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Als die Bücher noch geholfen haben

Biografische Skizzen

AutorFriedrich Christian Delius
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
ReiheDelius: Werkausgabe in Einzelbänden 
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783644111011
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Welches war der verrückteste Moment in der Literaturgeschichte seit 1945? Warum verliebte sich ein junger deutscher Autor in Susan Sontag? Wie veränderten die Schüsse der sechziger Jahre die Sprache? Wie spielte Rudi Dutschke Fußball? Warum klagte ein Konzern wie Siemens gegen eine Satire? Wie wurde Literatur durch die Berliner Mauer geschmuggelt? Seit fast fünf Jahrzehnten ist Friedrich Christian Delius Akteur und Beobachter des deutschen Geisteslebens. Schon mit einundzwanzig las er vor der Gruppe 47, wurde wenige Jahre später Lektor bei Wagenbach, dann bei Rotbuch. Er erlebte Sternstunden und Tiefpunkte der Linken sowie ihre Zerrissenheit angesichts des beginnenden RAF-Terrors. Mit seinen Romanen wurde er zum poetischen Chronisten deutscher Zustände - wobei er die Kunst stets gegen die Politik verteidigte. In seinem Erinnerungsband liefert Delius bestechende Deutungen der tiefen politischen Spaltungen von den Sechzigern bis zur Wendezeit, zeichnet Porträts von Weggefährten und Autoren wie Wolf Biermann, Heiner Müller oder Günter Kunert, Nicolas Born, Thomas Brasch oder Herta Müller und spricht über das Glück der Literatur. Ein ebenso persönliches wie eindrucksvolles Zeugnis einer Epoche.

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

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Leseprobe

II. Wagenbach und RAF und Rotbuch


Politische Fremdsprachen


«Kommen Sie zu mir, wenn Sie fertig sind», hatte Klaus Wagenbach 1968 gesagt, damals waren wir noch beim Sie. Eine Halbtagsstelle als Lektor in seinem Verlag, das war die beste, seit langem erträumte Aussicht. Einen angenehmeren Chef konnte ich mir kaum vorstellen, ein Kumpeltyp, immer zu Witz und Spott aufgelegt, literarisch beschlagen und auf Außenseiter setzend, politisch hellwach, ein Frauenfreund, ein Mann mit vielen Kontakten und noch mehr Einfällen und vor allem: ein cleverer Verleger. Die Aussicht auf den Lektorenstuhl in der Jenaer Straße half mir, die Dissertation «Der Held und sein Wetter» rascher zu Ende zu bringen, mich nicht weiter aufzuhalten mit Nebenarbeiten und mit Überlegungen zur Relevanz des Schreibens.

Bald nach dieser Zusage rutschte ich in die übliche Promotionskrise, wollte abbrechen und gleich als Lektor anfangen, da kam der kluge Rat: «Nein, schreiben Sie das Ding fertig, Sie werden sich sonst ein Leben lang vorwerfen, ein Studienabbrecher zu sein. Ich halte Ihnen die Stelle frei.» Endlich im Juli 1970 begann die Arbeit an Manuskripten und Fahnen der Bücher, die in den turbulenten Aufbruchszeiten zu klaren Köpfen verhelfen sollten.

Ende der sechziger Jahre war der Verlag Klaus Wagenbach schon nicht mehr der «Ein-Mann-Verlag», der er nie war. Von Anfang an, 1964, waren zwei Frauen dabei, Helga Scheller und Katia Wagenbach, bald auch, 1966, ein Lehrling, mein Bruder Eberhard. Der Verlag hatte sich nicht nur vergrößert, er hatte sich deutlich verändert. Das literarische Programm war internationaler geworden (Césaire, Manganelli, Vian, Ritsos, Zwetajewa), und von deutschen Autoren waren solche mit starker politischer Neigung hinzugekommen (Fried, Karsunke, von Törne, Schenk, Schneider).

