass die Zeitgenossen, so sie nicht Anhänger Christi waren, die Hinrichtung eines falschen Propheten oder eines politischen Unruhestifters nicht besonders berichtenswert fanden, liegt nahe. Insofern folge ich im ersten Teil der Interpretation von Anatole France, der seinen längst pensionierten Pilatus auf eine dementsprechende Frage antworten lässt: »Jesus? Jesus, der Nazaräer? Nie gehört.«
Für die Zeit vor und nach Pilatus’ Präfektenamt sind wir vollkommen auf Spekulationen angewiesen. Quellen über seine Jugend und sein Alter existieren nicht. Die Ämterlaufbahn des Pilatus bis 26, wie sie andeutungsweise in beiden Teilen des Buches erscheint, ist also nicht authentisch, sondern von mir konstruiert, allerdings so, wie sie für einen römischen Ritter denkbar gewesen wäre.
Offengelassen habe ich die vieldiskutierte Frage, ob denn Pilatus ein Parteigänger des Prätorianerpräfekten Sejan gewesen sei oder nicht. Wie so viele Fragen lässt sich auch diese nach den Quellen nicht beantworten. Die als positiver Beleg gern angeführte Stelle in der Kirchengeschichte des Eusebios von Cäsarea (II5, 7) ist nachweislich untauglich, kombiniert sie doch zwei bei Philo getrennte Textstellen zu einem neuen Sinnzusammenhang. In meiner Darstellung lasse ich Pilatus dort Parteigänger des Sejan sein, wo der Ablauf der Ereignisse dieses nahezulegen scheint, im »Richter«, wohingegen im »Römer und Ritter« eine Verbindung Pilatus – Sejan nicht hergestellt wird.
Die bisherigen Abhandlungen über Pontius Pilatus haben versucht, sämtliche Quellen, sowohl die christlichen als auch die jüdischen, in eine Gesamtdarstellung einzubringen. Das konnte nicht gelingen, denn der Pilatus der Evangelien, der Richter Jesu, hat mit dem Pilatus der jüdischen Quellen, dem Römer und Ritter, nur den Namen gemein. Flavius Josephus, als Freigelassener des Vespasian vorsichtiger im Urteil, hauptsächlich aber Philo von Alexandrien haben an dem Präfekten vieles auszusetzen, vor allem dies, dass er es nie für wichtig hielt, die Eigenarten Judäas, speziell die jüdische Religion, zu berücksichtigen. Dabei bringt Josephus dem Statthalter mehr Verständnis entgegen als Philo, der ihn gnadenlos als korruptes und brutales Scheusal zeichnet. Diesen Pilatus und seine zehnjährige Amtszeit kennen die Evangelisten nicht, da sie ausschließlich auf die...