KAPITEL I
Was ist die Philosophie der Gesundheit?
Begriffsverwirrung
Heute existiert eine ziemlich eigenartige Skala zur Bewertung der Effektivität des Gesundheitswesens und der Medizin im Ganzen, der Wirksamkeit der zahlreichen Heilmethoden sowie der Kunst einzelner Mediziner.
Diese Skala ist auf den ersten Blick einfach. Sie erscheint einigermaßen logisch und auf die wahren Bedürfnisse der Gesellschaft ausgerichtet.
Wenn man vom Gesundheitssystem spricht, so sind die Hauptkriterien für seine Qualität die Anzahl der Polikliniken und Krankenhäuser, die Ausrüstung der Heilanstalten mit moderner medizinischer Apparatur, die Versorgung der Kranken mit Medikamenten und andere quantitative Kennziffern.
Die Effektivität der Medizin wird aus dem Verhältnis zwischen der Gesamtzahl der behandelten Patienten und der Anzahl der Geheilten errechnet. Je mehr Kranke geheilt werden, desto höher ist das Entwicklungsniveau der Medizin.
Nach dem gleichen Schema wird auch die Wirksamkeit der Methoden und Heilprozeduren sowie der Qualifikation von »Volksheilern« bewertet.
Diese Situation findet man nicht nur in unserem Land. Vor wenigen Jahren kehrte ich von einer Reise nach Kanada zurück, wohin mich eine Einladung zu einem Vortragszyklus über mein System der Natürlichen Gesundung geführt hatte. Meine Eindrücke waren sehr widersprüchlich. Einerseits traf ich dort auf ein hohes Niveau, was den persönlichen Umgang der Menschen untereinander betraf, auf Sauberkeit und perfekten Service – den medizinischen Bereich eingeschlossen. Andererseits bemerkte ich eine große Zahl von Kranken, welche mir als Ärztin auf den ersten Blick auffallen. Es gab sehr viele übergewichtige Menschen und es existierten traditionelle Vorstellungen über die »Untrennbarkeit« von Alter und chronischen Erkrankungen. Ein kleines Beispiel: Am Flughafen fragte mich ein Mitarbeiter bei der Passkontrolle nach meinem Alter. Nichtsahnend nannte ich mein Geburtsjahr 1916. Daraufhin entstand eine kleine Aufregung, deren Ursache ich erst begriff, als man mir einen Rollstuhl brachte und mit äußerster Besorgnis versuchte, mich in diesen zu verfrachten. Damit Ihnen die Komik der Situation vollständig bewusst wird, füge ich hinzu, dass ich mich nach dem Flug hervorragend fühlte und das Erste, was ich nach meiner Ankunft im Hotel unternahm, ein Bad im Stillen Ozean war, wobei die Wassertemperatur Ende Oktober bei 4 oder 5°C lag.
Ich erzähle das nicht, um mich zu rühmen, sondern vielmehr um Ihr Denken nochmals auf das Problem der geistigen, seelischen und körperlichen Gesundheit des Menschen zu lenken. Es ist ein Paradox unserer Zeit: Je schneller wir uns auf dem Weg des wissenschaftlich-technischen Fortschritts bewegen, umso schneller entfernen wir uns von der kardinalen Lösung des Problems. Die unaufhörlich wachsenden Gesundheitsausgaben aller Länder sind der beste Beweis dafür.
Aber am erstaunlichsten ist, dass wir – ein weiteres Paradox unseres Zeitalters – bis heute nicht wissen, wem und wofür wir diese immer drückenderen Opfergaben darbringen. Was für ein Sinn kann sich hinter diesen dem gesunden Menschenverstand Hohn sprechenden Opfergaben verbergen, wenn die Menschen weiterhin krank sind, wobei die Zahl der Neuerkrankungen nicht sinkt, sondern immer mehr anwächst, und zwar in größerem Maße als das Gesundheitsbudget?
In wessen Namen und gegen wen kämpfen wir? Vielleicht wird mich jemand als naiv bezeichnen und behaupten: Wir kämpfen für die Volksgesundheit und gegen die Krankheiten. Aber Kampf und Kampf sind zwei Paar Schuhe. In der Geschichte der Menschheit gab es hundertjährige Kriege, aber irgendwann endeten selbst diese mit einem Sieg. Wir dagegen »kämpfen« seit Jahrtausenden mit unseren Krankheiten – und wohin hat es uns gebracht?
Zweifellos hat die Menschheit im Kampf gegen die Infektionskrankheiten zahlreiche eindrucksvolle Siege errungen. Die Pest, die Cholera, die Pocken, welche einst die Bevölkerung ganzer Städte und Regionen ausradierten, sind unterworfen; wir haben ein Höchstniveau in der Chirurgie und in der Diagnose von Krankheiten erreicht.
Aber die Anzahl und die Schwere der chronischen Erkrankungen wächst weiter, viele von ihnen, die einst ein Problem des hohen Alters waren, erfassen heute Kinder, ja sogar Säuglinge.
Werden wir auch über sie eines Tages triumphieren? Und wenn ja, wann wird das sein?
Bevor wir über unsere Chancen auf einen Sieg in diesem Jahrtausende alten Kampf urteilen, folgen wir zunächst dem Beispiel großer Heerführer und vergleichen unsere Kräfte mit denen des Gegners. Hier treffen wir auf die nächste Verwirrung: Wir wissen bis heute nicht, was die Gesundheit ist, welche unsere stärkste »Angriffswaffe« darstellt, und wie sich andererseits eine Krankheit definiert – die Kraft, die uns diese Waffe aus der Hand schlägt. Die am weitesten verbreitete Antwort »Gesundheit bedeutet Freiheit von Krankheit« bringt uns nicht weiter, genauso wenig wie ihre Kontrastformulierung »Krankheit ist Beeinträchtigung bzw. Fehlen von Gesundheit«.