Die stärkste programmatische Erweiterung jedoch hat mich weniger erfreut, die 1968 begonnene Reihe der Rotbücher. Mir wäre es lieber gewesen, der Verlag wäre ein literarischer geblieben, aber an der Entscheidung war der studierende Jungautor natürlich nicht beteiligt und akzeptierte sie. Für Sachbücher gab es eigentlich genügend Verlage, und es gründeten sich ständig neue. Wagenbach wollte auf diesem Wachstumsmarkt mitmischen und sich profilieren, indem er von den Büchern selbst ein Maximum verlangte. Die Rotbücher sollten ausdrücklich mehr leisten als andere, also nicht nur informieren, aufklären, Fragen stellen, erheitern, nicht nur der Orientierung, Horizonterweiterung und schärferen Politisierung des Publikums dienen, diese Bücher sollten zur Organisierung der Linken beitragen:

«Damit Geschichte sich nicht in totale Freiheit auflöst, die mit der totalen Macht verbündet ist, kann auf die organisierende Funktion der Theorie nicht verzichtet werden. Das antiautoritäre Lager ist so weit verstreut und in seinen Teilen so weit voneinander isoliert, daß u. a. eine kommerzielle Buchreihe diese Funktion übernehmen muß. Ein Versuch in dieser Richtung sind die Rotbücher», die weniger vom Verlag bestimmt werden sollten als von der «organisatorischen Entwicklung des antiautoritären Lagers. Gegen die Angst vor einer solchen Bestimmung: eine bürokratische Verselbständigung ist nicht die Folge des fehlenden Liberalismus, sondern des fehlenden revolutionären Bewußtseins, der Einheit von Widerspruch und Disziplin.» (Verlagsalmanach 1968)

Der Verleger hatte sich von einigen SDS-Studenten, die einen aus der Gruppe, Wolfgang Dreßen, als Lektor delegierten, überzeugen lassen, nur eine Reihe bei ihm könne diese «organisatorische Entwicklung des antiautoritären Lagers vorantreiben». Dass ein begabter Fragensteller zum Antwortgeber mutiert, dass ein Einzelgänger, ein mutiger Narziss sich neben seiner aufreibenden Arbeit als Literaturverleger und pfiffiger Anthologist («Atlas», «Tintenfisch», «Lesebuch») noch als geistiger Oberorganisator des linken «Lagers» betätigt – vor lauter Veränderungsschwung hat niemand damals diese Komik bemerkt, ich auch nicht.

Kein Zweifel, es gab auch gute Gründe für die Reihe Rotbücher, der Preis, die Themen, die Aktualität, die Nähe zur antiautoritären Bewegung. Hier sind damals einige gute Bücher erschienen (z. B. «Die Schülerschule»). Aber mit dem rigiden Konzept hat der Verlag, literarisch ein Zentrum intellektuellen Freigeistes und tapferer Selbstdenkerei, sich politisch, mit Zustimmung des Verlegers, einer organisatorischen «Disziplin» unterworfen und funktionalisieren lassen. Fataler noch war das Eindringen einer politischen Fremdsprache, eines Jargons, der, je aktionistischer und anarchistischer er wurde, alles andere als die «Organisierung der Linken» befördert und am Ende den Verlag ins Schleudern gebracht hat.

Fortan galten im Verlag zwei Sprachen, zwei Tonlagen. Die fragende, differenzierende, witzige, antiautoritäre Sprache der Literatur und die autoritäre, maximalistische, fordernde der Politik, gemischt mit den aktuellen Schlagwörtern. Eine appellative Sprache, im wolkig-voluntaristischen Jargon jener Jahre verfangen und fleißig Urteile fällend, fast Satz für Satz dekretierend: gut, böse, falsch, richtig, revolutionär, konterrevolutionär usw. Wer das Gruseln vor dieser Sprache kennenlernen oder auffrischen möchte, lese die programmatischen Sätze im Verlagsalmanach 1968 oder die frühen Rotbücher. Wie frisch und haltbar dagegen wirken die literarischen Texte aus jener Zeit!

Was die Organisierung anlangt, so fand ich diesen Wunsch abstrakt irgendwie richtig, das entsprach der Tendenz zum Wir. Aber als Gedichtschreiber und Literaturidealist, der sich nie irgendeiner Parteiung angeschlossen hat, nie organisieren lassen wollte (außer im Schriftstellerverband einige Jahre, bis zu dessen DDR-Annäherung), sah ich das mit Distanz. Wenn ich gefragt wurde, ob ich organisiert sei, sagte ich manchmal: Ja, in der Jean-Paul-Gesellschaft Bayreuth, was sogar stimmte.

