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Ich schwöre, dass ich so geboren wurde
Im März 1996 saß ich im Gefängnis – in der Strafvollzugsanstalt von Orange County in Orlando, um genau zu sein. Ein paar Monate zuvor war ich innerhalb nicht einmal eines Jahres zum zweiten Mal wegen Trunkenheit am Steuer erwischt worden. Nachdem ich verbotenerweise an einer roten Ampel ein Wendemanöver veranstaltet und die Kurve nicht richtig gekriegt hatte, musste ich rechts ranfahren. Ich versuchte, dem Beamten einzureden, dass ich nicht betrunken, sondern nur müde sei. Doch im Protokoll zu meiner Festnahme steht: »Der Beschuldigte lehnte einen Alkoholtest bei der Straßenkontrolle ab und erklärte, er wolle lieber ein Nickerchen machen.«
Nach der Verlesung der Anklage bekannte ich mich schuldig und bat den Richter, meine zehntägige Haftstrafe sofort antreten zu dürfen, denn eine weitere Hin- und Rückfahrt von mir zu Hause in Südflorida konnte ich mir nicht leisten.
»Nach Hause« ist allerdings eine ziemlich beschönigende Bezeichnung meiner damaligen Lebenssituation. Mama hatte mich rausgeschmissen, und das nicht ohne guten Grund: Ich war ein verantwortungsloser Chaot, der offenbar völlig unfähig war, irgendeine Art von Job zu behalten. Die meiste Zeit hing ich damals auf den Sofas von Freunden herum oder ich schlief, wenn alles richtig schiefging, in meinem Wagen, mit dem ich herumkurvte, obwohl ich meinen Führerschein gerade mal wieder hatte abgeben müssen und das Nummernschild abgelaufen war. Ich erzählte den Leuten gern, dass ich Stuntman sei, doch abgesehen von ein paar geschenkten T-Shirts einer ziemlich neuen, in Florida ansässigen Klamottenfirma namens Bizo hatte ich nichts Vernünftiges vorzuweisen, auch wenn ich mich sechs Jahre lang immer wieder dabei gefilmt hatte, wie ich mit dem Skateboard herumdüste, von Dächern in flache Pools sprang oder sonst was tat, wovon ich glaubte, es könnte die Aufmerksamkeit der Leute wecken. Zudem waren all meine Vorderzähne lädiert, weil ich auf einer Party vor mehr als einem Jahr besoffen von einem Balkon im zweiten Stock gesprungen war, um ein Mädchen zu beeindrucken, und dabei auf dem Gesicht gelandet war. Bisher hatte ich es noch nicht geschafft, sie wieder in Ordnung bringen zu lassen.
Jeder, der noch einigermaßen richtig tickt und sich mein damaliges Leben vor Augen führt, würde wohl zu dem Schluss kommen, dass es eine einzige beschissene Katastrophe war. Doch als ich – ein arbeitsloser, wohnungsloser College-Abbrecher mit ein paar übel aussehenden Vorderzähnen – da so auf der unteren Pritsche in meiner Gefängniszelle hockte, war ich total zuversichtlich. Ich war so überzeugt davon, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis die Welt entdecken würde, was für ein unglaublich durchgeknallter Typ ich war, dass ich die absolute Notwendigkeit spürte, schleunigst mit meinen Memoiren zu beginnen.
»Man nennt mich Steve-O«, schrieb ich. »Ich überlege aber, ob ich mich nicht doch wieder Steve Glover nennen sollte, denn mit meiner Karriere geht es gerade richtig los, und ich weiß nicht, ob ich einen Spitznamen haben will, wenn ich berühmt bin.«
Wenn ich berühmt bin. Das finde ich klasse. Als ich diese Zeilen zum Auftakt notierte, zweifelte ich keine Sekunde daran, dass ich berühmt werden würde; für mich stellte sich lediglich die Frage, wann. Mag sein, dass mein Leben zu jenem Zeitpunkt ein einziges Fiasko war, das sich eigentlich nur zum Schlimmeren entwickeln konnte, doch ein Stück von mir schaut neidisch auf diesen 21-jährigen Tagträumer. Auch wenn bei diesem Kerl bis dahin nur sehr wenig glattgelaufen war, wusste er, was er wollte, und war sich absolut sicher,
dass er es schaffen würde. Ich finde es immer noch erstaunlich, dass ich so enthusiastisch und optimistisch sein konnte, obwohl ich wirklich keinen Grund dazu hatte. Und noch Jahre später, als meine Träume schon im Wesentlichen Wirklichkeit geworden waren, konnte ich mich wie ein echter Idiot aufführen.
Sobald ich meine »Gefängnis-Memoiren« niedergeschrieben hatte, reichte ich jede Seite an einige Mitinsassen weiter, die sie – wohl aus lauter Langeweile, die an diesem öden Ort herrschte – auch tatsächlich lasen. Es genügte mir nicht, selbst ganz begeistert davon zu sein, wie toll mein künftiges Leben einmal sein würde – ich hatte das Bedürfnis, dass auch andere davon wussten. Alle raten einem, einfach den Kopf einzuziehen und bloß nicht aufzufallen, wenn man ins Gefängnis muss, aber ich konnte mich an diese Regel nicht halten. Ich brauchte ein Publikum.
So ähnlich war es eigentlich schon von Anfang an.