Um die ganze Sinnlosigkeit derartiger Aussagen zu verstehen, die nicht nur in Alltagsgesprächen anzutreffen sind, sondern auch in offiziellen Dokumenten angesehener Organisationen, versuchen Sie einmal, Ihrem Kind auf diese Weise zu erklären, was Wärme und Kälte ist. Sie finden sicher einen anderen Weg, um Ihrem Kind die beiden Begriffe nahezubringen – notfalls ziehen Sie ein Wörterbuch zu Rate. Wenn Sie aber eine genaue Definition der Begriffe »Gesundheit« und Krankheit« suchen, so vergeuden Sie Ihre Zeit vergeblich.
Gehören Sie zu denen, die meinen, so viel Präzision wäre gar nicht erforderlich, wo wir doch auch ohne Wörterbuch wissen, ob wir gesund oder krank sind?
Als Ärztin kann ich mich nicht einmal dieser scheinbar unzweifelhaften Meinung anschließen. Es entsteht nämlich keine Erkrankung, und erst recht nicht eine chronische, von heute auf morgen und kommt sofort zum Ausbruch. Einer chronischen Erkrankung gehen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, voraus, im Laufe derer die Gesundheit eine Position nach der anderen aufgibt, bis der Mensch entdeckt, dass er eines Tages, obwohl er sich gestern noch recht stark gefühlt hat, »plötzlich« als Kranker erwacht.
Um dieses »plötzlich« abwenden zu können, müssen wir uns exakt vor Augen führen, was Gesundheit vom Standpunkt der Physiologie des menschlichen Organismus bedeutet und welche Bedingungen für die Erhaltung der vollständigen geistigen, seelischen und körperlichen Gesundheit erforderlich sind. Die Erforschung dieses Problems ist der Hauptgegenstand der Philosophie der Gesundheit.
Ich gebe zu, dass die Philosophie der Gesundheit eine alte Bekannte für all jene ist, die meine Arbeit verfolgen, weil ihre Hauptaussagen die Grundlage meines Systems der Natürlichen Gesundung formen, welches Tausenden von hoffnungslos Kranken ihre Gesundheit wiedergeschenkt hat. Somit ist diese Philosophie kein vom Leben abgehobenes Gedankenspiel der Autorin, sondern das Leben selbst, und ich gebe zu, es ist kein wolkenloses Leben.
Der Weg der Erkenntnis ist seit jeher dornig und fordert vom Gelehrten nicht nur einen klaren Verstand, Willen und Geduld, sondern auch persönlichen Mut und die Bereitschaft zu den verschiedensten Erfahrungen.
Es gab zu allen Zeiten Machthaber, die als Gegner jeglicher Neuerungen versuchten, den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zu »verbieten«, welcher die brüchig werdenden Pfeiler ihrer Macht unterspülte, indem er die Menschen zum Denken brachte. Nichtsdestoweniger widersprechen jegliche Versuche, der Suche des Menschen nach neuen Kenntnissen und nach tieferem Verständnis der Gesetze der Natur einen Riegel vorzuschieben, der Natur des menschlichen Geistes selbst und sind deshalb schließlich zum Scheitern verurteilt.
Eine Grundsatzfrage
»Aber lohnt es überhaupt die Mühe?«, mögen Sie fragen. »Vielleicht sollten wir, statt die Klugen zu spielen und überflüssigerweise unser Leben zu verkomplizieren, den Blick statt in die unergründliche Zukunft besser in die Vergangenheit richten, wo die Erfahrung unserer näheren und ferneren Vorfahren für uns bereit liegt. Vielleicht sollten wir auf ihre Gebote hören, ihre Volkstraditionen fortsetzen und die alten Bräuche, die Einfachheit und Sittenstrenge wiederbeleben?«
Das ist keine rhetorische Frage. Heute sind viele Menschen aufrichtig der Meinung, dass der Weg zur Gesundheit gerade dort, in der Vergangenheit, zu suchen ist, wo die Menschen einfacher lebten und seltener krank waren. Aber wenn man diese Menschen fragt, ob sie bereit wären, auf alle Segnungen der modernen Zivilisation zu verzichten, wird die Mehrheit von ihnen antworten: Nein, wie wollen leben wie heute und gesund sein wie gestern.
Dieser Wunsch ist ganz natürlich, aber ist er erfüllbar? Die Antwort darauf kann nur negativ ausfallen aus einem einfachen Grund: Die in unserem Bewusstsein gespeicherten Vorstellungen von den Bedingungen eines gesunden Lebens, wie sie der zivilisierten Lebensweise zu Grunde liegen, sind von den realen Bedürfnissen des Menschen weit entfernt.
Und gerade durch die Existenzbedingungen, welche wir unserem Organismus schaffen, wird die Gesundheit – nicht nur des Körpers, sondern auch der Seele – bestimmt. Wenn sie dem entsprechen, was die Natur uns vorgibt, dann bleibt auch der menschliche Organismus in seinem natürlichen, ihm von Geburt an geschenkten Zustand, den wir gewohnheitsmäßig »Gesundheit« nennen. Wenn alle Organe und Systeme unseres Körpers normal funktionieren, wenn unser Gehirn...