Politische Fremdsprache auch deshalb, weil sie so gar nicht zu einem antiautoritären linken Querkopf wie Wagenbach passte und mit seinem politisch-essayistischen Stil nicht kompatibel war. Er akzeptierte sie als die Sprache seines «Polit-Lektors», ständig fluchend über die aufwendige Redigierarbeit, die daraus folgte. Dreßen war ein Phänomen: In jeder Debatte gewann er, charmant und wendig, nie hörte man ihn zugeben, mal nicht recht zu haben. Er wusste immer genau, wo es langgeht zum «revolutionären Bewusstsein», eloquent und stets vornweg, auf vielen Fotos von Demonstrationen ist er in der ersten oder zweiten Reihe zu sehen. Wagenbach ernannte ihn, mal mehr, mal weniger ironisch grundiert, zum «Chefideologen».

Vom Wir zum Kollektiv


Im Lauf des Jahres 1968 hatten die drei jüngsten Mitarbeiter des Verlags (Eberhard Delius, Franz Greno, Johannes Tranelis) ebenso wie Klaus Wagenbach überlegt, ob und wie man die Praxis im Verlag mit dem Streben nach sozialistischen Zielen, konkret mit dem Abbau von Hierarchie und Entfremdung, verbinden könne. Die Mitarbeiter hatten über ihre Rolle reflektiert wie der Verleger über die seine: «Inwieweit sich ein ‹persönlicher› Verlag fortführen lasse unter Umständen, die die Unmündigkeit von Personen voraussetzen. Eben diese Voraussetzung macht der Kapitalismus: daß die Beziehungen unter Menschen autoritär, nach Kapitalmacht und unter Manipulation ihrer Bedürfnisse stattfinden. Die Überzeugung von der ‹Persönlichkeit› des Einzelnen setzt aber umgekehrt die Mündigkeit voraus, sie muß von der Annahme ausgehen, daß der Einzelne sich sozial und rational verhält oder zu diesem Verhalten überzeugt werden kann.» (Verlagsalmanach 1969)

Die Hoffnung, dass Menschen sich verändern können, war nicht so naiv, wie sie heute scheinen mag. Dieser Idealismus hatte nichts zu tun mit einer pathetischen Sehnsucht nach dem «neuen Menschen», er setzte vielmehr bei den Erfahrungen an, die man im Arbeitsalltag gesammelt hatte, wo alles effizienter, freier, munterer wird, wenn die Entfremdung abnimmt. Eine Erfahrung übrigens, die damals jeder aufgeweckte Mensch machen konnte: In der Gruppe kommst du weiter als allein, in der Gruppe lernst du besser, sozialer und rationaler, phantasievoller, tatkräftiger zu werden. (Die negativen Effekte der Gruppendynamik rückten erst später ins Bewusstsein.)

Unter diesen Prämissen einer neuen politischen Rationalität hatte man sich in relativ kurzer Zeit, schon im Herbst 1968, und ohne nennenswerte Konflikte geeinigt, bestimmte Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Die Angestellten und der Verleger hatten das gleiche Interesse: «Man kann schlecht progressive Literatur und sozialistische Theorie verlegen und beides in der Praxis widerrufen.» (Wagenbach im Almanach 1969)

Ein Jahr lang übte man, was später und andernorts Teamarbeit und flache Hierarchien genannt wurde. Jeder hatte eine Stimme, die Mitarbeiter bestimmten wirklich mit, der Chef versuchte zu lernen, hin und wieder überstimmt zu werden. Im Geist der Zeit hieß das: Kollektiv.

Für heutige Ohren ein schauderhafter Begriff, erst recht abschreckend für Leute, die dabei an die DDR denken, wo die Kollektive nicht viel mehr als Arbeitsgruppen waren, die den Planvorgaben von oben zu folgen hatten. Der Begriff, obwohl zuerst als Provokation gedacht, kam rasch in Umlauf, überall in kleineren Betrieben und Initiativgruppen suchte man nach Arbeitsformen mit möglichst wenig Hierarchie. Das Wagenbach-Kollektiv wurde zum Vorbild für viele.

Voraussetzung für das Kollektiv war, dass man es versuchte: Demokraten wollten Ernst machen...

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