Ich wurde am 13. Juni 1974 in London, England, geboren. Zu jener Zeit war mein Papa Marketingdirektor für Pepsi Europe, und angeblich ist er in Anzug und Krawatte im Kreißsaal gestanden, während meine Mama mich aus sich herauspresste. Er machte ein paar grausige Fotos von der Entbindung und den unmittelbaren Nachwirkungen und soll dann, gleich nach meiner Geburt und nachdem die Ärzte versichert hatten, dass mit Mama und mir alles in Ordnung war, zu einer Geschäftsbesprechung geeilt sein. Ein paar Tage später, als es für uns an der Zeit war, das Krankenhaus zu verlassen, musste uns Mamas Freundin nach Hause fahren, denn Papa wurde in weiteren Besprechungen festgehalten. Das war in etwa das Muster, das meine Kinderjahre bestimmte: Papa düste als aufstrebender Firmenmanager umher, während Mama, meine drei Jahre ältere Schwester Cindy und ich zu Hause blieben.
Meine Eltern waren ein seltsames Paar. Papa stammt aus einer Familie von Strebern und Erfolgsmenschen. Sein Vater Richard, geboren und aufgewachsen in England, machte seinen Abschluss in Oxford und promovierte anschließend an der Harvard-Universität in Geschichte. Während des Zweiten Weltkriegs diente er in der kanadischen Armee und verbrachte anschließend viele Jahre als Universitätsprofessor in Winnipeg. Er starb, als ich elf Jahre alt war, und in meiner Erinnerung ist er vor allem ein Kotzbrocken, der meine Mätzchen zu missbilligen schien. War er da, zeigte er deutlich, dass alles, was ich tat, sagte oder trug, inakzeptabel war. Zu seiner Verteidigung muss ich zugeben, dass er vermutlich recht hatte, und all das, was mich damals an ihm ärgerte, würde heute wahrscheinlich Respekt in mir hervorrufen.
Papas Mutter, Constance, machte ihren Abschluss am Vassar-College und anschließend einen Magister in Englisch am Mount-Holyoke-College – und das zu einer Zeit, in der nur sehr wenige Frauen überhaupt auf ein College gingen. Ihre Familie, die im Papierhandel tätig war, war relativ wohlhabend, doch sie und mein Großvater lebten sehr genügsam.
Während meiner Kindheit lernte ich Oma Constance ziemlich gut kennen. Sie war eine entzückende Frau, deren freundliches Wesen – und nachlassendes Gedächtnis – ich mir voll und ganz zunutze machte. Ich glaube nicht, dass sie Alzheimer hatte, aber nach dem Tod meines Großvaters ließ ihre geistige Kraft deutlich nach, und so war es für mich ziemlich einfach, sie für meine Belange einzuspannen. Wenn ich sie in British Columbia besuchte, schleppte ich sie immer wieder mit, um mir irgendwelchen Kram zu kaufen. Unter anderem brachte ich sie dazu, mir eine Anlage mit Doppel-Kassettendeck und mein erstes anständiges Skateboard, ein Powell-Peralta, zu kaufen. Sie war der gutmütigste Mensch, der mir je begegnet ist, und im Nachhinein fühle ich mich ziemlich schlecht bei dem Gedanken, dass es mir, während sie an Demenz litt, vor allem um die Vorteile ging, die ich daraus schlagen konnte.
Papas Bruder und Schwester haben es ebenfalls weit gebracht. Seine Schwester arbeitete als Direktorin zweier führender Kunstgalerien in Kanada; sein Bruder machte Karriere als Marineoffizier und war später als Historiker tätig. Auch in Papas weiterem Familienkreis wimmelt es von Akademikern, und der Umstand, dass er in die Wirtschaft ging, machte ihn gewissermaßen zu einem schwarzen Schaf.
Ganz anders die Familie meiner Mutter. Mamas Vorfahren waren seit jeher Alkoholiker, Süchtige und Depressive. Ihre Eltern wurden beide in Kanada geboren und Mama wuchs in Ontario auf. Mamas Vater, Ed, habe ich nie kennengelernt, denn er schoss sich eine Kugel in den Kopf, als ich ein Jahr alt war. Doch das, was ich über ihn erfuhr, zeichnet nicht gerade ein gutes Bild von ihm. Er war ein hochgewachsener, charismatischer Bursche, der gerne mit einem dicken Bündel Banknoten herumlief und damit angab. Er hatte ziemlich viel Geld geerbt und ihm gehörten diverse Autohäuser, aber er verbrachte viel Zeit auf der Pferderennbahn, zockte und betrank sich. Wenn ich es recht verstanden habe, hat er all sein Geld verpulvert.
Ed war Alkoholiker und offensichtlich einer von der besonders unzuverlässigen und unangenehmen Sorte. Obwohl Mama in der Schule eine Überfliegerin war und sogar ein Stipendium für ein Studium erhalten sollte, lehnte mein Großvater es ab, ihr auch nur einen Cent für die Schule zu geben, und erklärte immer wieder, dass es Geldverschwendung sei, ein Mädchen aufs College zu schicken.
Eine andere Geschichte, die ich über ihn hörte, ist noch irritierender: Als meine Schwester Cindy ein Baby war, nahm Mama die Kleine einmal zu einem Besuch bei unseren Großeltern mit. Als sich mein Großvater dann im Suff mit Mama stritt, hat er anscheinend eine Waffe hervorgeholt und sie auf Cindy gerichtet. Möglich, dass diese Geschichte mit der Zeit immer übertriebener dargestellt wurde, sicher jedoch ist, dass die Polizei gerufen wurde und mein Großvater eine Nacht in der Zelle...